Blinde Liebe

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Sie antwortete ihm mit der Einfachheit eines gelehrigen Kindes:

»Ich will alles thun, was Sie mir raten!«

Mountjoy liebte sie zu sehr, um an diesem Tage noch mehr über Lord Harry zu sagen. Er war bemüht, das Gespräch auf ein Thema zu bringen, von dem er mit Sicherheit annehmen konnte, daß es keine aufregenden Gedanken wachrufen würde. Da er Iris allem Anschein nach vollständig eingewöhnt in dem Hause des Doktors vorfand, so war er natürlicherweise sehr begierig, etwas über die Person zu erfahren, welche sie dorthin eingeladen haben mußte – die Frau des Doktors.

Vierzehntes Kapitel.

Mountjoy begann von dem zweiten Brief, den Miß Henley an ihren Vater geschrieben hatte, zu sprechen, und kam dabei auch auf die Stelle, in welcher der Mrs. Vimpany in den Ausdrücken der aufrichtigsten Dankbarkeit gedacht wurde.

»Ich würde gern,« sagte er, »mehr von einer Dame erfahren, deren Gastfreundschaft zu Hause ihrer Liebenswürdigkeit als Reisegefährtin gleichzukommen scheint. Trafen Sie zuerst auf der Eisenbahn mit ihr zusammen?«

»Sie fuhr mit demselben Zug nach Dublin, den ich und mein Kammermädchen benützten, aber nicht in dem gleichen Wagen,« antwortete Iris. »Ich hatte dann später auf der Reise von Dublin nach Holyhead das Glück, mit ihr bekannt zu werden. Die Ueberfahrt war sehr stürmisch, und Rhoda litt so entsetzlich unter der Seekrankheit, daß ich ordentlich Angst um sie bekam. Die Aufwärterin war ganz und gar von Damen in Anspruch genommen, die von allen Seiten nach ihr riefen, und ich weiß wirklich nicht, was aus uns geworden wäre, wenn nicht Mrs. Vimpany gekommen wäre und in der liebenswürdigsten Weise ihre Hilfe angeboten hätte. Sie wußte so vortrefflich Bescheid, was zu thun war, daß sie mich ganz in Verwunderung versetzte.

»›Ich bin die Frau eines Arztes,‹ sagte sie, ›und ich mache das nur nach, was ich meinen Mann habe thun sehen, wenn seine Hilfe auf der See bei so schlimmem Wetter wie heute in Anspruch genommen wurde.‹

»Bei ihrem überhaupt sehr schwachen Gesundheitszustand war Rhoda viel zu arg angegriffen, als daß sie hätte mit der Eisenbahn weiterfahren können, als wir in Holyhead ankamen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, und ich habe sie, wie Sie wissen, sehr gern. Wenn ich auf mich allein angewiesen gewesen wäre, dann hätte ich jedenfalls zu einem Arzt geschickt. Was glauben Sie aber, was mir die gute Mrs. Vimpany anriet, zu thun? ›Ihr Kammermädchen ist nur schwach,‹ sagte sie. ›Gönnen Sie ihr Ruhe und geben Sie ihr Wein zu trinken, dann wird sie sich bald wieder erholen und im stande sein, mit dem nächsten gewöhnlichen Zug weiter zu fahren. Sie brauchen keine Angst um sie zu haben; ich werde bei Ihnen bleiben.‹ Und sie blieb auch wirklich. Gibt es denn noch viele solche Menschen, Hugh, die so uneigennützig anderen, ihnen ganz Fremden so viel Gutes erweisen, wie meine zufällige Reisebekanntschaft vom Dampfboot?«

»Ich fürchte, deren sind nur verschwindend wenige.«

Mountjoy gab diese Antwort nicht ohne eine kleine Verlegenheit, denn er fühlte, daß in ihm ein gelinder Zweifel an der uneigennützigen Liebenswürdigkeit der Mrs. Vimpany aufstieg, und das war eines echten Mannes unwürdig.

