So Gut Wie Tot

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Из серии: Das Au-Pair #3
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KAPITEL DREI

Zu spät wurde Cassie klar, dass sie zu naiv, zu gesprächig und zu gutgläubig gewesen war. In ihrem Bedürfnis nach Gesellschaft hatte sie mit einem Fremden geteilt, dass sie ganz alleine auf dieser Welt war und niemand ihren Aufenthaltsort kannte.

Horrorszenarien spielten sich nun in ihrem Kopf ab – Kidnapping, Menschenhandel und Missbrauch. Sie musste entkommen.

Als Vadims Hand ihrem Handgelenk näherkam, sprang sie abrupt zurück und er erwischte stattdessen nur ihren Jackenärmel.

Der ausgetragene, dünne Stoff riss und er hielt lediglich ein Stück Polyester in den Händen. Dann war sie frei.

Cassie drehte sich um und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Mit gesenktem Kopf floh sie durch den Regen und über die Straße, während die Ampel bereits auf Rot schaltete. Hinter ihr fluchte Vadim und sie wusste, dass der große Schirm ihn nun mehr behinderte als ihm nützte. Sie bog links in eine Seitengasse ein, während hinter ihr ein Bus vorbeifuhr und sie hoffte, dass Vadim ihren Richtungswechsel nicht gesehen hatte. Aber ein Rufen hinter ihr belehrte sie eines Besseren – er war ihr noch immer auf den Fersen.

Sie bog rechts auf eine geschäftigere Straße ab und während sie sich an langsamer gehenden Fußgängern vorbeischlängelte, zog sie sich sowohl Jacke als auch Mütze aus, um mit deren grellen Farben nicht aufzufallen. Sie knüllte die Jacke unter ihrem Arm zusammen und als sie die nächste Kreuzung erreichte und dort links abbog, warf sie einen schnellen Blick nach hinten.

Niemand schien ihr zu folgen, aber er konnte sie noch immer einholen – oder, noch schlimmer, sie an ihrem Ziel erwarten.

Vor ihr sah sie ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Sicherheit: das ‚Pensione‘-Schild, an dem sie zuvor vorbeigegangen waren. Vadim war nirgends zu sehen.

Cassie sprintete darauf zu und betete, rechtzeitig aus der Gefahrenzone hinaus und ins Innere zu gelangen.

*

Die Musik des Gästehauses war auch von der Straße aus hörbar. Das wackelige, weiß gestrichene Tor stand nur angelehnt.

Cassie drückte es auf und stampfte die schmale Holztreppe hinauf. Stimmen, Gelächter und Zigarettenrauch hießen sie willkommen.

Sie warf einen Blick nach hinten, doch der Treppenaufgang war leer.

Vielleicht hatte er die Jagd nach ihr aufgegeben. Jetzt, nachdem ihr die Flucht gelungen war, fragte sie sich, ob sie die Bedrohung aufgebauscht hatte. Der geparkte Van war möglicherweise nur ein Zufall gewesen. Vielleicht hatte Vadim sie lediglich mit zu sich nach Hause nehmen wollen.

Doch wie dem auch sei – er hatte sein Versprechen nicht gehalten und sogar versucht, sie zu packen, als sie gezögert hatte. Wieder überkam sie die Angst, als sie sich daran erinnerte, wie knapp sie ihm entkommen war.

Es war so idiotisch gewesen, hinauszuposaunen, dass sie alleine war, niemand wusste, wo sie sich aufhielt und sie sich auf einer hoffnungslosen Suche nach einer möglicherweise für immer verschwundenen Person befand. Schwer atmend schalt sich Cassie für ihre entsetzliche Dummheit. Es war so erleichternd gewesen, Jacquis Geschichte mit einem Fremden zu teilen, der sie nicht verurteilte. Dabei hatte sie nicht realisiert, auch andere Informationen preisgegeben zu haben.

Das Sicherheitstor am Ende der Treppenstufen war geschlossen. Es führte in ein kleines Foyer, das nicht besetzt war, doch unter einem Knopf an der Wand hing ein Schild.

