Theorie und Therapie der Neurosen

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Theorie und Therapie der Neurosen
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UTB 457

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Viktor E. Frankl (1905–1997) war Begründer der Logotherapie und Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher. Er korrespondierte schon als Schüler mit Sigmund Freud. Als Leiter einer jüdischen Nervenklinik wurde Frankl 1942 von den Nazis verhaftet und bis zum Kriegsende in Konzentrationslagern interniert. Frankl war langjähriger Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und hatte mehrere Professuren in den USA inne. Sein psychotherapeutischer Ansatz, die Logotherapie, wurde auch die „Dritte Wiener Richtung" genannt (nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der Individualpsychologie von Alfred Adler). Sein UTB-Lehrbuch „Theorie und Therapie der Neurosen" wurde ein Standardwerk. Zahlreiche weitere Bücher, die z. T. in viele Sprachen übersetzt wurden, haben Frankl auch international bekannt gemacht.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

UTB-ISBN 978-3-8252-0457-0

ISBN 978-3-8385-0457-5 (PDF)

ISBN 978-3-8463-0457-0 (EPUB)

© 2007 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: pagina GmbH, Tübingen

Druck: Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-0457-0 (UTB-Bestellnummer)

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorworte

Einleitung

Was ist Logotherapie?

Neurosenlehre und Psychotherapie

Grundriß der Neurosenlehre

I Neurosenlehre als Problem

Zur Definition und Klassifikation neurotischer Erkrankungen

II Neurosenlehre als System

1 Endogene Psychosen

Person und Psychose

Anhang

Psychotherapie bei endogenen Depressionen

2 Psychosomatische Erkrankungen

Kritische Bemerkungen zur Psychosomatischen Medizin

a) Allgemeiner Teil

b) Besonderer Teil

3 Funktionelle Erkrankungen

Somatogene Pseudoneurosen

a) Basedowoide Pseudoneurosen

b) Addisonoide Pseudoneurosen

c) Tetanoide Pseudoneurosen

d) Vegetative Syndrome

4 Reaktive Neurosen

a) Angstneurotische Reaktionsmuster

b) Zwangsneurotische Reaktionsmuster

c) Sexualneurotische Reaktionsmuster

5 Iatrogene Neurosen

6 Psychogene Neurosen

7 Noogene Neurosen

8 Kollektive Neurosen

Logotherapie und Existenzanalyse

A) Logotherapie als spezifische Therapie noogener Neurosen

B) Logotherapie als unspezifische Therapie

C) Paradoxe Intention und Dereflexion

I Paradoxe Intention

1 Therapeutische Technik

2 Klinische Kasuistik

II Dereflexion

1 Erwartungsangst und Beobachtungszwang

2 Klinik der Hyperreflexion und Technik der Dereflexion

Schlafstörungen

D) Ärztliche Seelsorge

E) Existenzanalyse als psychotherapeutische Anthropologie

Zusammenfassung

Anmerkungen

Auswahl aus dem Schrifttum über Logotherapie

Personenregister

Sachregister

Vorwort zur 1. Auflage

Das hiermit vorgelegte Buch ist hervorgegangen aus Vorlesungen, die ich unter dem Titel „Neurosenlehre und Psychotherapie“ bzw. eben „Theorie und Therapie der Neurosen“ an der Universität Wien gehalten hatte. Sie wurden ergänzt aus den Manuskripten von Vorträgen, die ich anderwärts zu halten hatte.

Unter solchen Umständen sind Überschneidungen, ja Wiederholungen zwar unvermeidlich, aber – im Hinblick auf die didaktische Absicht – nicht einmal unerwünscht.

Auf der anderen Seite sind Vernachlässigungen unter solchen Umständen nicht weniger unvermeidlich; denn durch das „weite Land“ der Seele (Arthur Schnitzler) führen viele Wege. Der tatsächlich eingeschlagene ist weder ein willkürlich gewählter noch der einzig mögliche und allein notwendige; aber er führt über jene Standorte und Haltestellen, an denen sich sowohl die Problematik als auch die Systematik aller Neurosentheorie und -therapie auf eine mehr oder weniger neue und fruchtbare Art und Weise einsehen läßt. Videant collegae.

