So Gut Wie Tot

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Из серии: Das Au-Pair #3
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KAPITEL FÜNF

Cassie verstand nicht, warum der erst kürzlich ausgeschriebene Au-Pair-Job bereits vergeben worden war. Sie war enttäuscht, dass diese Gelegenheit gekommen und gegangen war, ohne dass sie sich überhaupt dafür hatte bewerben können.

Jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. Die Versuchung war groß, in den Wagen zu steigen und wahllos für mehrere Stunden durch die Gegend zu fahren – in der Hoffnung, ihrer Schwester näher zu kommen oder vielleicht sogar wie durch ein Wunder in derselben Stadt zu landen.

Cassie wusste, dass das in diesem dicht besiedelten Land mit Städten und Dörfern jeder Form und Größe nicht nur unwahrscheinlich, sondern sogar unmöglich war.

Sie öffnete den Kofferraum, durchwühlte ihr Gepäck und nahm ihre Tabletten heraus – die versäumte Dosis der vergangenen Nacht sowie die Tabletten für den Morgen.

Im Wagen sitzend schluckte sie die Pillen mit Wasser herunter und rief dann ihre Freundin Jess an.

Cassie hatte Weihnachten und Neujahr gemeinsam mit Jess verbracht. Diese hatte über die Feiertage frei gehabt und Geld für einen Kurztrip bekommen, zu dem sie Cassie eingeladen hatte. Gemeinsam waren sie in Edinburgh gewesen.

Während Jess für die Unterkunft bezahlt hatte, war Cassie gefahren. Sie hatten ein Apartment außerhalb der Stadt gemietet, die Tage mit Sightseeing und die Nächte mit Feiern verbracht. In dieser Zeit hatten sie viele Gelegenheiten zum Reden gehabt, Jess kannte nun also die traurige Wahrheit und wusste genau, was Cassie bei ihren letzten Anstellungen mitgemacht hatte.

„Hey Fremde!“, antwortete Jess fast sofort. „Hast du deine Schwester schon gefunden?“

„Noch nicht, aber jemanden, der kürzlich mit ihr gesprochen hat. Er meinte, dass sie ein oder zwei Stunden außerhalb von Mailand lebt, konnte sich aber nicht an den Namen der Stadt erinnern.“

„Oh, nein!“ Jess klang entsetzt. „Das ist – so nah dran, aber gleichzeitig so weit weg. Was hast du jetzt vor?“

„Ich werde versuchen, einige Wochen hier zu bleiben. Er wird mich kontaktieren, falls er sich an mehr erinnern kann. Ich habe mich eben nach einem Au-Pair-Job erkundigt, der war aber bereits vergeben. Kennst du jemanden in Mailand oder Italien, der Hilfe braucht?“

Cassie hatte großen Respekt vor Jess‘ Kontaktnetzwerk. Die große, freundliche Blondine schien ein natürliches Talent dafür zu haben, strategische Kontakte zu knüpfen. So war Cassie auch zu ihrem letzten Job gekommen, auch wenn dieser sich als Desaster entpuppt hatte. Dank Jess‘ Kontakten waren sie auch in der Lage gewesen, eine günstige Ferienwohnung zu buchen.

„In Mailand?“, fragte Jess nachdenklich.

„Oder in der Nähe“, erinnerte Cassie sie mit der Hoffnung, die Suche auszuweiten.

Jess seufzte.

„Nicht auf Anhieb. Mailand liegt im Norden Italiens, oder?“

„Ja, genau.“

„Also wäre auch die Schweiz oder Süddeutschland eine Möglichkeit, nicht wahr? Vermutlich willst du momentan eher nicht nach Frankreich zurückkehren.“

Vermutlich niemals, dachte Cassie.

„Ich würde mich lieber von Frankreich fernhalten.“

„Lass mich rumfragen. Derzeit sind alle im Skiurlaub und mein Arbeitgeber kennt einige Leute, die Ski-Chalets besitzen. Du könntest als Chalet-Mädchen arbeiten. Die Bezahlung ist zwar nicht so gut, aber du könntest umsonst Ski fahren.“

„Bitte erkundige dich“, meinte Cassie.