Die Worte waren auf mehrere Sprachen übersetzt worden und Englisch stand ganz oben.

„Bitte klingeln.“

Cassie klingelte und hoffte, gehört zu werden, wo die Musik doch laut durch das Haus schallte.

Hoffentlich hört mich jemand, betete sie.

Dann öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Foyers und eine rotblonde Frau in Cassies Alter betrat den Raum. Sie wirkte überrascht, Cassie dort stehen zu sehen.

Buono sera“, begrüßte sie sie.

„Sprichst du Englisch?“, fragte Cassie und hoffte, dass die Frau zweisprachig war und verstand, dass sie schnell hereingelassen werden musste.

Zu Cassies Erleichterung antwortete sie auf Englisch. Sie schien einen deutschen Akzent zu haben.

„Wie kann ich dir helfen?“

„Ich brauche dringend eine Unterkunft. Habt ihr freie Zimmer?“

Die rotblonde Frau dachte kurz nach.

„Keine Zimmer“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Cassie war am Boden zerstört. Sie blickte über die Schulter nach hinten und fürchtete, Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Aber es musste das Dröhnen der Musik im Gästehaus gewesen sein.

„Kann ich wenigstens reinkommen?“, fragte sie.

„Natürlich. Ist alles in Ordnung?“

Die Frau betätigte den Tür-Buzzer. Cassie fühlte die Vibration des kalten Metalls in ihren Händen, als das Schloss aufsprang. Energisch drückte sie die Tür hinter sich zu.

Endlich war sie sicher.

„Ich habe draußen eine schlechte Erfahrung gemacht. Ein Mann wollte mich herbegleiten, hat aber dann eine andere Richtung eingeschlagen. Als ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt, hat er mich am Arm gepackt, doch ich habe es geschafft, mich zu befreien.“

Die Frau runzelte die Stirn und sah erschrocken aus.

„Ich bin froh, dass du dich befreien konntest. Dieser Teil Mailands kann nachts gefährlich sein. Bitte, komm mit ins Büro. Ich glaube, deine Frage missverstanden zu haben. Wir haben keine freien Zimmer; alle Einzelzimmer sind belegt. Aber wir haben ein Bett in einem der Gemeinschaftsräume, wenn das für dich in Ordnung ist.“

„Vielen Dank, das ist es.“

Erleichtert, nicht erneut die dunklen Straßen Mailands betreten zu müssen, folgte Cassie der Frau durch das kleine Foyer in ein winziges Büro. An der Tür hing ein Schild: ‚Hostel Manager‘.

Dort bezahlte Cassie für die Unterkunft. Wieder wurde ihr klar, wie hoch die Preise waren. Mailand war ein teures Pflaster und es schien keine Möglichkeit zu geben, günstig zu leben.

„Hast du Gepäck?“, fragte sie.

Cassie schüttelte den Kopf. „Das ist im Auto, mehrere Kilometer von hier entfernt.“

„Dann möchtest du bestimmt das Notfallset kaufen.“

Zahnbürste, Zahnpaste, Seife und Baumwollshirt waren wahre Lebensretter und Cassie gab der Frau dafür noch mehr Euros aus ihrem Portemonnaie.

„Das Zimmer befindet sich am Ende des Korridors und dein Bett ist das neben der Tür. Außerdem gehört dir ein Schließfach.“

„Danke.“

„Die Bar ist dort drüben. Wir bieten unseren Gästen das billigste Bier Mailands.“ Sie lächelte, als sie den Schließfachschlüssel auf den Tresen legte.

„Mein Name ist Gretchen“, fügte sie hinzu.

„Ich bin Cassie.“

Sie erinnerte sich an den Grund ihres Besuchs. „Was ist mit einem Telefon? Oder Internet?“

Sie hielt den Atem an, während Gretchen nachdachte.