Iris fuhr in ihrer Erzählung fort:

»Rhoda hatte sich hinreichend erholt, um mit dem nächsten Zuge weiterreisen zu können, und es schien kein Grund vorhanden, noch irgendwie ängstlich zu sein. Aber nach einiger Zeit zeigte sich doch, daß die Anstrengung der Reise für sie zu groß gewesen war. Das arme Mädchen wurde immer blasser und bekam schließlich eine Ohnmacht. Mrs. Vimpany brachte sie wieder zum Leben zurück, aber, wie sich bald herausstellte, nur für kurze Zeit. Sie bekam einen neuen Ohnmachtsanfall, und meine Reisegefährtin fing jetzt auch an, ängstlich zu werden. Es kostete einige Schwierigkeit, Rhoda wieder zum Bewußtsein zu bringen. Aus Furcht vor einem neuen Anfall beschloß ich, an der nächsten Station den Zug zu verlassen und dort zu bleiben. Der Ort sah aber so ärmlich aus, als wir ihn erreichten, daß ich Bedenken trug, mein Vorhaben auszuführen. Mrs. Vimpany überredete mich, mit ihr weiter zu fahren. Die nächste Station, sagte sie, wäre ihr Ziel. ›Bleiben Sie dort,‹ bemerkte sie, ›und lassen Sie meinen Gatten nach dem Mädchen sehen. Ich sollte vielleicht nicht davon sprechen, aber Sie werden schwerlich außerhalb Londons einen besseren Arzt finden.‹ Ich nahm den Vorschlag der liebenswürdigen Dame dankbar an. Was hätte ich auch sonst anderes machen sollen?«

»Was würden Sie denn gethan haben,« fragte Mountjoy, »wenn Rhoda kräftig genug gewesen wäre, um die Reise noch weiter fortsetzen zu können?«

»Ich würde dann nach London gegangen sein und einstweilen meine Wohnung in einem Hotel genommen haben – Sie waren ja in London, wie ich annehmen konnte, und mein Vater würde sich wohl mit der Zeit haben erweichen lassen. Wenn es so gewesen wäre, dann würde ich erst einen deutlichen Begriff von meiner verlassenen Lage bekommen haben. Daß ich aber das Glück hatte, mit so liebenswürdigen Leuten wie Doktor Vimpany und seiner Gattin zusammenzutreffen, war es für ein so verlassenes, freundloses Wesen, wie ich bin, eine wahre Wohlthat – gar nicht zu reden von dem großen Vorteil, den diese Liebenswürdigkeit Rhoda bot, welche von Tag zu Tag sich zusehends erholte. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Mrs. Vimpany sehen könnten; vielleicht ist sie zu Hause. Sie ist ein wenig förmlich und altmodisch in ihren Manieren – aber ich glaube bestimmt, daß sie Ihnen gefallen würde. O, sehen Sie sich nur einmal hier im Zimmer um! Sie sind arm, fürchterlich arm für Leute in ihrer Stellung, meine würdigen, braven Freunde. Ich habe die größte Schwierigkeit gehabt, bis sie mir nur gestatteten, meinen Teil zu den Haushaltungskosten beizusteuern. Sie willigten erst dann ein, als ich drohte, ich würde in den Gasthof gehen. Sie sehen aber so ernst aus, Hugh. Ist es denn möglich, daß Sie irgend etwas Unrechtes darin finden, daß ich mich hier in diesem Hause aufhalte?«

Die Thüre des Empfangszimmers wurde leise geöffnet, gerade in dem Moment, als Iris diese Frage stellte. Eine Dame erschien auf der Schwelle. Als sie den Fremden erblickte, wendete sie sich an Iris.

»Ich wußte nicht, meine liebe Miß Henley, daß Sie Besuch hatten. Entschuldigen Sie daher mein Eintreten.«

Die Stimme war tief; die Aussprache war deutlich; ihr Lächeln zeigte eine bescheidene Würde, welche ihr ein gewisses Selbstbewußtsein verlieh. Iris hielt sie zurück, als sie eben im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.

