Blinde Liebe

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Sechzehntes Kapitel.

Der Wundarzt Mr. Vimpany war ein dicker Mann, kräftig gebaut vom Kopf bis zu den Füßen; seine lebhaften, runden Augen blickten die Mitmenschen mit dem Ausdruck einer gewissen unverschämten Vertraulichkeit an; seine Lippen waren voll, sein Backenbart dicht, seine Hände fleischig und seine Beine stark. Dazu kamen ein sonnenverbranntes, breites Gesicht, ein grauer, sehr weiter Rock, eine schwarz und weiß karrirte Weste und lederne Reithosen, um den Glauben nahe zu legen, man habe einen Landwirt der alten Schule vor sich. Er war stolz auf diesen falschen Eindruck, den er machte. »Die Natur hat mich zum Landwirt geschaffen,« pflegte er zu sagen, »aber meine arme, thörichte alte Mutter, die eine Dame aus vornehmem Hause war, bestand darauf, daß ihr Sohn ein Gelehrter werden sollte. Ich hatte jedoch weder Lust zur Rechtswissenschaft, noch Geld zur Armee, noch die zur Theologie erforderlichen moralischen Lebensanschauungen. Nun, so bin ich denn jetzt hier ein Landarzt – ein Repräsentant der Sklaverei, wie sie sich noch bis in das neunzehnte Jahrhundert erhalten hat. Sie werden es mir nicht glauben, aber ich kann niemals einen Arbeiter auf dem Feld sehen, ohne ihn zu beneiden.«

Dies war der Gatte der vornehmen Dame mit den sorgfältig beobachteten feinen Manieren. Dies war der Mann, welcher Mountjoy mit einem lauten: »Sehr erfreut, Sie zu sehen, Sir!« und einem so kräftigen Händedruck begrüßte, daß es Hugh weh that.

»Ein sehr bescheidenes Mittagessen,« sagte Mr. Vimpany, während er ein großes Stück Fleisch zerschnitt, »aber ich kann es nicht besser geben. Es kommt dann nur noch eine Mehlspeise und ein Glas vorzüglichen alten Sherrys. Miß Henley wird liebenswürdig genug sein, es zu entschuldigen – meine Frau ist daran gewöhnt, und Sie werden auch damit vorlieb nehmen, Mr. Mountjoy, wenn Sie nur halb so liebenswürdig sind, wie Sie aussehen. Ich bin ein Mann von altem Schrot und Korn. Ich freue mich, Sir, ein Glas Wein mit Ihnen trinken zu können!«

Hughs erste Bekanntschaft mit diesem vorzüglichen alten Sherry ließ ihn eine Entdeckung machen, welche sich in der Folge noch viel wichtiger erwies, als er im ersten Augenblick geneigt war, anzunehmen. Er bemerkte vorderhand nur, mit welch inniger Befriedigung Mr. Vimpany den schlechtesten Sherry trank, den sein Gast jemals über seine Lippen gebracht hatte. Hier war wirklich einmal ein Arzt, der sich in vollständiger Selbsttäuschung befand und auf diese Weise eine seltene Ausnahme von der gewöhnlichen Regel bei den Vertretern dieses Berufes machte – hier war wirklich einmal ein Arzt, der keinen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Wein zu machen verstand. Beide Damen aber waren sehr begierig, zu hören, wie Mountjoy die Nacht in dem Gasthof verbracht hatte. Er konnte nur sagen, daß er über nichts zu klagen hätte. Da brach Mr. Vimpany in ein schallendes Gelächter aus.

»O, mit etwas müssen Sie aber unzufrieden gewesen sein!« rief der dicke Doktor. »Ich möchte hundert gegen eins wetten, wenn ich es könnte, daß die Wirtin den Versuch gemacht hat, Sie mit ihrem sauren französischen Wein zu vergiften.«

»Sprechen Sie von dem französischen Rotwein des Wirtshauses, nachdem Sie ihn gekostet haben?« fragte Mountjoy.

»Für was halten Sie mich denn eigentlich?« rief Mr. Vimpany. »Nach allem, was ich von diesem Rotwein gehört habe, bin ich wirklich nicht so dumm, ihn selbst noch zu versuchen, das können Sie mir glauben.«

Mountjoy nahm diese Antwort stillschweigend hin. Die Unkenntnis des Doktors und sein Vorurteil in Sachen des Weines hatte ihn auf eine Reihe ganz neuer Gedanken gebracht, welche für Mr. Vimpany selbst sehr bedenkliche Folgen haben sollten. Es war eine Pause am Tisch entstanden; niemand sprach ein Wort. Der Doktor las in dem Gesicht seiner Frau Mißbilligung über sein unfeines Benehmen, er versuchte daher in sehr ungeschickter Weise, sich bei Mountjoy, der immer noch mit seinen Gedanken beschäftigt dasaß, zu entschuldigen.