„Gäste dürfen das Hostel-Telefon nur in Notfällen benutzen“, sagte sie. „Aber es gibt mehrere Einrichtungen in der Nähe, wo man telefonieren oder einen Computer verwenden kann. Die Adressen stehen an der Pinnwand neben dem Bücherregal, dort befindet sich auch eine Karte.“

„Danke.“

Cassie sah sich um. Sie hatte die Pinnwand beim Betreten des Hostels gesehen, sie hing über einem Regal. Das große Brett war mit den Zetteln übersät.

„Wir hängen auch Jobs an dem Board aus“, erklärte Gretchen. „Wir suchen täglich die Stellenanzeigen raus. Manche kontaktieren uns sogar direkt, wenn sie Hilfe beim Kellnern, Regale einräumen oder Putzen brauchen. Jobs wie diese werden normalerweise tagesweise und in bar bezahlt.“

Sie lächelte Cassie mitfühlend an, als verstünde sie das Dilemma, in einem fremden Land ohne Geld dazustehen.

„Die meisten unserer Gäste finden Arbeit, wenn sie danach suchen. Lass mich wissen, wenn ich dir dabei helfen kann“, sagte sie.

„Nochmals danke“, sagte Cassie.

Sie ging direkt zur Pinnwand.

Fünf Einrichtungen, die Telefone und Internet zur Nutzung anboten, waren darauf ausgeschrieben. Cassie hielt kurz den Atem an, als sie den Namen Cartolería sah, aber der Eintrag war kürzlich durchgestrichen und mit der Notiz ‚geschlossen‘ versehen worden.

Das war ein gutes Zeichen, also entschied sich Cassie, Gretchen nach der Gästeliste zu fragen. Sie ging zur Lounge, wo die Managerin sich gerade ein Bier geöffnet hatte und inmitten von lachenden Menschen auf einem Sofa saß.

„Hier ist noch eine Kundin.“

Ein großer, schlanker Mann mit britischem Akzent, der noch jünger aussah als Cassie, sprang auf und öffnete den Kühlschrank.

„Ich bin Tim. Was kann ich dir bringen?“, fragte er.

Als er ihr Zögern sah, fügte er hinzu: „Heineken sind im Angebot.“

„Danke“, sagte Cassie.

Sie bezahlte und er überreichte ihr eine eiskalte Flasche. Zwei dunkelhaarige Mädchen, vermutlich Zwillinge, rutschten auf das andere Sofa, um ihr Platz zu machen.

„Ich bin eigentlich nur hier, weil ich gehofft hatte, meine Schwester zu finden“, sagte sie und wurde nervös.

„Vielleicht kennt ihr sie oder sie ist hier untergekommen. Sie hat blondes Haar – oder zumindest war es blond, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ihr Name ist Jacqui Vale.“

„Seid ihr schon lange getrennt?“, fragte eines der dunkelhaarigen Mädchen interessiert.

Als Cassie nickte, meinte sie: „Das ist sehr traurig. Ich hoffe, du findest sie.“

Cassie nahm einen Schluck Bier. Es war kalt und malzig.

Die Managerin scrollte durch ihr Handy.

„Wir hatten im Dezember keine Jacqui hier. Und im November auch nicht“, sagte sie und Cassies Herz wurde schwer.

„Warte“, sagte Tim. „Ich erinnere mich an jemanden.“

Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, während Cassie ihn aufgeregt beobachtete.

„Wir haben hier nicht viel Amerikaner, ich erinnere mich aber an den Akzent. Sie selbst war kein Gast, sondern hat einen Freund hier besucht. Sie hatte einen Drink und ist dann gegangen. Aber sie war nicht blond, sondern braunhaarig, aber sehr hübsch und dir ein bisschen ähnlich. Vielleicht ein paar Jahre älter.“

 

Cassie nickte ermutigend. „Jacqui ist älter.“

„Ihre Freundin nannte sie Jax. Wir haben geplaudert, während ich sie bedient habe und sie hat mir erzählt, in einer kleinen Stadt zu wohnen. Ich glaube, ein oder zwei Stunden von hier entfernt. Natürlich kann ich mich aber nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern.“

Cassie blieb der Atem stehen, als sie daran dachte, dass ihre Schwester tatsächlich hier gewesen war, einen Freund besucht und ihr Leben gelebt hatte. Sie schien weder pleite noch verzweifelt zu sein, war nicht drogensüchtig und wurde nicht missbraucht – Cassie hatte viele Worst-Case-Szenarien entworfen, als sie an Jacqui gedacht und sich gewundert hatte, nie von ihr gehört zu haben.