»Ich habe soeben den Wunsch ausgesprochen, daß Sie zu Hause sein möchten,« sagte Miß Henley. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen alten Freund, Mr. Mountjoy, vorstelle. Hugh, das ist die Dame, welche so außerordentlich liebenswürdig gegen mich gewesen ist – Mrs. Vimpany.«

Hugh beabsichtigte, unter diesen Umständen eine Verbeugung zu machen und der Dame des Hauses die Hand zu geben. Mrs. Vimpany begegnete diesem freundlichen Entgegenkommen mit einer außerordentlichen Zierlichkeit in ihren Bewegungen, wie sie nicht oft in unseren Tagen, die so wenig auf Zeremonien geben, gesehen wird. Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren, aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen, heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen Zustand zu erkennen. Ein dünner Spitzenkragen umschloß ihren Hals und fiel in dürftigen Falten über ihre Schultern herab.

Sie ließ sich in einen Stuhl an Iris' Seite nieder.

»Es gereichte mir zum großen Vergnügen, Mr. Mountjoy, meine geringfügigen Dienste Miß Henley anbieten zu können,« sagte sie; »ich vermag gar nicht auszudrücken, wie glücklich mich ihre Gegenwart in unserem kleinen Hause macht.«

Das Kompliment war an Iris gerichtet in einem äußerst liebenswürdigen Ton und mit einem Lächeln in dem Gesicht, so freundlich sie es hervorzubringen vermochte. So wunderlich und gekünstelt, wie es unzweifelhaft war, machte das Benehmen der Mrs. Vimpany nichtsdestoweniger einen angenehmen Eindruck. Mountjoy war zuerst geneigt gewesen, ihr mit Mißtrauen zu begegnen, fand aber während des Gespräches, daß sie es verstanden hatte, eine günstige Aenderung seiner Meinung betreffs ihrer Person herbeizuführen. Sie interessirte ihn jetzt so, daß er begann, neugierig zu werden, wie ihr Leben wohl gewesen sei, als sie noch jung und hübsch war. Er betrachtete wieder die Bilder der Schauspielerinnen an den Wänden und die Bücher auf dem Bücherbrett, und dann warf er, während sie mit Iris sprach, verstohlen einen listigen Blick auf die Dame des Hauses. War es denn möglich, daß diese merkwürdige Frau einstmals eine Schauspielerin gewesen war? Er versuchte, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, indem er eine liebenswürdige Bemerkung über die Bilder machte.

»Meine Erinnerungen als Theaterbesucher reichen nicht weit zurück,« begann er, »aber Ihre schönen Bilder erregen in mir ein historisches Interesse.«

Mrs. Vimpany machte eine graziöse Verbeugung, sagte aber nichts. Hugh Mountjoy versuchte daher zum zweitenmale sein Glück.

»Man sieht nicht oft die berühmten Schauspielerinnen vergangener Tage,« fuhr er fort, »in so guten Darstellungen und Bildern an den Wänden eines englischen Hauses.«

 

Diesmal hatte er mit seinen Worten einen besseren Erfolg, denn Mrs. Vimpany antwortete ihm: »Ich stehe in vielerlei angenehmen Verbindungen mit dem Theater, die schon aus meinen Mädchenjahren herrühren.«

Mountjoy erwartete, nun noch mehr zu hören, aber es wurde nichts weiter gesagt. Vielleicht blickte die verschwiegene Dame nicht gern auf jene Zeit zurück nach einer so langen Reihe von dazwischenliegenden Jahren, oder sie hatte vielleicht auch ihre Gründe, Mr. Mountjoys Verlangen nach der Wahrheit nicht zu befriedigen. Auf jeden Fall ließ sie mit Absicht dieses Gesprächsthema fallen; Iris nahm es jedoch wieder auf. Sie saß an dem einzigen Tisch in dem Zimmer und befand sich so gerade gegenüber einem der Bilder – dem ausgezeichneten Porträt der Mrs. Siddons als tragische Muse.