»Ich hoffe, Sie haben mir meine Worte nicht übel genommen. Es liegt in meiner Natur, meine Meinung offen auszusprechen. Wenn ich es verstünde, zu schmeicheln und schön zu thun, so würde es mir entschieden in meinem Beruf besser gehen. Ich bin, wie man sagt, ein ungeschliffener Diamant. Bitte, nicht beleidigt sein!«

»O, gewiß nicht, Mr. Vimpany!« beruhigte ihn Mountjoy.

»Das ist recht! Jetzt trinken Sie aber noch ein Glas Sherry!«

Mountjoy trank schweigend sein Glas aus.

Iris blickte ihn verwundert an. Es sah Hugh so vollständig unähnlich, daß er die übliche Artigkeit so ganz außer acht ließ, um unbekümmert seinen Gedanken nachzuhängen, während andere Leute neben ihm am Tische saßen. War er krank? Sein Aussehen bezeugte vollkommenes Wohlbefinden. Was hatte denn sein seltsames Benehmen zu bedeuten?

Da Mr. Vimpany bemerkte, daß Mountjoy nicht auf seine Reden hörte, wendete er sich an Iris.

»Ich habe einen scharfen Ritt gemacht. Miß Henley,« sagte er, »um zur rechten Zeit zum Mittagessen nach Hause zu kommen. Ich muß Ihnen gestehen, es gibt Patienten, welche nach dem Doktor schicken, und dann in der Meinung sind, sie wüßten mehr von ihrem Leiden als derjenige, den sie haben holen lassen, damit er sie kurire. Er ist es nicht, der ihnen sagt, welche Krankheit sie haben, sondern sie sind es, die es ihm sagen. Ein Gespräch über die ärztliche Behandlung, das ist das Beste für sie, und das einzige, was sie nie müde werden zu thun, ist, daß sie über die Erscheinungen ihres Leidens sprechen. Heute hat mich ein alter Mann so lange aufgehalten; indessen der gnädige Herr, wie sie ihn in seiner Gegend zu nennen pflegen, hat einen großen Geldbeutel, und da muß ich geduldig sein.«

»Es ist ein Edelmann aus der alten Schule, Miß Henley,« erklärte Mrs. Vimpany – »ungeheuer reich! Geht es ihm jetzt wieder besser?« fragte sie dann, sich an ihren Gatten wendend.

»Besser?« rief der Doktor, der noch ganz außer Atem war. »Ach was, der hat kein anderes Leiden, als daß er zu gut und zu viel ißt und trinkt. Er ist vor kurzem in London gewesen und hat einen berühmten Arzt um Rat gefragt, natürlich einen Schwindler mit großem Namen. Dieser vortreffliche Heilkünstler wußte aber nichts mit ihm anzufangen und schickte ihn in auswärtige Bäder, damit er sich dort gehörig auskochen lassen sollte. Er kam wieder nach Hause zurück, schlechter als jemals, und wandte sich nun an mich Armen. Als ich zu ihm kam, fand ich ihn bei Tische sitzen, – ein wahres Festmahl, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort – und der alte Narr stopfte sich voll, bis er ganz blau im Gesicht wurde. Ich hätte eigentlich besser sagen sollen, sein Wein war von sehr schlechter Sorte, es fehlte ihm der Gehalt und die Blume, Sie verstehen mich schon, Mr. Mountjoy. Ah, das scheint Sie zu interessiren! Nicht wahr, Sie denken an den Wein der Wirtin? Ist es nicht so? Nun, Sir, wie glauben Sie wohl, daß ich den gnädigen Herrn behandelt habe? – Durch ein ordentliches, kräftiges Brechmittel reinigte ich sein altes, abgenütztes Inneres und brachte ihn so auf die Beine. Sobald er wieder einmal zu viel gegessen hat, schickt er sofort nach mir, und er bezahlt sehr anständig. Ich muß ihm dankbar sein, und ich bin es auch. Bei meiner Seele, ich glaube, ich hätte schon längst Bankerott gemacht, wenn der Magen des alten Esels nicht wäre. Haha, sehen Sie sich einmal meine Frau an, sie stößt mich immer unter dem Tisch. Nicht wahr, mein Herz, wir sollten den Schein aufrecht erhalten? Aber ich thue es nicht! Wenn ich arm bin, so gestehe ich auch ein, daß ich arm bin. Wenn ich einen Patienten kurire, so mache ich kein Geheimnis daraus. Jeder Mann ist mir willkommen, der hören will, wie ich es gemacht habe. Sei nur nicht gleich so böse, Arabella; die Natur hat mich nun einmal nicht zum Arzt bestimmt, und so mag es eben gehen, wie es gehen will. Noch ein Glas Sherry gefällig, Mr. Mountjoy?«