Vielleicht war ihr Familie einfach nicht so wichtig gewesen und sie hatte nicht das Bedürfnis verspürt, sich zu melden. Ja, sie hatten eine enge Beziehung geführt, aber es war die Not gewesen, die sie zusammengebracht hatte, während sie die Wutanfälle des Vaters und das unstabile Familienleben überlebten. Vielleicht hatte Jacqui diese Erinnerungen hinter sich lassen wollen.

„Ich wusste nicht, dass du dich so gut an Gesichter erinnern kannst, Tim“, neckte ihn Gretchen. „Oder funktioniert das nur bei hübschen Mädchen?“

Tim grinste und wirkte beschämt. „Hey, sie war umwerfend. Ich wollte mich sogar mit ihr verabreden, habe dann aber herausgefunden, dass sie nicht in Mailand lebt und mir gedacht, dass sie vermutlich sowieso nicht an mir interessiert ist.“

Die anderen Mädchen protestierten lauthals und im Chor.

„Dummerchen! Du hättest sie fragen sollen“, meinte das Mädchen neben Cassie beharrlich.

„Sie hätte vermutlich nein gesagt. Aber Cassie, wenn du mir deine Handynummer gibst, kann ich mich bei dir melden, wenn mir der Name der Stadt wieder einfällt.“

„Danke“, sagte Cassie.

Sie gab Tim ihre Nummer und leerte ihr Bier. Die anderen schienen bereit für die nächste Runde zu sein und würden vermutlich bis nach Mitternacht weiterplaudern, aber sie war erschöpft.

Sie stand auf, wünschte allen eine gute Nacht, nahm dann eine heiße Dusche und kletterte ins Bett.

Erst als sie die Bettdecke über sich zog, fiel ihr mit Schrecken ein, dass sich ihre Medikamente noch in ihrem Koffer befanden.

Schon mehrmals hatte sie die Konsequenzen einer vergessenen Dosis ausbaden müssen. Es fiel ihr schwer, zu schlafen, wenn sie nicht regelmäßig ihre Tabletten nahm und sie wurde immer wieder von lebhaften Albträumen geplagt. Manchmal schlafwandelte sie sogar und Cassie fürchtete sich davor, dass in dem Schlafsaal zu tun.

Sie konnte nur hoffen, dass ihre eigene Erschöpfung in Kombination mit dem Bier die bösen Träume fernhalten würde.

KAPITEL VIER

„Schnell, steh auf. Wir müssen gehen.“

Jemand tippte Cassie an der Schulter an, aber sie war müde – so müde, dass sie kaum die Augen öffnen konnte. Gegen ihre Erschöpfung ankämpfend, wachte sie langsam auf.

Jacqui stand an ihrem Bett, ihr Haar glänzend und braun. Sie trug eine stylische, schwarze Jacke.

„Du bist hier?“ Aufgeregt setzte Cassie sich auf, um ihre Schwester zu umarmen.

Aber Jacqui drehte sich weg.

„Beeil dich“, flüsterte sie. „Sie sind hinter uns her.“

„Wer denn?“, fragte Cassie.

Sofort dachte sie an Vadim. Er hatte sie am Ärmel gepackt, ihre Jacke zerrissen. Er hatte Pläne für sie gehabt. Ihr war es gelungen, ihm zu entkommen, aber jetzt hatte er sie entdeckt. Sie hätte es wissen müssen.

„Ich weiß nicht, wie wir entkommen können“, sagte sie nervös. „Es gibt nur eine Tür.“

„Über die Feuerleiter. Komm, ich zeig es dir.“

Jacqui führte sie den langen, dunklen Korridor entlang. Sie trug modische, kaputte Jeans und rote Sandalen mit hohen Absätzen. Cassie trottete in ihren ausgetragenen Turnschuhen hinter ihr her und hoffte, dass Jacqui recht hatte und es tatsächlich einen Fluchtweg gab.