»Ich möchte wohl wissen, ob Mrs. Siddons wirklich so schön gewesen ist wie auf diesem Bild,« sagte sie, indem sie auf das Gemälde zeigte. »Sir Josua Reynolds soll, wie man sich erzählt, seinen Originalen sehr geschmeichelt haben.«

Mrs. Vimpanys große, selbstbewußte Augen erstrahlten plötzlich in höherem Glanz; der Name dieser großen Schauspielerin schien ihr Interesse zu wecken, aber im Begriff, wie es schien, zu sprechen, ließ sie den Gegenstand ebenso fallen wie vorher bei dem allgemeineren Gespräch über das Theater. Mountjoy konnte nicht umhin, selbst Iris zu antworten.

»Keines von uns ist alt genug,« erinnerte er sie, »um zu entscheiden, ob Sir Josua Reynolds' Pinsel sich der Schmeichelei schuldig gemacht hat oder nicht.«

Darauf wendete er sich wieder an Mrs. Vimpany und versuchte es nun auf einem andern Weg, einen Einblick in ihr früheres Leben zu gewinnen.

»Als Miß Henley so glücklich war, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er, »waren Sie auf einer Reise in Irland begriffen. War dies Ihr erster Besuch in diesem unglücklichen Lande?«

»Ich bin mehr als einmal in Irland gewesen.«

Nachdem sie so wiederum mit voller Ueberlegung die Erwartungen Hugh Mountjoys getäuscht hatte, wurde sie jetzt durch eine rechtzeitige Unterbrechung von der Weiterfortsetzung des Gespräches befreit. Es war die Stunde, wo die Nachmittagspost abgeliefert zu werden pflegte. Das Dienstmädchen trat in das Zimmer mit einem kleinen versiegelten Paket und hatte außerdem noch ein bedrucktes Papier in der Hand.

»Es ist eingeschrieben, Frau Doktor,« sagte das Mädchen. »Der Postbote bittet Sie, den Zettel zu unterschreiben. Er scheint Eile zu haben.«

Sie legte das Paket und das Blatt Papier auf den Tisch in die Nähe des Tintenfasses. Nachdem Mrs. Vimpany den Schein unterzeichnet hatte, nahm sie das Paket in die Hand und sah nach der Adresse. Sofort blickte sie zu Iris hin und wendete dann ebenso schnell ihre Augen wieder weg.

»Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« sagte sie und verließ rasch das Zimmer, ohne das Paket zu öffnen.

In dem Moment, als sich die Thür hinter ihr schloß, sprang Iris auf und eilte zu Mountjoy hin.

»O Hugh,« sagte sie, »ich sah die Adresse auf dem Paket, als das Dienstmädchen es auf den Tisch legte.«

»Was kann Sie denn an dieser Adresse so erregen, liebe Iris?«

»Bitte, sprechen Sie nicht so laut! Sie horcht vielleicht vor der Thür.«

Nicht nur die Worte, sondern auch der Ton, in welchem sie gesprochen waren, überraschten Mountjoy. »Meinen Sie Ihre Freundin, Mrs. Vimpany?« rief er aus.

»Mrs. Vimpany scheute sich, das Paket in unserer Gegenwart zu eröffnen,« fuhr Iris fort. »Sie müssen es ja selbst bemerkt haben. Die Handschrift war mir bekannt; ich weiß genau, wer die Adresse geschrieben hat.«

»Nun, wer denn?«

Sie flüsterte ihm leise ins Ohr:

»Lord Harry!«

Fünfzehntes Kapitel.

Verwunderung ließ Hugh einen Augenblick verstummen. Iris verstand den Blick, welchen er auf sie warf, und erwiderte ihn.