Jede Theorie und Therapie der Neurosen hat sich auf einer Himmelsleiter zu bewegen, die auf dem klinischen Boden steht und dennoch in den metaklinischen Raum hineinreicht. Aus heuristischen Gründen und zu didaktischen Zwecken muß dabei so getan werden, als gäbe es so etwas wie distinkte Sprossen dieser Jakobsleiter: eigentlich gibt es keine rein somatogenen, psychogenen und noogenen Neurosen, vielmehr bloße Mischfälle – Fälle, in denen sich je nachdem ein somatogenes, psychogenes oder noogenes Moment in den Vordergrund theoretischer Ansichten und therapeutischer Absichten schiebt. Solche Reservatio mentalis ist zwischen den Zeilen zu lesen.

 

V. E. Frankl

Vorwort zur 4. Auflage

Gegenüber den vorangegangenen Auflagen wurde die Neuauflage teils gekürzt, teils erweitert. Erweitert wurde sie nun hauptsächlich um eine verhältnismäßig ausführliche Einleitung, die das vorgelegte Material auf den gegenwärtigen Stand logotherapeutischer Forschung und Praxis anheben sollte. Diese Einleitung ist aus einem Seminar „Theory and Therapy of Neuroses“ hervorgegangen, das ich im Rahmen meiner Professur für Logotherapie an der United States International University in San Diego (Kalifornien) während der Winterquartale der letzten Jahre gehalten hatte.

Ein Wort noch zur Bibliographie, die ja ebenfalls auf den heutigen Stand des logotherapeutischen Schrifttums angehoben wurde. Im Zuge der Revision traten neuere Publikationen an die Stelle älterer Veröffentlichungen. Komplett ist die Bibliographie nur hinsichtlich der Sparten I (Bücher) und III (Dissertationen). In beide Sparten wurden nämlich auch Arbeiten aufgenommen, die entweder in eine Fremdsprache übersetzt oder in einer anderen als der deutschen Sprache publiziert worden waren. Letzteres gilt unter meinen Büchern von den drei Werken „Psychotherapy and Existentialism“, „The Unheard Cry for Meaning“ und „The Will to Meaning“, die englisch geschrieben und nicht ins Deutsche (sondern nur in andere Sprachen) übersetzt wurden – „Der Wille zum Sinn“ ist keine deutsche Fassung von „The Will to Meaning“. Und unter den Dissertationen wurde die Majorität ja ebenfalls englisch geschrieben.

So bleibt mir denn nur noch, meinen seinerzeitigen Assistenten und Studenten zu danken, von denen ich so viel kasuistisches Material benutzen durfte, das die Logotherapie in der Praxis demonstriert.

Wien/San Diego, California im Winter 1974/1975

Viktor E. Frankl

Vorwort zur 5. Auflage

Gegenüber der 4. Auflage wurde der Text nur an wenigen Stellen verändert. [...] Die Bibliographie wurde von Grund auf umgearbeitet beziehungsweise auf den neuesten Stand gebracht. Die Literatur mag dem Leser aber auch einen Eindruck vermitteln von dem weltweiten Echo, das die Logotherapie gefunden hat.

Wien, im März 1982

Viktor E. Frankl

Einleitung

Was ist Logotherapie?