„Hier entlang“, sagte Jacqui.

Sie öffnete die stählerne Tür und Cassie schreckte zurück, als sie die klapprige Feuerleiter sah. Die Metallstufen waren rostig und kaputt. Außerdem sicherte die Treppe nur die Hälfte des Gebäudes ab. Danach folgte in endloser, schwindelerregender Tiefe die Straße.

„Wir können nicht hier runter.“

„Doch. Und wir müssen.“

Jacquis Lachen war schrill und als Cassie sie entsetzt ansah, erkannte sie, dass ihr Gesicht sich verändert hatte. Das war überhaupt nicht ihre Schwester. Es war Elaine, die Freundin ihres Vaters, die sie am meisten gefürchtet und gehasst hatte.

„Wir gehen hier runter“, schrie die teuflische, blonde Frau. „Runter, du zuerst. Zeig mir, wie es geht. Du weißt, dass ich dich immer gehasst habe.“

Cassie fühlte, wie das rostige Metall unter ihrer Berührung bebte und begann, ebenfalls zu schreien.

„Nein! Bitte nicht. Hilf mir!“

Elaine lachte weiter, während die Feuerleiter nachgab und unter ihr zusammenbrach.

Und dann rüttelten andere Hände an ihr.

„Bitte, wach auf! Wach auf!“

Sie öffnete die Augen.

Das Licht im Schlafsaal war an und die Gesichter der dunkelhaarigen Zwillinge über ihr. In ihren Augen sah sie sowohl Sorge als auch Verärgerung.

„Du hast wohl schlecht geträumt und geschrien. Geht es dir gut?“

„Ja, alles okay. Tut mir leid, ich habe manchmal böse Träume.“

„Es ist sehr verstörend“, sagte die andere Schwester. „Kannst du etwas dagegen tun? Es ist uns gegenüber nicht fair, wir arbeiten tagsüber und haben heute eine Zwölf-Stunden-Schicht.“

Cassie litt unter Gewissensbissen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Albträume in dem Gemeinschaftszimmer für Störungen sorgen würden.

„Wie spät ist es?“

„Es ist halb fünf.“

„Dann bleibe ich wach“, entschied sich Cassie.

„Bist du sicher?“ Die Zwillinge sahen einander an.

„Ja. Tut mir leid, dass ich euch geweckt habe.“

Sie kletterte aus dem Bett. Aufgrund des Schlafmangels war sie desorientiert und wackelig auf den Beinen. Schnell zog sie sich im Dunkeln um. Dann nahm sie ihre Handtasche, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Die Lounge war leer und Cassie setzte sich auf eines der Sofas, wo sie sich einrollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun oder wohin sie gehen sollte.

Es wäre rücksichtlos, den Schlaf ihrer Zimmergenossen erneut zu riskieren, aber selbst, wenn ein Einzelzimmer frei werden sollte, würde sie es sich nicht leisten können.

Vielleicht, wenn sie sich Arbeit suchen würde? Sie hatte zwar kein Arbeitsvisum, aber laut den anderen Hostelgästen schien sich in Italien niemand an einem Touristenvisum zu stören, wenn die Arbeitsdauer drei Monate nicht überschritt.

Mit einem Job würde sie sich ihren Aufenthalt verdienen und etwas Zeit kaufen können. Selbst wenn Tim sich nicht an den Namen des Ortes erinnerte, würde Jacqui vielleicht erneut versuchen, sie zu kontaktieren.

Cassie ging zur Pinnwand, um sich die ausgeschriebenen Jobs anzusehen.

Sie hoffte, kellnern zu können, da sie Erfahrung darin hatte und sich selbstbewusst bewerben könnte. Doch verzweifelt musste sie feststellen, dass diese Branche gute Italienisch-Kenntnisse voraussetzte. Andere Sprachen waren zwar von Vorteil, aber nicht zwingend.