»Ich bin vollständig von dem überzeugt,« sagte sie zu ihm, »was ich soeben ausgesprochen habe.«

Mountjoys bedächtiger, nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringender Sinn trug Bedenken, ein allzu schnelles Urteil zu fällen.

»Ich bin sicher, daß Sie von dem, was Sie mir gesagt haben, vollständig überzeugt sind,« entgegnete er. »Aber Irrtümer kommen doch bisweilen bei der Beurteilung von Handschriften vor.«

Infolge des lebhaft erregten Zustandes, in dem sich Iris jetzt befand, war sie sehr leicht beleidigt. Er hatte ja selbst, wie sie ihm ins Gedächtnis zurückrief, in früherer Zeit die Handschrift Lord Harrys gesehen. War denn überhaupt bei diesem dick geschriebenen Buchstaben ein Irrtum möglich?

»O Hugh!« rief sie aus; »ich bin elend genug, versuchen Sie es nicht, mir noch abstreiten zu wollen, was ich genau weiß! Nur denken zu müssen, daß eine so liebenswürdige, so freundliche, so uneigennützig erscheinende Frau – nur denken zu müssen, daß Mrs. Vimpany mich getäuscht hat!«

Es lag nicht der geringste Grund vor, dem, was sich ereignet hatte, diese Auslegung zu geben. Mountjoy machte daher auch besänftigende Einwendungen.

»Meine liebe Iris, wir wissen wirklich noch nicht, ob Mrs. Vimpany in der That nach Vorschriften von Lord Harry gehandelt hat. Warten Sie daher noch eine kurze Zeit, bevor Sie Ihre Reisegefährtin beschuldigen, daß sie Ihnen nur in der Absicht ihre Dienste angeboten habe, um Sie zu täuschen.«

Iris war von neuem ärgerlich über ihren Freund.

»Warum aber hat mir Mrs. Vimpany nie gesagt, daß sie Lord Harry kennt? Ist das nicht verdächtig?«

Mountjoy lächelte.

»Erlauben Sie, daß ich auch meinerseits eine Frage stelle,« sagte er. »Haben Sie denn Mrs. Vimpany erzählt, daß Sie Lord Harry kennen?« Iris gab keine Antwort, aber ihr Gesicht sprach statt dessen. »Nun also,« fuhr er fort, »ist vielleicht ihr Schweigen verdächtig? Merken Sie wohl, ich bin weit davon entfernt, zu sagen, daß dieses, wenn es der Fall wäre, nicht eine sehr unangenehme Entdeckung sein würde. Aber lassen Sie uns nur erst vollkommen sicher sein, daß wir recht haben.«

Neben den meisten weiblichen Vorzügen besaß Miß Henley auch viele Fehler der Frauen. Sie hielt an ihrer eigenen Meinung fest und fragte nur Hugh, wie sie denn hoffen könnten, zu einer Gewißheit darüber zu kommen, da sie doch ihre Fragen an eine Person richten müßten, welche sie schon getäuscht hätte.

Mountjoys unerschöpfliche Geduld suchte Mrs. Vimpany immer noch zu verteidigen.

»Wenn sie zurückkommt,« sagte er, »so werde ich schon eine passende Gelegenheit zu finden wissen und Lord Harrys Namen erwähnen. Wenn sie dann sagt, daß sie ihn kennt, so können wir mit gutem Gewissen ihr auch weiterhin trauen.«

»Angenommen nun, sie heuchelt Unkenntnis,« fuhr Iris hartnäckig fort, »und gibt sich den Anschein, als ob sie niemals zuvor seinen Namen gehört hätte.«

»In diesem Falle werde ich gern zugeben, daß ich im Unrecht war, und werde Sie bitten, mir zu verzeihen.«

Da fühlte sich Iris denn doch beschämt.