Bevor wir darangehen, zu sagen, was Logotherapie nun eigentlich ist, empfiehlt es sich, zunächst einmal zu sagen, was sie nicht ist: sie ist keine Panazee! Die Bestimmung der „Methode der Wahl“ in einem gegebenen Falle läuft auf eine Gleichung mit zwei Unbekannten hinaus:

Ψ = x + y

– wobei x für die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Patientenpersönlichkeit steht, und y für die nicht weniger einmalige und einzigartige Persönlichkeit des Therapeuten. Mit anderen Worten, weder läßt sich jede Methode in jedem Falle mit den gleichen Erfolgsaussichten anwenden, noch kann jeder Therapeut jede Methode mit der gleichen Wirksamkeit handhaben. Und was für die Psychotherapie im allgemeinen gilt, gilt im besonderen eben auch für die Logotherapie. Mit einem Wort, unsere Gleichung ließe sich ergänzen, indem wir nunmehr formulieren:

ψ = x + y = λ.

Und doch konnte es Paul E. Johnson einmal wagen, zu behaupten: „Logotherapy is not a rival therapy against others, but it may well be a challenge to them in its plus factor.“ Was diesen Plusfaktor aber ausmachen mag, verrät uns N. Petrilowitsch, wenn er meint, die Logotherapie verbleibe im Gegensatz zu allen anderen Psychotherapien nicht in der Ebene der Neurose, sondern gehe über sie hinaus und stoße in die Dimension der spezifisch humanen Phänomene vor („Über die Stellung der Logotherapie in der klinischen Psychotherapie“, Die medizinische Welt 2790, 1964). Tatsächlich sieht zum Beispiel die Psychoanalyse in der Neurose das Resultat psychodynamischer Prozesse1 und versucht demgemäß, die Neurose dadurch zu behandeln, daß sie neue psychodynamische Prozesse ins Spiel bringt, etwa die Übertragung; die lerntheoretisch engagierte Verhaltenstherapie sieht in der Neurose wieder das Produkt von Lernprozessen oder conditioning processes und bemüht sich dementsprechend, die Neurose dadurch zu beeinflussen, daß sie eine Art Umlernen beziehungsweise reconditioning processes in die Wege leitet. Demgegenüber steigt die Logotherapie in die menschliche Dimension ein und wird solcherart instand gesetzt, die spezifisch humanen Phänomene, auf die sie dort stößt, in ihr Instrumentarium aufzunehmen. Und zwar handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als die zwei fundamental-anthropologischen Charakteristika menschlicher Existenz, die da sind: ihre „Selbst-Transzendenz“ (Viktor E. Frankl, in: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Urban und Schwarzenberg, München 1959), erstens, und, zweitens, die – menschliches Dasein als solches, als menschliches, nicht weniger auszeichnende – Fähigkeit zur „Selbst-Distanzierung“ (Viktor E. Frankl, Der unbedingte Mensch, Franz Deuticke, Wien 1949, Seite 88).

Die Selbst-Transzendenz markiert das fundamental-anthropologische Faktum, daß menschliches Dasein immer auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist, – auf etwas oder auf jemanden, nämlich entweder auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder aber auf mitmenschliches Dasein, dem es begegnet. Wirklich Mensch wird der Mensch also erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergißt. Es ist wie mit dem Auge, das seiner Funktion, die Welt zu sehen, nur in dem Maße nachkommen kann, in dem es nicht sich selbst sieht. Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es krank ist: wenn ich an einem grauen Star leide und eine „Wolke“ sehe oder an einem grünen Star leide und ringsum eine Lichtquelle Regenbogenfarben sehe, dann sieht mein Auge etwas von sich selbst, dann nimmt es seine eigene Krankheit wahr. Im gleichen Maße ist dann aber auch mein Sehvermögen gestört.