Alle gesellschaftlichen Formen – mit Einschluß der eigentümlichen englischen Gewohnheit, daß die Damen nach dem Essen vom Tisch weggehen und die Herren sich selbst überlassen – fanden an Mrs. Vimpany eine begeisterte und ergebene Anhängerin. Sie stand auf, als wenn sie bei einem großen und feierlichen Gastmahl den Vorsitz geführt hätte, und geleitete Miß Henley in der liebenswürdigsten Weise in das Empfangszimmer. Iris blickte nach Hugh hin, aber sein Geist war noch mit anderen Dingen beschäftigt, denn sein Gesicht hatte noch nicht den nachdenklichen Ausdruck verloren.

In der aufgeräumtesten Laune schob Mr. Vimpany jetzt die Flasche seinem Gast über den Tisch zu und hielt ihm eine Hand voll dicker schwarzer Cigarren hin.

»Hier ist etwas, was zu dem Traubensaft paßt!« rief er. »Das ist die beste Cigarre in ganz England!«

Er hatte gerade sein Glas von neuem gefüllt und wollte sich eben seine Cigarre anzünden, als das Dienstmädchen hereintrat mit einem Zettel in der Hand. Manche Leute machen ihrem Unwillen in dieser, andere in jener Weise Luft. Bei dem Doktor geschah es durch Schelten.

»Nun soll mir einmal einer nicht von Sklaverei reden! Suchen Sie einmal einen Sklaven in ganz Afrika, wie ein Mann meines Berufes einer ist! Für uns gibt es keine Stunde, weder bei Tag noch bei Nacht, die wir zu unserer freien Verfügung haben. Da, hier ist eine so dumme, alte Frau, die an Asthma leidet; sie hat wieder einmal einen Krampfanfall gehabt, und deshalb muß ich jetzt meinen Mittagstisch verlassen und meinen Freund, gerade wo wir erst jetzt recht vergnügt sein wollen. Ich hätte beinahe Lust, nicht hinzugehen.«

Der unaufmerksame Gast rehabilitirte sich plötzlich in den Augen seines Wirtes. Hugh machte lebhafte Einwendungen gegen die zuletzt laut gewordene Absicht Mr. Vimpanys, so daß es den Anschein hatte, als ob ihn der Fall interessire. Der Doktor faßte es als ein Kompliment auf, als Mountjoy sagte:

 

»Aber Mr. Vimpany, wo bleibt dann die Menschenfreundlichkeit?«

»Sie meinen wohl das Geld, Mr. Mountjoy,« antwortete der witzige Doktor. »Die alte Dame ist die Mutter unseres Bürgermeisters, Sir. Sie scheinen mir keinen Spaß zu verstehen; ich werde natürlich hingehen, um das Honorar in meine Tasche stecken zu können.«

Sobald er die Thür geschlossen hatte, atmete Hugh Mountjoy wie erlöst auf und brach in den aufrichtigen Freudenruf aus: »Gott sei Dank, daß er fort ist!« Dann wanderte er in dem Zimmer auf und ab und ließ ungestört seinen Gedanken freien Lauf.

Der Gegenstand seines Nachdenkens war der Einfluß der geistigen Getränke, welcher die verborgenen Schwächen und Fehler in dem Charakter eines Mannes verrät, indem er sie genau so zu Tage treten läßt, wie sie in Wirklichkeit sind, vollkommen aller Bande ledig, welche der nüchterne Mensch sich auferlegt. Daß hier die schwache Seite Mr. Vimpanys lag, war außer Zweifel. Wenn man so schlau war, ihn trinken zu lassen, so viel er wollte, so konnte man ihn ohne viel Mühe der Fähigkeit, seine Gedanken zu verbergen, berauben und die Natur der Verbindung, welche zwischen Lord Harry und Mrs. Vimpany bestand, mußte auf diese Art und Weise früher oder später klar werden – vielleicht in einem Gespräch nach dem Essen bei geschicktem Verhalten. Die Unfähigkeit des Doktors, einen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Wein zu machen, kam dabei ebenso gelegen wie Mountjoys Kenntnis von der vortrefflichen Qualität des französischen Rotweins der Gastwirtin. Er hatte sofort, als er ihn gekostet, erkannt, daß er aus einem der besten Weinberge von Bordeaux stammte und seine wahre Güte und Stärke dem gewöhnlichen und unerfahrenen Geschmack unter jener Blume verbarg, die dem echten Bordeaux eigen ist. Man brauchte ja nur Mr. Vimpany aufzufordern, – etwa durch eine Einladung zum Mittagessen in den Gasthof – seine Meinung als ein Mann, dessen Urteile in Weinsachen vollständiges Vertrauen geschenkt werden dürfte, über diese Sorte abzugeben; man brauchte ihn nur auf diese Art und Weise entdecken zu lassen, daß Hugh reich genug war, um sich einen solchen Wein kaufen zu können, und die Erreichung des gesteckten Zieles war einfach nur eine Frage der Zeit. Es war sicherlich die beste Gelegenheit dazu vorhanden. Mountjoy beschloß, den Versuch zu wagen, und that es auch.