»Ich bin es,« erwiderte sie, »die um Verzeihung bitten muß. O, wie oft ist es schon mein Wunsch gewesen, daß ich mir alles genau vorher überlegen könnte, bevor ich es ausspreche; wie anmaßend und ungezogen bin ich jetzt wieder gewesen, aber angenommen, Hugh, es stellte sich heraus, daß ich doch recht hätte, was werden Sie dann thun?«

»Dann, meine liebe Iris, würde es meine Pflicht sein, Sie und Ihr Kammermädchen so schnell wie möglich aus diesem Hause wegzubringen und Ihrem Vater zu sagen, welch gewichtige Gründe dafür vorhanden sind.«

Er hielt in seiner Rede plötzlich inne. Mrs. Vimpany betrat soeben das Zimmer; sie war wieder in dem vollständigen Besitz ihrer vornehmen Höflichkeit, welche durch ein verbindliches Lächeln gemildert wurde.

»Ich habe Sie, Miß Henley, in solch guter Gesellschaft gelassen,« sagte sie mit einem graziösen Neigen ihres Kopfes gegen Mountjoy, »daß ich wohl kaum nötig habe, meine Entschuldigung zu wiederholen. Es müßte denn sein, daß ich eine vertrauliche Unterredung durch mein Kommen gestört hätte.«

Die günstige Gelegenheit, den vorgenommenen Versuch mit Lord Harrys Namen zu machen, schien sich jetzt schon von selbst dargeboten zu haben. Mountjoy ergriff sie rasch.

»Sie haben durchaus nichts gestört, was irgendwie vertraulich gewesen wäre,« beeilte er sich, Mrs. Vimpany zu versichern. »Wir haben nur von einem leichtsinnigen jungen Edelmann gesprochen, den wir beide sehr gut kennen. Wenn das, was ich von ihm höre, wahr ist, so ist er schon eine öffentliche, allgemein bekannte Persönlichkeit geworden; seine Abenteuer und tollen Streiche haben bereits ihren Weg in verschiedene Zeitungen gefunden.«

Hier hätte nun Mrs. Vimpany, wenn sie den Erwartungen Hughs entsprochen haben würde, fragen sollen, wer denn der junge Edelmann wäre; sie hörte aber nur mit höflichem Stillschweigen zu.

Mit der schnellen Auffassungsgabe der Frau hatte Iris sofort erkannt, daß Mountjoy die Gelegenheit, zu fragen, nicht allein zu früh ergriffen, sondern daß er mich mit einer allzu handgreiflichen Deutlichkeit gesprochen hatte, welche eine so kluge und schlaue Person wie Mrs. Vimpany war, vorsichtig machen mußte. In dem Bestreben jedoch, ihn von der Verfolgung seines unglücklichen Versuches abzuhalten, verfiel Iris in denselben Fehler wie Hugh Mountjoy. Sie ergriff ebenfalls zu früh die ihr passend erscheinende Gelegenheit, das heißt, sie war allzu voreilig, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.

»Sie sprachen soeben, Hugh, von den Abenteuern unseres Freundes,« sagte sie; »ich fürchte, Sie werden sich selbst in ein Abenteuer von nicht sehr angenehmer Art verwickelt haben, wenn Sie in dem Gasthofe ein Nachtquartier zu finden hoffen. Ich habe noch niemals zuvor ein so erbärmliches Wirtshaus wie das hiesige gesehen.«

»Nicht doch, meine liebe Miß Henley,« beeilte sich Mrs. Vimpany einzuwenden, »das Gasthaus ist viel reinlicher und wohnlicher, als Sie annehmen. Ein hartes Bett und eine dürftige Ausstattung sind die schlimmsten Unannehmlichkeiten, welche Ihr Freund zu fürchten hat. – Wissen Sie,« fuhr sie dann, zu Mountjoy gewendet, fort, »daß ich lebhaft an einen meiner Bekannten erinnert wurde, als Sie vorhin von dem jungen Edelmann sprachen, von dessen Abenteuern schon in den Zeitungen berichtet wurde? Sollte es denn möglich sein, daß Sie damit den Bruder des gegenwärtigen Earl of Norland gemeint haben? Ein hübscher junger Irländer, mit dem ich seit vielen Jahren bekannt bin! Habe ich recht in meiner Annahme, daß Sie und Miß Henley Lord Harry kennen?« fragte sie.