Frustriert seufzend verwarf sie die Idee, zu kellnern.

Vielleicht ein Job in einer Spülküche? Oder als Putzhilfe?

Sie durchsuchte die Aushänge, fand aber nichts Vergleichbares. Einige Ladenmitarbeiter-Jobs waren ausgeschrieben, aber wieder wurde Italienisch vorausgesetzt. Ein Fahrradkurier-Job klang interessant, aber sie besaß weder Fahrrad noch Helm.

Das waren die einzigen Angebote und sie qualifizierte sich für keines.

Entmutigt kehrte Cassie zur Couch zurück, um ihr Handy zu laden. Vielleicht konnte sie online nach anderen Jobs suchen. Es war immer noch sehr früh und nach ihrer kurzen Nacht waren ihre Augen schwer vor Müdigkeit. Auf der Couch fiel sie in einen leichten Schlaf und wurde einige Stunden später von den Zwillingen geweckt, die zur Arbeit aufbrachen.

Es war nun geschäftiger im Hostel und es roch nach frisch gekochtem Kaffee. Cassie steckte ihr Handy aus und kletterte von der Couch. Sie wollte nicht, dass jemand erfuhr, wo sie geschlafen hatte.

Sie folgte dem Aroma des Kaffees und fand Gretchen im Bademantel an der Pinnwand, wo sie zwei weitere Jobs anheftete.

„Die sind gerade reingekommen“, sagte sie lächelnd. „Und in der kleinen Küche im Flur kann man Kaffee kaufen.“

Cassie betrachtete die neuen Aushänge. Wieder wurde nach einer Kellnerin gesucht, wofür sie ebenfalls nicht infrage kam. Aber als sie den zweiten Zettel betrachtete, kribbelten ihre Hände vor Aufregung.

„Au Pair gesucht. Geschiedene Mutter braucht ab sofort bei der Erziehung ihrer beiden Töchter, Alter 8 und 9, Unterstützung. Englisch bevorzugt. Luxusunterkunft wird gestellt. Bitte melden Sie sich bei Ottavia Rossi.“

Cassie schloss die Augen, auf ihrem Rücken bildete sich eine Gänsehaut.

Sie dachte nicht, einen weiteren Au-Pair-Job bewältigen zu können. Nicht, nachdem ihre ersten beiden Anstellungen so furchtbar schiefgegangen waren.

Ihren ersten Job hatte sie bei einem reichen Landbesitzer in Frankreich bekommen. Erst nach ihrer Ankunft im Schloss hatte sie begriffen, wie dysfunktional die Beziehung zwischen ihm, seiner Verlobten und den drei traumatisierten Kindern gewesen war. Jedes der Kinder hatte auf seine eigene Art und Weise gegen seine brutale Autorität rebelliert und Cassie hatte die volle Wucht der Probleme abbekommen.

Der Job war zu einem Albtraum geworden und als seine Verlobte unter verdächtigen Umständen ums Leben kam, war Cassie nur knapp einer Verhaftung entkommen.

Der Gutsbesitzer – Pierre Dubois – war schließlich für das Verbrechen vor Gericht gebracht worden, ein Verfahren, das noch immer aktiv war. Zeitungsberichte machten Cassie jedes Mal nervös. Da die Verteidiger Pierres nicht ohne Kampf nachgaben, war vermutlich erst im Februar mit einer Entscheidung zu rechnen.

Cassie selbst war nach England geflohen, um sich bedeckt zu halten. Sie fürchtete, von den Verteidigern Pierres für eine Aussage vorgeladen zu werden. Oder noch schlimmer: Man hatte genug Beweise fabriziert, um sie als Schuldige vor Gericht zu bringen.

In England war sie direkt in die Arme eines charmanten und attraktiven Mannes gerannt, der sich selbst als geschiedenen Vater präsentiert hatte, der dringend Hilfe mit seinen Kindern brauchte. Cassie hatte sich sofort in Ryan Ellis verliebt und ihm jedes Wort geglaubt. Mit jeder aufgedeckten Lüge war ihre idyllische Welt ein bisschen mehr zerbrochen. Die Situation war fürchterlich ausgegangen.