Ohne die Selbst-Transzendenz mit einzubeziehen in das Bild, das wir uns vom Menschen machen, stehen wir der Massenneurose von heute verständnislos gegenüber. Heute ist der Mensch im allgemeinen nicht mehr sexuell, sondern existentiell frustriert. Heute leidet er weniger an einem Minderwertigkeitsgefühl als vielmehr an einem Sinnlosigkeitsgefühl (Viktor E. Frankl, „The Feeling of Meaninglessness“, The American Journal of Psychoanalysis 32, 85, 1972). Und zwar geht dieses Sinnlosigkeitsgefühl für gewöhnlich mit einem Leeregefühl einher, mit einem „existentiellen Vakuum“ (Viktor E. Frankl, Pathologie des Zeitgeistes, Franz Deuticke, Wien 1955). Und es läßt sich nachweisen, daß dieses Gefühl, das Leben habe keinen Sinn mehr, um sich greift. Alois Habinger konnte anhand einer identischen Population von einem halben Tausend Lehrlingen nachweisen, daß das Sinnlosigkeitsgefühl in wenigen Jahren auf mehr als das Doppelte angestiegen war (persönliche Mitteilung). Kratochvil, Vymetal und Kohler haben darauf hingewiesen, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl keineswegs auf kapitalistische Länder beschränkt, vielmehr auch in kommunistischen Staaten bemerkbar macht, in die es „ohne Visum“ eingedrungen sei. Und den Hinweis darauf, daß es bereits in den Entwicklungsländern zu beobachten ist, verdanken wir L. L. Klitzke („Students in Emerging Africa – Logotherapy in Tanzania“, American Journal of Humanistic Psychology 9, 105, 1969) und Joseph L. Philbrick.

Fragen wir uns, was das existentielle Vakuum bewirkt und verursacht haben mag, so bietet sich folgende Erklärung an: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte und Triebe, was er tun muß. Und im Gegensatz zu früheren Zeiten sagen ihm heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, weiß er aber auch nicht mehr recht, was er eigentlich will. Und die Folge? Entweder er will nur das, was die anderen tun, und das ist Konformismus. Oder aber umgekehrt: er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen. Und da haben wir den Totalitarismus. Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine weitere Folgeerscheinung des existentiellen Vakuums, und das ist ein spezifischer Neurotizismus, nämlich die „noogene Neurose“ (Viktor E. Frankl, „Über Psychotherapie“, Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde 3, 461, 1951), die ätiologisch auf das Sinnlosigkeitsgefühl zurückzuführen ist, auf den Zweifel an einem Lebenssinn beziehungsweise auf die Verzweiflung, daß es einen solchen Sinn überhaupt gibt.2

Womit nicht gesagt sein soll, daß diese Verzweiflung an sich schon pathologisch ist. Nach dem Sinn seines Daseins zu fragen, ja diesen Sinn überhaupt in Frage zu stellen ist eher eine menschliche Leistung denn ein neurotisches Leiden; zumindest manifestiert sich darin geistige Mündigkeit: nicht mehr wird ein Sinnangebot kritiklos und fraglos, also unreflektiert übernommen, aus den Händen der Tradition, sondern Sinn will unabhängig und selbständig entdeckt und gefunden werden. Auf die existentielle Frustration ist daher das medizinische Modell von vornherein nicht anwendbar. Wenn überhaupt eine Neurose, dann ist die existentielle Frustration eine soziogene Neurose. Ist es doch ein soziologisches Faktum, nämlich der Traditionsverlust, der den Menschen von heute so sehr existentiell verunsichert.

Es gibt auch maskierte Formen der existentiellen Frustration. Ich erwähne nur die sich namentlich in der akademischen Jugend häufenden Fälle von Selbstmord3, die Drogenabhängigkeit, den so verbreiteten Alkoholismus und die zunehmende (Jugend-)Kriminalität. Heute läßt sich unschwer nachweisen, wie sehr die existentielle Frustration da mit im Spiel ist. Steht uns doch in Form des von James C. Crumbaugh entwickelten PIL-Tests (erhältlich durch Psychometric Affiliates, 1620 East Main Street, Murfreesboro, Tennessee 37130, USA) ein Meßinstrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der Grad der existentiellen Frustration quantifizieren läßt, und neuerdings hat Elisabeth S. Lukas mit ihrem Logo-Test einen weiteren Beitrag zur exakten und empirischen Logotherapieforschung geleistet (Zur Validierung der Logotherapie, in: Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, Hans Huber, Bern 1982).4