Mr. Vimpany kehrte von seinem Krankenbesuche zurück, vollständig mit sich selbst zufrieden.

»Die Mutter des Bürgermeisters hat guten Grund, Ihnen dankbar zu sein,« sagte er; »wenn Sie mich nicht zur Eile angetrieben hätten, so würde die elende alte Frau daraufgegangen sein. Ein regelrechter Kampf war es zwischen dem Tod und dem Arzt – beim Jupiter! – und der Doktor hat gewonnen. Nun lassen Sie mich aber auch meine Belohnung haben, und reichen Sie mir die Flasche.«

Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie.

»Ja, was ist denn mit Ihnen?« fragte er. »Ich hatte sicher darauf gerechnet, daß ich den Kellerschlüssel brauchen würde, wenn ich nach Hause käme, denn ich konnte doch nicht voraussetzen, daß Sie keinen Tropfen trinken würden. Was soll denn das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich nicht wert bin, Ihren Sherry zu trinken,« antwortete Mountjoy. »Die spanischen Weine sind viel zu schwer für meine schlechte Verdauung.«

Mr. Vimpany brach wiederum in ein schallendes Gelächter aus.

»Aha, ich verstehe, Sie vermissen gewiß den Weinessig der Wirtin.«

»Ja, das thue ich wirklich. Der von Ihnen bespöttelte Weinessig der Wirtin ist nämlich der beste Château Margaux, der mir jemals vorgekommen ist, und wird hier an eine Gesellschaft verschwendet, die gar nicht wert ist, solchen Wein zu trinken.«

Die angeborene Unverschämtheit des Doktors zeigte sich gleich wieder.

»Sie haben natürlich diesen wunderbaren Wein gekauft,« sagte er ironisch.

»Ja,« antwortete Vimpany, »das habe ich gethan.«

Zum erstenmal in seinem Leben verließ Mr. Vimpany seine gewöhnliche Redegewandtheit. Er sah seinen Gast mit stummem Erstaunen an. Diese Gelegenheit nützte Mountjoy aus. Mr. Vimpany nahm eine Einladung zum Mittagessen für den nächsten Tag im Gasthaus mit der freudigsten Bereitwilligkeit an, aber er stellte eine Bedingung.

»Im Fall, daß ich mit dem, was Sie über Ihren wunderbaren Château – ich weiß nicht, wie Sie ihn nennen – behaupten, nicht übereinstimme,« sagte er, »werden Sie es nicht übel nehmen, wenn ich nach Hause schicke und eine Flasche von meinem alten Sherry holen lasse.«

Das nächste Ereignis dieses Tages war ein Besuch des interessantesten Bauwerks, welches sich in der Stadt aus früheren Zeiten erhalten hatte. In Abwesenheit des Doktors, der seinem Beruf nachgegangen war, forderte Miß Henley Mountjoy zur Besichtigung der alten Kirche auf, und Mrs. Vimpany begleitete die beiden, wodurch sie ihrer Hochachtung für den Freund Miß Henleys Ausdruck gab.

Als sich die Gelegenheit bot, unbelauscht ein vertrauliches Wort zu Hugh zu sagen, war Iris bestrebt, die Frau des Doktors zu loben.

»Sie können sich nicht vorstellen, Hugh, wie liebenswürdig sie seit gestern gegen mich ist, und wie sie mich vollkommen überzeugt hat, daß ich ihr Unrecht gethan habe, bitteres Unrecht, indem ich Schlimmes von ihr dachte. Sie weiß, daß Sie sie nicht leiden mögen, und doch spricht sie nur in der liebenswürdigsten Weise von Ihnen. ›Ihr kluger Freund,‹ sagte sie, ›befindet sich so wohl in Ihrer Gesellschaft, daß ich Sie bitte, mich zu begleiten, wenn ich ihm später unsere alte Kirche zeige.‹ Ist das nicht uneigennützig gehandelt?«

Mountjoy behielt seine Ansicht für sich. Die edelmütigen Regungen, welche zuweilen Iris irre führten, gestatteten keinen Widerspruch. Seine eigene Ansicht über Mrs. Vimpany stand der ihrigen immer noch unverändert entgegen. In der Hoffnung, am nächsten Tag Entdeckungen zu machen, welche viel zu ernst sein konnten, um jetzt nichtssagende allgemeine Redensarten auszutauschen, that er sein Möglichstes, um auf etwaige zukünftige Vorfälle hinreichend vorbereitet zu sein.