„In der Zwischenzeit solltest du den Typen löchern, der mit deiner Schwester gesprochen hat“, meinte Jess. „Sei nicht schüchtern. Sag ihm, er soll sich mit einer Landkarte an den Tisch setzen und solange drauf starren, bis ihm der Name der Stadt wieder einfällt.“

Sie lachte und Cassie lachte mit.

„Ich muss los“, sagte Jess. „Zahnarzttermin. Für die Kinder, nicht für mich. Wir telefonieren später wieder, Cassie. Und viel Glück!“

Als Cassie auflegte, klingelte ihr Handy erneut. Am anderen Ende der Leitung war Abigail, die Frau, mit der sie bezüglich des Au-Pair-Jobs gesprochen hatte.

„Hallo, ich rufe im Auftrag von Ms. Rossi an. Sie haben vorhin wegen eines Jobs angerufen, ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig.“

„Um welchen Job ging es? Sind Sie an der Position des Junior Fashion Designers oder der des Au-Pairs interessiert?“

„An der des Au-Pairs.“

„Bitte bleiben Sie einen Moment dran.“

Die Frau klang nervös und Cassie konnte hören, wie sie im Hintergrund flüsterte.

Einige Augenblicke später fuhr sie fort.

„Es tut mir so leid, bitte entschuldigen Sie. Ich wusste nichts von der Au-Pair-Position. Ms. Rossi hat bestätigt, dass der Job in der Tat noch verfügbar ist, lediglich die Position des Designers wurde bereits besetzt. Sie hat mich gebeten, herauszufinden, ob Sie noch immer Interesse haben.“

„Ja, das habe ich.“

„Ms. Rossi ist heute Nachmittag ab halb drei für Bewerbungsgespräche verfügbar. Die Interviews finden in ihrer Privatresidenz statt. Der erste erfolgreiche Kandidat wird eingestellt und muss bereit sein, sofort zu beginnen. Kann ich Ihnen die Adresse per Nachricht schicken?“

„Ja, bitte“, sagte Cassie und spürte, wie die Sorge zurückkam. Es klang so, als würde sie sofort eine Entscheidung treffen müssen, ob der Job für sie infrage kam oder nicht. Beim Gedanken an die Kinder wurde ihr schlecht vor Aufregung.

Sie entschied sich, den Job nicht anzunehmen, ohne zuerst die Kinder zu treffen. Schließlich würde sie ihren Alltag mit ihnen verbringen. Ihre Mutter schien eine wohlhabende Frau zu sein und Cassies begrenzter Erfahrung nach zu urteilen, bedeutete das, dass die Kinder entweder verwöhnt oder vernachlässigt waren.

Als ihr Handy mit der Wegbeschreibung vibrierte, entschied sie sich, sofort loszufahren.

Schließlich würde es überhaupt keine Entscheidung zu treffen geben, wenn sie nicht als Erste interviewt wurde.

*

Cassie erreichte die Wohngegend kurz vor Mittag. Die Straßen waren ruhig und makellos, große Häuser standen hinter baumbewachsenen Gärten ein gutes Stück von der Straße entfernt. Vermutlich waren die Häuser im Sommer, wenn die Bäume grün waren, von der Straße aus unsichtbar.

Die Sicherheitsvorkehrungen überraschten sie. Jedes Haus besaß entweder Zaun oder Mauer sowie hohe, automatisierte Tore. Cassie war sich nicht sicher, ob die wohlhabenden Hausbesitzer sich um Sicherheit und Privatsphäre sorgten oder ob es in der Gegend ein Kriminalitätsproblem gab. Vermutlich war es das erste.

Während sie mit ihrem kleinen, betagten Fahrzeug durch die Straßen fuhr, entdeckte Cassie einige der Nachbarn, die sie aus ihren glänzenden Sportswägen und dunklen SUVs heraus argwöhnisch betrachteten. Sowohl sie als auch ihr Auto passten nicht in die Gegend und das fiel auf.

Einige Häuserblocks weiter erblickte sie einen Coffee Shop. Sie war zu nervös, um Hunger zu haben, zwang sich aber dazu, ein Cornetto zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken.