Was die Selbstmorde anlangt, wurden von der Idaho State University 60 Studenten unter die Lupe genommen, die Selbstmord versucht hatten, und in 85% ergab sich, „life meant nothing to them“ (das Leben hatte für sie keinen Sinn). Es ließ sich nun feststellen, daß von diesen an einem Sinnlosigkeitsgefühl leidenden Studenten 93% sich in einem ausgezeichneten physischen Gesundheitszustand befanden, im gesellschaftlichen Leben aktiv engagiert waren, hinsichtlich ihres Studiums ausgezeichnet abgeschnitten hatten und mit ihrer Familie in gutem Einvernehmen lebten. (Persönliche Mitteilung von Vann A. Smith.)

Nun zur Drogenabhängigkeit. William J. Chalstrom, der Direktor eines Naval Drug Rehabilitation Center, steht nicht an zu behaupten: „more than 60% of our patients complain that their lives lack meaning“ (persönliche Mitteilung). Betty Lou Padelford (Dissertation, United States International University, 1973) konnte statistisch nachweisen, daß es keineswegs das in diesem Zusammenhang von psychoanalytischer Seite inkriminierte „weak father image“ ist, das der Drogenabhängigkeit zugrunde liegt, vielmehr ließ sich anhand der von ihr getesteten 416 Studenten der Nachweis erbringen, daß der Grad der existentiellen Frustration signifikant mit dem drug involvement index korrelierte: der letztere betrug in den existentiell nicht frustrierten Fällen durchschnittlich 4,25, während er in den existentiellen frustrierten Fällen auf durchschnittlich 8,90, also mehr als das Doppelte, hinaufschnellte. Diese Forschungsergebnisse stimmen auch mit den von Glenn D. Shean und Freddie Fechtman erhobenen Befunden überein („Purpose in Life Scores of Student Marihuana Users“, Journal of Clinical Psychology 27, 112, 1971).

 

Es versteht sich von selbst, daß eine die existentielle Frustration als ätiologischen Faktor berücksichtigende und mittels einer logotherapeutischen Intervention ausräumende Rehabilitation Erfolg verspricht. So kommt es denn, daß laut Medical Tribune (Jahrgang 3, Nr. 19, 1971) von 36 Drogenabhängigen, die von der Universitätsnervenklinik Wien betreut wurden, nach einer Behandlungsdauer von 18 Monaten nur 2 sicher drogenfrei waren – was auf einen Prozentsatz von 5,5 hinausläuft. In der Deutschen Bundesrepublik können von „allen drogenabhängigen Jugendlichen, die ärztlich behandelt werden, mit einer Heilung weniger als 10% rechnen“ (Österreichische Ärztezeitung, 1973). In den USA sind es durchschnittlich 11%. Alvin R. Fraiser geht jedoch in dem von ihm geleiteten kalifornischen Narcotic Addict Rehabilitation Center logotherapeutisch vor und kann mit einem Prozentsatz von 40 aufwarten.

Vom Alkoholismus gilt Analoges. Unter schweren Fällen von chronischem Alkoholismus ließ sich feststellen, daß 90% an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl litten (Annemarie von Forstmeyer, The Will to Meaning as a Prerequisite for Self-Actualization, Dissertation, California Western University, 1968). Kein Wunder, daß James C. Crumbaugh auf Grund von Tests den Erfolg der Gruppenlogotherapie in Fällen von Alkoholismus objektivieren und, ihn mit dem Erfolg anderer Behandlungsmethoden vergleichend, feststellen konnte: „only logotherapy showed a statistically significant improvement“ („Changes in Frankl's Existential Vacuum as a Measure of Therapeutic Outcome“, Newsletter for Research in Psychology 14, 35, 1972).