Nachdem er sich noch überzeugt hatte, daß der gegenwärtige Gesundheitszustand von Iris' Kammermädchen keine Veranlassung bot, ihre Herrin länger in Honeybuzzard festzuhalten, kehrte er in das Gasthaus zurück und schrieb an Mr. Henley. Vollständig wahrheitsgetreu stellte sein Brief die Zugeständnisse dar, welche die Tochter von ihrem Vater verlangte, aber von einem neuen Gesichtspunkt aus. Wie auch immer sein Entschluß ausfallen würde, bat er Mr. Henley durch den Telegraphen, ihm seine Antwort zu übermitteln. Die vorgelegte Frage lautete: »Wollen Sie Iris wieder aufnehmen?«, die erwartete Antwort: Ja oder Nein.

Siebzehntes Kapitel.

Mr. Henleys Telegramm traf am nächsten Morgen im Gasthof ein.

Er war bereit, seine Tochter wieder aufzunehmen, aber nicht bedingungslos. Die Antwort war charakteristisch für den Mann: »Ja – versuchsweise.« Mountjoy wurde davon nicht weiter berührt; er wunderte sich nicht einmal darüber. Er wußte, daß die erfolgreichen Spekulationen, durch welche Mr. Henley sein Vermögen bedeutend vergrößert hatte, ihm eine Menge von Feinden erweckt hatten, die es sich angelegen sein ließen, allerlei ehrenrührige Geschichten über ihn zu verbreiten, die niemals vollständig widerlegt wurden. Das allmäliche stille Zurückziehen der Freunde, auf deren Treue er gebaut, hatte das Herz des Mannes verhärtet und ihn verbittert. Leute, die sich im Unglück befanden und die den reichen, in Zurückgezogenheit lebenden Kaufmann um Hilfe angingen, fanden in den ausgezeichnetsten Empfehlungen ihres Charakters und ihrer Fähigkeiten, die sie etwa aufzuweisen hatten, die denkbar schlechtesten Fürsprecher, die sie wählen konnten. Gegen solche aber, die kaum so viel besaßen, um sich notdürftig kleiden zu können, war Mr. Henley die Mildthätigkeit selbst. Wenn er gefragt wurde, wie er denn dieses sein Verhalten rechtfertigen könnte, sagte er: »Ich habe Sympathie mit diesen armen Verlassenen, denn ich bin selbst ein solcher.«

Zur Zeit des Mittagessens erschien der Doktor im Gasthause; er befand sich jedoch in keiner liebenswürdigen Laune.

»Wieder einen Tag voll schwerer Arbeit hinter mir; ich würde unterlegen sein, wenn ich nicht die Aussicht auf die Belohnung, die mich hier erwartet, gehabt hätte. London oder die Nachbarschaft von London, das wäre der rechte Platz für einen Mann, wie ich bin. Nun, wo ist denn Ihr wunderbarer Wein? Merken Sie sich aber, ich bin ein Mann, der stets die Wahrheit sagt; wenn mir daher Ihr französisches Getränk nicht schmeckt, werde ich es unumwunden bekennen.«

Das Gasthaus besaß keine richtigen Weingläser; man mußte daher diesen seinen Wein aus Wassergläsern trinken, als ob es eine ganz gewöhnliche Sorte gewesen wäre.

Mr. Vimpany bewies, daß er vollständig vertraut mit der Art und Weise war, wie man Weine zu versuchen hatte. Er füllte das Wasserglas, welches das fehlende Weinglas vertreten mußte, hielt es gegen das Licht und betrachtete den Wein aufmerksam; dann bewegte er das Glas unter seiner Nase hin und her und roch mehreremal daran; dann hielt er inne und überlegte. Er kostete den Rotwein so vorsichtig, als ob er fürchtete, daß er vergiftet wäre; dann schnalzte er mit den Lippen und leerte endlich das Glas auf einen Zug. Schließlich bewies er noch einige Rücksicht für seinen Gastgeber, indem er seine Ansicht über den Wein mit folgenden Worten kundgab:

»Nicht so gut, wie Sie denken, Sir, aber ein angenehmer, leichter Rotwein, rein und gesund. Hoffentlich haben Sie nicht allzu viel dafür bezahlt.«

Bis hierher hatte Hugh ein unsicheres Spiel gespielt. Aber jetzt kam endlich seine Belohnung. Nach dem, was der Doktor soeben zu ihm gesagt hatte, wußte er, daß er die gewinnende Karte sicher in seiner Hand hielt.