Da die Frau vermutlich in der Modeindustrie arbeitete und es sich um eine wohlhabende Wohngegend handelte, wollte Cassie unbedingt einen guten Eindruck machen. Sie suchte die Toilette auf, wo sie ihr Haar glättete und sämtliche Krümel des knusprigen, Mascarpone-gefüllten Gebäckteils von ihrem Oberteil entfernte.

Dann fuhr sie zum Haus und parkte genau zwei Minuten vor zwei vor dem verzierten, schmiedeeisernen Tor.

Sie zitterte nervös und wünschte, ihrer Fähigkeit, den Job zu beurteilen, mehr vertrauen zu können. Sie würde eine Kurzschlussentscheidung treffen müssen, obwohl es viele Variablen zu bedenken gab. Was, wenn sie etwas Wichtiges übersah?

Es fühlte sich wie ein großer Vertrauensvorschuss an, nach ihren bisherigen Erfahrungen überhaupt daran zu denken, erneut als Au-Pair zu arbeiten. Wäre sie nicht so entschlossen, um Jacquis Willen in der Gegend zu bleiben, hätte sie niemals in Erwägung gezogen, den Job anzunehmen.

Cassie zwang sich dazu, tief durchzuatmen und ruhig zu bleiben. Dann lehnte sie sich aus dem Autofenster und drückte den Buzzer am Tor.

Nach einem kurzen Augenblick öffnete sich das Tor und sie fuhr die gepflasterte Einfahrt hinauf, die sich durch den Garten schlängelte.

Sie parkte unter einem italienischen Olivenbaum neben einer Dreifachgarage und fühlte sich durch die Tatsache ermutigt, dass keine weiteren Autos zu sehen waren. Hoffentlich bedeutete das, dass sie die erste Anwärterin war, die das Anwesen erreicht hatte.

Cassie ging den Pfad zu einer riesigen Holztür entlang. Sie klingelte und hörte das Geräusch weit entfernt im Haus.

Sie hatte erwartet, von einem Hausmädchen oder einem Assistenten begrüßt zu werden, aber einige Augenblicke später hörte sie das Klackern von High-Heels und die Tür wurde von einer Frau um die vierzig geöffnet. Sie strahlte unmissverständliche Autorität aus.

Sie war mindestens einen halben Kopf größer als Cassie, was aber hauptsächlich an ihrem exquisiten Paar pfauenblauer Lederstiefel und deren hohen, abgerundeten Absätzen lag. Ihr dunkles Haar lag in kunstvollen Wellen auf ihren Schultern. Eine schwere Goldkette glitzerte an ihrem Hals und goldene Kettchen klingelten an ihren Armen, als sie die Tür weit öffnete.

Buongiorno“, sagte sie. Auch ihre Stimme klang autoritär. „Sie müssen wegen des Au-Pair-Interviews hier sein?“

„Guten Tag. Ja, das bin ich. Mein Name ist Cassie Vale. Ich weiß, ich bin früh. Die Dame, mit der ich gesprochen habe, hat mich auf halb drei bestellt, aber ich hatte Angst, zu spät zu kommen.“

Cassie war sich bewusst, nervös vor sich hinzuplappern, also schloss sie schnell den Mund.

Doch die Frau schien an ihrer Pünktlichkeit Gefallen zu finden. Ihr perfekt geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln.

„Pünktlichkeit ist Höflichkeit. Ich bestehe darauf – sowohl bei mir selbst als auch bei allen, mit denen ich arbeite. Vielen Dank also für Ihre Verbindlichkeit. Ich bin Ottavia Rossi. Bitte kommen Sie herein.“

 

Glücklich, bereits einen positiven Eindruck gemacht zu haben, folgte Cassie ihr schüchtern.

Beim Betreten des geräumigen Atriums entdeckte Cassie eine Reihe farbenfroher Kunst- und Dekorstücke. Helle Gemälde, Vasen und leuchtende Teppiche stachen heraus und ließen das Haus wie eine moderne und einladende Kunstgalerie wirken.

Vor ihr führte eine hohe Treppe aus weißem Marmor in die oberen Stockwerke.