Hinsichtlich der Kriminalität haben W. A. M. Black und R. A. M. Gregson von einer Universität in Neuseeland herausgefunden, daß Kriminalität und Lebenssinn in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Wiederholt in Gefängnisse eingelieferte Häftlinge unterschieden sich, gemessen am Lebenssinn-Test von Crumbaugh, von der durchschnittlichen Bevölkerung im Verhältnis von 86 zu 115. („Purpose in Life and Neuroticism in New Zealand Prisoners“, Br. J. soc. clin. Psychol. 12, 50, 1973.)

Wie Verhaltensforscher aus der Schule Konrad Lorenz nachweisen konnten, wird Aggressivität, die – etwa auf dem Fernsehschirm – auf harmlose Objekte abgelenkt und an ihnen abreagiert werden soll, in Wirklichkeit überhaupt erst provoziert und, wie ein Reflex, solcherart nur noch mehr gebahnt. Allgemeiner faßt sich die Soziologin Carolyn Wood Sherif von der Pennsylvania State University:

„There is a substantial body of research evidence that the successful execution of aggressive actions, far from reducing subsequent aggression, is the best way to increase the frequency of aggressive responses (Scott, Berkowitz, Pandura, Ross und Walters). Such studies have included both animal and human behavior.“ (Intergroup Conflict and Competition: Social-Psychological Analysis. Vortrag, Scientific Congress, XX. Olympiade, München, 22.8.1972.)

Des weiteren berichtete Professor Sherif aus den Vereinigten Staaten, daß die volkstümliche Vorstellung, der sportliche Wettkampf sei ein Ersatzkrieg ohne Blutvergießen, falsch ist: Drei Gruppen Jugendlicher in einem abgeschlossenen Camp hätten gerade durch sportliche Wettkämpfe Aggressionen gegeneinander aufgebaut, statt sie abzubauen. Die Pointe kommt aber erst: Ein einziges Mal waren unter den Lagerinsassen die gegenseitigen Aggressionen wie hinweggefegt, und das war der Fall, als die jungen Leute einen im lehmigen Boden steckengebliebenen Karren, mit dem die Lebensmittel in das Lager transportiert werden sollten, mobilisieren muß-ten; die wenn auch anstrengende, so doch sinnvolle „Hingabe an eine Aufgabe“5 hatte sie ihre Aggressionen buchstäblich „vergessen“ lassen. (Viktor E. Frankl, Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Hans Huber, Bern 1974.)

Damit stehen wir auch schon vor den Möglichkeiten einer logotherapeutischen Intervention, die ja als solche, als logotherapeutische, auf eine Überwindung des Sinnlosigkeitsgefühls durch die Ingangsetzung von Sinnfindungsprozessen abzielt. Tatsächlich konnte Louis S. Barber an dem von ihm geleiteten Rehabilitationszentrum für Kriminelle binnen 6 Monaten den auf Grund von Tests ermittelten Pegel erlebter Sinnerfüllung von 86,13 auf 103,46 erhöhen, indem er das Rehabilitationszentrum zu einer „logotherapeutischen Umwelt“ ausgestaltete. Und während die durchschnittliche Rückfallsrate in den USA 40% beträgt, konnte Barber mit einem Prozentsatz von 17 aufwarten.6

Nach Besprechung der vielfachen und vielfältigen Erscheinungs- und Ausdrucksformen existentieller Frustration hätten wir uns nun zu fragen, wie muß die Verfassung menschlichen Daseins beschaffen sein – was ist die ontologische Voraussetzung dafür, daß sagen wir die 60 Studenten, die von der Idaho State University untersucht wurden, ohne Vorliegen irgendwelcher psychophysischer oder sozioökonomischer Gründe Selbstmord versuchen konnten. Mit einem Wort, wie muß menschliches Dasein konstituiert sein, daß so etwas wie existentielle Frustration überhaupt möglich ist. Mit anderen Worten – mit den Worten von Kant, wir fragen nach der „Bedingung der Möglichkeit“ von existentieller Frustration, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß der Mensch so strukturiert ist – daß seine Verfassung so ist, daß er ohne Sinn eben einfach nicht auskommt. Mit einem Wort, die Frustration eines Menschen läßt sich nur verstehen, wenn wir seine Motivation verstehen. Und die ubiquitäre Präsenz des Sinnlosigkeitsgefühls mag uns als Indikator dienen, wo es darum geht, die primäre Motivation zu finden – das, was der Mensch letztlich will.