Cassie konnte noch immer nicht an ihre Zeit in England denken, ohne panisch zu werden. Sie drehte sich weg und stieß fast mit Gretchen zusammen, die die Pinnwand aktualisierte und ältere Jobs entfernte.

„Sorry“, sagte Cassie.

„Hast du etwas Passendes gefunden?“, fragte Gretchen.

„Ich bin mir nicht sicher. Der Au-Pair-Job klingt interessant“, sagte Cassie aus Höflichkeitsgründen.

„Das liegt außerhalb von Mailand in einer wohlhabenden Gegend. Du würdest bei der Familie selbst leben, also eine Unterkunft gestellt bekommen.“

„Danke“, sagte Cassie. Sie fotografierte die Ausschreibung, obwohl sie keinerlei Absicht hatte, den Job anzunehmen.

Sie sah sich die Bücher an, die zum Verkauf standen. Es war ein eklektischer Mix aus Fiktion und Sachliteratur und zwei der Exemplare könnten ihr von Nutzen sein. Bei einem Buch handelte es sich um italienische Ausdrücke, beim anderen um eine Einführung in die Sprache. Die Bücher waren abgenutzt, aber billig. Froh, mit dem Lernen der Sprache beginnen zu können, ging Cassie ins Büro, um zu bezahlen.

Nachdem sie sowohl die Bücher als auch eine Tasse Kaffee erstanden hatte, ging sie los, um ihren Wagen zu finden. Obwohl die Stadt bei Tageslicht ganz anders aussah, schaffte sie es mit nur wenigen Umwegen zum Parkhaus.

Unterwegs konnte sie nicht aufhören, an den Au-Pair-Job zu denken.

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Außerdem musste sie unbedingt eine Weile in der Stadt bleiben. Vielleicht würde sich Tim, der Bartender, ja an den Namen der Stadt erinnern, in der Jacqui arbeitete.

Bei der Familie unterzukommen, würde auch bedeuten, ihre Mitreisenden nicht weiter zu stören. Und sie hatte nicht vor, den erschreckenden Vorfall mit Vadim zu wiederholen.

Außerdem würde sie für eine Frau arbeiten. Eine geschiedene Frau. Cassie würde sich das bestätigen lassen, bevor sie eine finale Entscheidung traf. Sie wollte nicht wieder für einen Mann arbeiten. In dem Haushalt schien es keinen Mann zu geben – nur eine Frau und ihre zwei Mädchen.

 

Sie könnte fragen. Schließlich kostete es nichts, mehr herauszufinden, oder?

Doch die Erinnerung an ihre vergangenen Erfahrungen machte sie unruhig, während sie die Nummer wählte.

Der Anruf wurde verbunden, es klingelte und klingelte. Cassies Nervosität wuchs mit jeder vergehenden Sekunde.

Endlich wurde abgenommen.

Buongiorno“, sagte eine Frau, die atemlos klang.

Cassie bereute es, die italienischen Wendungen noch nicht studiert zu haben und antwortete nervös.

„Guten Morgen.“

„Das ist Signora Rossis Telefon, Abigail am Apparat. Wie kann ich helfen?“, fuhr die Frau auf Englisch fort. Cassie glaubte sogar, einen britischen Akzent zu erkennen.

Sie versuchte, ihre Nervosität herunterzuschlucken und mit Selbstbewusstsein zu sprechen.

„Ich rufe wegen des Jobs an. Ist Ottavia Rossi verfügbar?“

„Der Job? Bitte warten Sie. Ms. Rossi ist in einem Meeting.“

Cassie hörte, wie die Frau sich mit jemandem besprach. Einen Moment später war sie zurück.

„Es tut mir leid, aber der Job wurde bereits vergeben.“

„Oh.“ Cassie war überrascht und ernüchtert. Sie war sich unsicher, was sie darauf antworten sollte, aber die Frau traf die Entscheidung für sie.

„Auf Wiederhören“, sagte sie und legte auf.

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