Was konnte ein unbefangenes Gemüt mehr verlangen? Nachdem Mountjoy bestätigt hatte, daß Lord Harry der junge Edelmann sei, von dem er und Miß Henley gesprochen hatten, stand er auf, um sich zu verabschieden.

Iris fühlte das dringende Bedürfnis, noch einige Worte mit Hugh allein zu sprechen. Der Vorwand dafür bot sich von selbst dar durch die entfernte Lage des Gasthauses.

»Sie werden niemals allein den Rückweg finden,« sagte sie, »durch das Labyrinth von krummen und winkeligen Gassen in dieser alten Stadt. Warten Sie einen Augenblick auf mich, ich werde Sie führen.«

Mrs. Vimpany machte dagegen Einwendungen und sagte:

»Meine Liebe, das Dienstmädchen kann ja Ihrem Freund den Weg zeigen.«

Iris hielt jedoch lachend an ihrem Entschlusse fest und eilte hinweg in ihr Zimmer. Mrs. Vimpany fügte sich in der liebenswürdigsten Weise diesem Beschluß. Die Beweggründe Miß Henleys konnten für sie kaum klarer sein, wenn Iris sie offen bekannt hätte.

»Welch ein reizendes Mädchen!« sagte sie zu Mountjoy, als sie allein war. »Wenn ich ein Mann wäre, so würde Miß Iris gerade die junge Dame sein, in die ich mich verlieben könnte.« Sie blickte bedeutungsvoll zu Mountjoy hin, da er aber nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort: »Miß Henley muß schon viele Gelegenheiten gehabt haben, sich zu verheiraten, aber ich fürchte, der Rechte ist noch nicht erschienen.« Noch einmal blickte sie mit ihren sprechenden Augen herausfordernd auf Mountjoy, aber wiederum schwieg er still. Manche Frauen lassen sich leicht entmutigen; aber die unergründliche Mrs. Vimpany war eine von den anderen Frauen; sie war noch nicht fertig mit Mountjoy und lud ihn daher für den nächsten Tag zu Tische ein.

»Wir speisen schon sehr früh, um drei Uhr,« sagte sie bescheiden. »Bitte, geben Sie uns die Ehre. Ich hoffe dann bestimmt, das Vergnügen zu haben, Ihnen meinen Gatten vorstellen zu können.«

 

Mountjoy hatte gute Gründe, die Bekanntschaft mit Mr. Vimpany zu wünschen. Als er die Einladung annahm, kehrte Miß Henley zurück, um ihn nach dem Gasthof zu begleiten.

Iris richtete an Hugh, sobald sie das Haus des Doktors verlassen hatten, die unvermeidliche Frage:

»Nun, was sagen Sie jetzt zu Mrs. Vimpany?«

»Meiner Ansicht nach muß sie eine Schauspielerin gewesen sein,« antwortete Mountjoy, »und benützt jetzt ihre auf der Bühne gemachten Erfahrungen im gewöhnlichen Leben.«

»Was beabsichtigen Sie nun zunächst zu thun?«

»Ich beabsichtige zu warten und mir morgen den Gatten von Mrs. Vimpany anzusehen.«

»Warum?«

»Mrs. Vimpany, liebe Iris, ist mir zu gescheit. Wenn sie – ganz abgesehen davon, ob es sich in Wirklichkeit so verhält oder nicht – wenn sie in der That Lord Harrys Kreatur ist, von ihm beauftragt, Sie zu überwachen und ihm mitzuteilen, wo Sie für die nächste Zeit in England Ihren Aufenthalt nehmen, dann will ich gern zugestehen, daß sie mich vollständig getäuscht hat. Wenn dies der Fall ist, so kann es gerade leicht möglich sein, daß ihr Gatte kein so vollendeter und ausgezeichneter Betrüger ist wie sein Weib. Und dann bin ich auch im stande, ihn zu durchschauen. Ich kann natürlich nur den Versuch machen.«

Iris seufzte.