Die Logotherapie lehrt, daß der Mensch im Grunde eben von einem „Willen zum Sinn“ (Viktor E. Frankl, Der unbedingte Mensch, Franz Deuticke, Wien 1949) durchdrungen ist. Diese ihre Motivationstheorie aber läßt sich noch vor deren empirischer Verifizierung und Validierung auch operational definieren, indem wir folgende Erklärung abgeben: Willen zum Sinn nennen wir einfach das, was da im Menschen frustriert wird, wann immer er dem Sinnlosigkeits- und Leeregefühl anheimfällt.

James C. Crumbaugh und Leonard T. Maholick (Eine experimentelle Untersuchung im Bereich der Existenzanalyse: Ein psychometrischer Ansatz zu Viktor Frankls Konzept der „noogenen Neurose“, in: Die Sinnfrage in der Psychotherapie, herausgegeben von Nikolaus Petrilowitsch, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972) haben sich ebenso wie Elisabeth S. Lukas (Logotherapie als Persönlichkeitstheorie, Dissertation, Wien 1971) anhand Tausender Versuchspersonen um die empirische Grundlegung der Lehre vom Willen zum Sinn bemüht. Inzwischen werden immer mehr Statistiken bekannt, aus denen die Legitimität unserer Motivationstheorie hervorgeht. Aus der Fülle des in letzter Zeit angefallenen Materials greife ich nur die Ergebnisse eines Forschungsprojekts heraus, das vom American Council on Education gemeinsam mit der University of California in Angriff genommen worden war. Unter 189.733 Studenten an 360 Universitäten galt das primäre Interesse von 73,7% – es handelt sich um den höchsten Prozentsatz! – einem einzigen Ziele: „developing a meaningful philosophy of life“ – sich zu einer Weltanschauung durchringen, von der aus das Leben sinnvoll ist. Der Bericht wurde 1974 veröffentlicht. 1972 waren es nur 68,1% gewesen (Robert L. Jacobson, The Chronicle of Higher Education).

Es darf hier aber auch auf das Ergebnis einer 2jährigen statistischen Untersuchung verwiesen werden, die von der höchsten Instanz psychiatrischer Forschung in den USA, nämlich dem National Institute of Mental Health, veröffentlicht wurde und aus der hervorgeht, daß 7.948 Studenten, die an 48 amerikanischen Hochschulen befragt worden waren, etwa zu 16% ihr Ziel darin sahen, „to make a lot of money“ – möglichst viel Geld zu machen; während die Spitzengruppe – es handelte sich um 78% – eines wollten: „to find a meaning and purpose to my life“ – in ihrem Leben einen Sinn finden.

Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, was wir gegenüber der existentiellen Frustration, also der Frustration des Willens zum Sinn, und gegenüber der noogenen Neurose unternehmen können – war doch soeben von Sinngebung die Rede. Nun, eigentlich läßt sich Sinn gar nicht geben, und am allerwenigsten kann der Therapeut ihn geben – dem Leben des Patienten einen Sinn geben oder diesen Sinn dem Patienten mit auf den Weg geben. Sondern Sinn muß gefunden werden, und er kann jeweils nur von einem selbst gefunden werden. Und zwar wird dieses Geschäft vom eigenen Gewissen besorgt. In diesem Sinne haben wir das Gewissen als das „Sinn-Organ“ bezeichnet (Viktor E. Frankl, Logotherapie und Religion, in: Psychotherapie und religiöse Erfahrung, herausgegeben von Wilhelm Bitter, Ernst Klett, Stuttgart 1965). Sinn läßt sich also nicht verschreiben; aber was wir sehr wohl zu tun vermöchten, ist eine Beschreibung dessen, was da im Menschen vorgeht, wann immer er auf die Suche nach Sinn geht. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Sinnfindung auf eine Gestaltwahrnehmung hinausläuft – ganz im Sinne von Max Wertheimer und Kurt Lewin, die bereits von einem „Aufforderungscharakter“ sprechen, der bestimmten Situationen innewohne. Nur daß es sich bei einer Sinngestalt nicht um eine „Figur“ handelt, die uns vor einem „Hintergrund“ in die Augen springt, sondern was bei der Sinnfindung jeweils wahrgenommen wird, ist – auf dem Hintergrund der Wirklichkeit – eine Möglichkeit: die Möglichkeit, die Wirklichkeit – so oder so – zu verändern.