Das schlechte Essen war bald vorüber, natürlich ohne Suppe; der Fisch in dem bekannten Zustand der Erkaltung, wie er gewöhnlich in einem heruntergekommenen Gasthof einer Landstadt aufgetragen zu werden pflegt. Das Beefsteak wetteiferte in der Zähigkeit mit Gummi; der Anblick der Kartoffeln schien zu sagen: »Fremder, iß uns nicht!« Die Mehlspeise würde selbst ein Kind abgeschreckt haben, und der berühmte englische Käse, welcher, schmählich genug, aus den Vereinigten Staaten nach England kommt, beleidigte die Zunge, wenn man ihn in den Mund steckte. Aber der Wein, der ausgezeichnete Wein, würde jeden andern, nur Mr. Vimpany nicht, für die Mängel des Essens entschädigt haben. Ein Wasserglas nach dem andern, gefüllt mit diesem edlen Stoff, goß er durch seine durstige Kehle ganz ohne jedes Verständnis hinab, behauptete dabei doch immer noch, daß es ein ganz angenehmer, leichter Wein sei, und konnte immer noch nicht das schlechte Essen vergessen.

»Die Kost ist hier,« sagte dieser weise Mann, »womöglich noch schlechter als die Kost, die ich auf der See bekam, damals, als ich an Bord eines Passagierdampfers als Arzt angestellt war. Soll ich Ihnen erzählen, wie ich meine Stellung verlor? O, sagen Sie es nur offen, wenn Sie glauben, daß meine kleine Geschichte nicht wert ist, angehört zu werden.«

»Aber, mein bester Doktor, ich bin ja, wie Sie sehen, ganz gespannt darauf, sie zu vernehmen.«

»Sehr wohl – Sie sind doch nicht beleidigt? – Nun, das ist recht! Also der Kapitän des Schiffes beklagte sich über mich bei den Eigentümern; ich wollte nicht jeden Morgen herumgehen und an den Thüren der Frauenkabinen klopfen und mich erkundigen, wie sich die Damen nach einer Nacht, während der sie seekrank gewesen waren, befänden. Wer in aller Welt weiß denn nicht, wie ihnen zu Mute ist, auch ohne daß er vorher an ihren Thüren angeklopft hat? Sie sollen den Doktor einfach holen lassen, wenn sie ihn brauchen. So faßte ich damals mein Amt auf, und das kostete mich meine Stelle. Geben Sie mir den Wein her. Da wir einmal von Damen sprechen, wie denken Sie über meine Frau? Haben Sie jemals so ausgezeichnete Manieren gesehen? Mein lieber Freund, ich habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen gefaßt; reichen Sie mir Ihre Hand. Ich werde Ihnen noch eine andere kleine Geschichte erzählen. Woher glauben Sie wohl, daß meine Frau diese noblen Manieren und ihre graziösen Bewegungen hat? – Ha, ha, von der Bühne! Das nobelste Fach in diesem Beruf, Sir, eine tragische Schauspielerin. Wenn Sie Mrs. Vimpany als Lady Macbeth gesehen hätten, es würde Sie kalt überlaufen haben. Sehen Sie mich an, heften Sie Ihre Augen fest auf einen Mann, der erhaben ist über alle die heuchlerischen Vorurteile gegen das Theater. Habe ich es nicht deutlich bewiesen dadurch, daß ich eine Schauspielerin heiratete? Aber wir sprechen hier nicht davon! Die rohe Gesellschaft in diesem elenden Nest würde gar nicht mehr zu mir kommen, wenn sie wüßten, daß ich eine Schauspielerin geheiratet hätte. Holla, die Flasche ist schon wieder leer! Ha, da steht ja eine andere, volle! Ich lobe mir den Mann, der immer eine volle Flasche bereit hat, um sie seinem Freund anbieten zu können. Geben Sie mir Ihre Hand, Mountjoy, versichern Sie mir auf Ihr heiliges Ehrenwort, daß Sie ein Geheimnis für sich behalten können: das Geheimnis meiner Frau, Sir! Halt, lassen Sie mich Sie zuerst noch einmal ansehen. Mir war es, als sähe ich Sie lachen; wenn ein Mann über mich lacht, gerade wo ich eben im Begriff stehe, ihm mein ganzes Herz auszuschütten, so könnte ich ihn wahrhaftig gleich an seinem eigenen Tisch niederschlagen! – Wie, Sie haben nicht gelacht? Dann entschuldigen Sie und reichen Sie mir noch einmal Ihre Hand; ich trinke auf Ihr Wohl in Ihrem eigenen Wein. Wo war ich denn stehen geblieben, von was wollte ich eigentlich sprechen?«

 

Mountjoy war eifrigst bemüht, seinen für ihn so außerordentlich interessanten Gast bei guter Laune zu erhalten.