»Ich möchte fast hoffen,« sagte sie, »daß Sie keinen Erfolg hätten.«

Mountjoy war betroffen über diese Worte und suchte das auch nicht zu verbergen.

»Ich dachte, Sie wollten nur die Wahrheit erfahren,« antwortete er.

»Mein Herz würde wahrscheinlich leichter sein, wenn ich im Zweifel geblieben wäre,« erwiderte sie. »Unrichtige Schlußfolgerungen haben meine armselige Meinung in Gegensatz zu der Ihrigen gebracht, aber ich komme jetzt wieder zu einer besseren Einsicht. Ich glaube, Sie waren vollständig im Rechte, als Sie versuchten, mich von voreiligen Schlüssen abzuhalten; es ist mehr denn wahrscheinlich, daß ich Mrs. Vimpany unrecht gethan habe. O Hugh, wenn ich es doch nur verstünde, mir einen Freund zu erhalten! Ich bin auch, wenn ich an den Edelmut denke, den Lord Harry in seiner aufopfernden Besorgnis für Arthurs Rettung bewiesen, nicht im stande, an solchen verächtlichen Betrug zu glauben. Er hat doch erst in unsere Trennung eingewilligt und sollte mich nun in heimlicher Weise durch einen Spion überwachen lassen? Was wäre das für ein ungeheurer Widerspruch! Kann jemand daran glauben? Kann jemand das erklären?«

»Ich glaube, ich kann es erklären, Iris, wenn Sie mir erlauben, den Versuch zu machen. Sie sind, um damit zu beginnen, in einem großen Irrtum befangen.«

»In welchem Irrtum?«

»Sie werden es gleich erfahren. Es gibt auf der ganzen Erde kein Geschöpf, das ein vollständig konsequentes Wesen wäre. Lord Harry hat sich, wie Sie ganz richtig bemerkten, sehr edel benommen bei seinen Versuchen, meinem geliebten armen Bruder das Leben zu retten. Er sollte nun nach Ihrer Meinung in allen seinen Gedanken und Handlungen bis an das Ende seines Lebens immer edel sein. Nehmen Sie an, daß die Versuchung an ihn herantrete – eine solche schwere Versuchung, wie Sie selbst, Iris, ohne Ihren Willen für ihn sind – warum setzt er ihr nicht einen übermenschlichen Widerstand entgegen? Sie könnten ebenso gut fragen, warum ist er ein sterblicher Mensch! Glauben Sie nicht, daß auch in ihm Neigungen zum Bösen vorhanden sind, ebenso wie Neigungen zum Guten? Ah, ich sehe, daß Sie das nicht hören wollen! Es würde allerdings unendlich viel angenehmer sein, wenn Lord Harry einer von den vollkommen edlen Charakteren wäre, wie sie uns zuweilen in Romanen und Novellen entgegentreten. Die Wirklichkeit ist leider anders. Ich habe nicht etwa die Absicht, Sie verzagt zu machen, Iris; ich möchte Sie im Gegenteil dazu ermutigen, die Menschheit von einem weiteren und wahreren Standpunkt aus zu betrachten. Sie sollen nicht gleich zu sehr niedergeschlagen sein, wenn Sie Ihren Glauben an einen Menschen erschüttert finden, den Sie bisher für gut hielten. Der Betreffende ist in Versuchung geführt worden. Die Menschen sind im allgemeinen weder vollkommen gut noch vollkommen schlecht. Nehmen Sie sie, wie Sie sie finden.«

Sie trennten sich an der Thür des Gasthauses.

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