Nun zeigt sich, daß der schlichte und einfache Mensch – also nicht einer, der jahrelanger Indoktrination ausgesetzt war, sei es als Student auf akademischem Boden, sei es als Patient auf analytischer Couch – es zeigt sich, daß der schlichte und einfache Mensch immer schon darum weiß, auf welchen Wegen sich Sinn finden – das Leben mit Sinn erfüllen läßt. Nämlich zunächst einmal dadurch, daß wir eine Tat setzen oder ein Werk schaffen, also schöpferisch. Aber auch durch ein Erlebnis, also dadurch, daß wir etwas erleben – etwas oder jemanden, und jemanden in seiner ganzen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erleben heißt ihn lieben. Aber das Leben erweist sich als bedingungslos sinnvoll, es bleibt sinnvoll – es hat Sinn und behält ihn – unter allen Bedingungen und Umständen. Denn kraft eines präreflexiven ontologischen Selbst-Verständnisses, aus dem sich eine ganze Axiologie destillieren läßt, weiß der Mann von der Straße nicht zuletzt auch7 darum, daß er auch noch dann, ja gerade dann, wenn er mit einem unabänderlichen Faktum konfrontiert ist, eben in der Bewältigung dieser Situation sein Menschsein bewähren – Zeugnis davon ablegen kann, wessen der Mensch fähig ist. Was dann zählt, ist also die Haltung und Einstellung, mit der er die unausweichlichen Schicksalsschläge des Lebens abfängt. Diesem Leben Sinn abzuringen und abzugewinnen, ist dem Menschen also bis zu seinem letzten Atemzug vergönnt und verstattet.

Diese im Rahmen der Logotherapie ursprünglich intuitiv entwickelte Logo-Theorie – die Lehre von den ursprünglich so benannten „schöpferischen, Erlebnis- und Einstellungswerten“ (Viktor E. Frankl, „Zur geistigen Problematik der Psychotherapie“, Zentralblatt für Psychotherapie 10, 33, 1938) – wurde inzwischen empirisch verifiziert und validiert. So konnten Brown, Casciani, Crumbaugh, Dansart, Durlak, Kratochvil, Lukas, Lunceford, Mason, Meier, Murphy, Planova, Popielski, Richmond, Roberts, Ruch, Sallee, Smith, Yarnell und Young nachweisen, daß Sinnfindung und -erfüllung unabhängig sind vom jeweiligen Alter und Bildungsgrad und vom männlichen beziehungsweise weiblichen Geschlecht, aber auch davon, ob jemand religiös beziehungsweise irreligiös ist, und, wenn er sich zur Religion bekennt, unabhängig von der Konfession, zu der er sich bekennt. Und dasselbe gilt vom IQ. (Viktor E. Frankl, Der unbewußte Gott, Kösel-Verlag, München 1974.) Zuletzt konnte Bernard Dansart mit Hilfe eines von ihm entwickelten Tests die Einführung des Begriffs „Einstellungswerte“ empirisch legitimieren (Development of a Scale to Measure Attitudinal Values as Defined by Viktor Frankl, Dissertation, Northern Illinois University, 1974).

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