»Sie wollten mir die Ehre erweisen,« sagte er, »mich in Ihr Vertrauen zu ziehen.

Mr. Vimpany starrte in seinem Rausch ganz verwirrt vor sich hin. Mountjoy versuchte noch einmal mit deutlicheren Worten, ihn an das zu erinnern, was er hatte sagen wollen:

»Sie standen im Begriff, mir ein Geheimnis anzuvertrauen.«

Diesmal verstand ihn der Doktor und fand seine Gedanken wieder. Er sah sich listig nach der Thür um und fragte seinen Wirt:

»Hier gibt es doch keine Horcher und keine geheimen Thüren? Wir wollen lieber leise flüstern, leise, denn was ich Ihnen zu sagen habe, ist wichtig und ernst. Ja, was war es denn nun gleich wieder, was ich erzählen wollte? Was für ein Geheimnis war es denn, alter Junge?«

Mountjoy antwortete hierauf etwas zu rasch: »Ich glaube, es stand in Beziehung zu Mrs. Vimpany.«

Der Gatte von Mrs. Vimpany warf sich in seinen Stuhl zurück, dann zog er ein sehr unsauberes Taschentuch aus seiner Tasche und fing an zu weinen. Nach einer Weile sagte der betrunkene Mann in kläglich wimmerndem Ton:

»Da sitzt ein falscher Freund! Er ladet mich ein, mit ihm zu speisen, und benützt meine hilflose Lage, wo ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin, um meine Frau zu beleidigen – die liebenswerteste der Frauen! Die süßeste der Frauen! Die unschuldigste der Frauen! O mein Weib, mein liebes Weib!«

Dann warf er plötzlich sein Taschentuch in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers und brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Oho, Mountjoy, was für ein furchtbarer Narr müssen Sie sein, daß Sie glauben, ich hätte das alles im Ernst gesagt! Ich bin noch vollständig bei Sinnen; denken Sie denn, ich kümmere mich viel um meine Frau? Sie war einstmals schön, aber jetzt ist sie nur ein Bündel von alten Lumpen. Aber sie hat auch jetzt noch ihre Vorzüge; ja, ja, ich möchte wohl etwas wissen. Haben Sie vielleicht einen Lord in dem Kreise Ihrer Bekannten?«

Die Erfahrung machte Mountjoy vorsichtiger, vielleicht etwas zu vorsichtig; er sagte nur:

»Ja.«

Der Doktor fühlte sich in seiner Würde gekränkt.

»Das ist eine sehr kurze Antwort für einen Mann in meiner Stellung, Sir!« bemerkte er scharf. »Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen glauben soll, so müssen Sie mir schon den Namen Ihres Freundes nennen.«

So war denn endlich der langersehnte Augenblick gekommen.

»Sein Name ist,« begann Mountjoy, »Lord Harry.«

Mr. Vimpany verlor für einen Augenblick seine Fassung; er schlug mit seiner derben Faust so kräftig auf den Tisch, daß die Gläser wackelten.

»Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen!« rief er aus. »Merkwürdig – nein, das ist nicht das richtige Wort – von der Vorsehung bestimmt, das ist das richtige. Ja, ja, wie ist doch meistens so ein Zusammentreffen von der Vorsehung bestimmt! Ich meine natürlich für einen Mann von Verstand. Niemand darf mir widersprechen! Wenn ich sage: ein Mann von Verstand, so sag' ich das im Ernst; und ein junger Mann, wie Sie sind, der ist zum Widerspruch gern geneigt. Mountjoy – guter Mountjoy – lieber Mountjoy – der Lord meiner Frau ist Ihr Lord – ist Lord Harry. Nein, nein, nichts von ›ihr‹! Unsinn – ich will keinen Wein mehr haben – doch! – ich will noch welchen haben! Es könnte Ihr Gefühl beleidigen, wenn ich nicht mehr mit Ihnen tränke. Geben Sie mir die Flasche her. O, was ist das für ein schöner Ring, den Sie da an Ihrem Finger tragen! Sie glauben wahrscheinlich, daß er wertvoll ist; das ist nicht wahr, das ist ganz wertloses Zeug, das ist Schund im Vergleich zu der Diamantnadel meiner Frau! Dies ist ein kostbares Juwel, wenn Sie nichts dagegen haben. Wenn wir sie verkaufen wollten, würden wir ein ganzes Vermögen dafür bekommen. Ein Geschenk, mein lieber Herr! – Ich fürchte, ich bin viel zu offenherzig gegen Sie. Da ich aber als ein geborener Ehrenmann zu Ihnen spreche, so bitte ich Sie, meiner vollständigen Hochachtung versichert zu sein. Habe ich nicht vorher gesagt, die Diamantnadel wäre ein Geschenk? – Das ist nicht wahr – sie ist nichts Derartiges, wir haben gegen keinen Menschen Verpflichtungen. Mein Weib, mein bewunderungswürdiges Weib hat sie verdient. Mit der Post kam sie in einem eingeschriebenen Paket und dabei ein Brief von Lord Harry, ich sage Ihnen ein Brief, der eines echten Mannes würdig war. Er ist meiner Frau sehr verpflichtet – ich teile Ihnen ungefähr den Sinn des Briefes mit – für alles das, was meine Frau für ihn gethan hat; bares Geld ist bei dem guten Lord immer rar; er sendet daher ein Familienschmuckstück mit seiner Verehrung. O, ich bin nicht eifersüchtig; er kann getrost Mrs. Vimpany in ihren alten Tagen verehren, wenn er Lust dazu hat. Sagten Sie das, Herr? Sagten Sie, daß Lord Harry oder irgend ein anderer Mann Mrs. Vimpany verehren dürfe? – Ich habe große Lust, Ihnen diese Flasche an den Kopf zu werfen. Nein, ich werde es nicht thun; es ist ein gefährlicher, guter Wein. Wie liebenswürdig von Ihnen, mir einen solch guten Wein vorzusetzen! Wer sind Sie denn eigentlich? – Ich liebe es nicht, mit einem Fremden zu speisen. Kennen Sie irgend einen meiner Freunde? Kennen Sie einen Mann Namens Mountjoy? Kennen Sie zwei Männer mit dem Namen Mountjoy? – Nein, das ist nicht möglich, denn einer von ihnen ist tot – von jenen schurkischen Mordgesellen umgebracht. Wie nennen Sie diese Leute? Nun, wie?«

Der Doktor fing an zu lallen; sein Kopf sank schwer auf den Tisch; er war plötzlich eingeschlafen. Er wachte aber bald wieder auf und fing ebenso plötzlich an, weiter zu reden.

»Würden Sie gern die Bekanntschaft Lord Harrys machen? – Ich werde Ihnen zuerst eine Beschreibung seines Charakters geben, bevor ich Sie ihm vorstelle. Unter uns gesagt, der gute Lord ist ein ausgemachter Schurke. Wissen Sie wohl, zu was er meine Frau, meine anbetungswürdige Frau, benützt? – Sie werden mit mir übereinstimmen, er sollte selbst nach seinem jungen Weibe sehen. Wir haben sie glücklich und heil in unser Haus gebracht. Ein hübsches Kind, aber nicht mein Geschmack! Mein Urteil als Arzt lautet: Sie hat kein Herz. Lord Harry soll nur kommen; er wird sie hier finden. Warum, zum Teufel, kommt er denn nun nicht? Was hält ihn denn in Irland fest? Ich scheine es vergessen zu haben. Wissen Sie es vielleicht? – Ich glaube, ich habe mein Gedächtnis verloren. Was ist ein gutes Heilmittel dagegen? – Es gibt nur einen Doktor auf der Welt, der Ihnen das allein richtige nennen wird – den Wein. Wenn dieser Rotwein überhaupt etwas wert ist, so ist eine volle Flasche eine Guinee wert. Ich frage Sie im Vertrauen: Haben Sie jemals von einem solchen Esel gehört, wie der Lord meiner Frau ist? Sein Name ist mir vorher entschlüpft. Na, das schadet nichts. Er hält sich in Irland auf, um zu jagen. Zu jagen – was denn? – Füchse? O nein, nichts so Nobles; er ist auf der Jagd nach Mördern. Er hat sich mit einem von ihnen überworfen. Er will einen von ihnen umbringen. Ein Wort ganz leise in Ihr Ohr: sie werden ihn totschlagen. Wetten Sie vielleicht? – Fünf gegen eins, er ist ein toter Mann noch vor dem Ende dieser Woche. Wann ist denn das Ende der Woche? – Dienstag, Mittwoch – nein, Sonnabend – nein, das ist der Anfang der Woche – nein, das ist nicht der Anfang – die Woche fängt nicht am Sonnabend an – am Sonntag natürlich – wir sind keine Christen, wir sind Juden – nein, wir sind Juden, keine Christen, das heißt –«

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