Cassies Blick wurde auf das hüfthohe Modell eines hellroten Stiletto-Schuhs gezogen, der sich rechts neben der Treppe auf einem Sockel befand. Das Design des Schuhs war gewagt und auserlesen.

Ms. Rossi lächelte, als sie Cassies Blick sah.

„Das ist unser ‚Nina‘-Modell, das Rossi Shoes damals in den Siebzigern zu internationalem Ruhm verholfen hat. Das Design war seiner Zeit Jahrzehnte voraus. Die Farbe hat die Menschen war schockiert, aber nicht vom Kaufen abgehalten.“

„Er ist wunderschön“, sagte Cassie.

Sie vermutete, dass Ottavia Rossi die Eigentümerin der internationalen Firma war, bei der es sich offensichtlich um ein etabliertes Familienunternehmen handelte, wo es doch bereits in den Siebzigern erfolgreich Schuhe verkauft hatte.

Ms. Rossi führte sie um die Treppe herum und einen Korridor entlang. Cassie reckte den Hals und warf einen kurzen Blick in die Durchgänge, die in eine große, moderne Lounge und eine strahlende Küche führten, wo ein Koch beschäftigt war.

Weiter hinten im Gang befand sich eine geschlossene Tür, die Ms. Rossi öffnete und Cassie hineinbat.

Bei dem eleganten Raum dahinter handelte es sich um ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich hinter den geschwungenen, weißen Tisch und bat Cassie, auf der anderen Seite Platz zu nehmen.

Cassie bemerkte plötzlich, dass sie mit leeren Händen gekommen war. Sie hatte keinen Lebenslauf vorbereitet, ihre Personalien nicht ausgedruckt und weder von ihrem Pass noch von ihrem Führerschein eine Kopie angefertigt. Diese Frau war eine Geschäftsfrau und würde das sicherlich erwarten. Cassie fühlte sich furchtbar, das vergessen zu haben.

„Es tut mir so leid“, begann sie. „Ich bin erst kürzlich in Italien angekommen und habe meinen Lebenslauf noch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Diese Gelegenheit kam so unerwartet, dass ich mich sofort auf den Weg gemacht habe, um mehr zu erfahren.“

Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi.

„Das verstehe ich. Ich bin in meiner Jugend selbst viel gereist – Sie müssten Anfang zwanzig sein, nicht wahr?“

Cassie nickte. „Ja. Ich habe meinen Reisepass bei mir, wenn Sie einen Blick darauf werfen möchten.“

„Danke.“

Ms. Rossi nahm den Pass und blätterte kurz durch die Seiten, bevor sie ihn Cassie zurückgab.

„Nun, können Sie mit einen kurzen Umriss Ihrer bisherigen Arbeit geben?“, fragte sie.

Als Cassie das hörte, wurde ihr schlecht. Ihr war klar, dass sie keine Zeugnisse ihrer bisherigen Anstellungen in Europa vorzuweisen hatte. Ihr erster Arbeitgeber war Verdächtiger einer Mordverhandlung und hätte vermutlich nichts Gutes über sie zu sagen – Cassie war sich sogar sicher, dass er versuchen würde, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben und darauf zu bestehen, unrechtmäßig beschuldigt worden zu sein.

Ihr zweiter Arbeitgeber war tot; während Cassies Anstellung ermordet worden. Niemand in dieser Familie würde ihr ein Zeugnis ausstellen. Ihre Situation war nicht nur desaströs, nein, es war eine Katastrophe.

KAPITEL SECHS

Cassie schwieg, ihr Verstand raste. Sie wusste, dass Ms. Rossi auf ihre Antwort wartete und dass ihr Zögern für Fragen sorgen würde. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Das Wort ‘Mord’ reichte, um jeden potentiellen Arbeitgeber zu verjagen. Die Umstände spielten keine Rolle, sie war das Risiko einfach nicht wert.

Und das nahm Cassie niemandem übel. Sie begann, sich zu fragen, ob sie möglicherweise Pech brachte – oder ob ihre eigenen Entscheidungen diese furchtbaren Vorfälle verursacht hatten.

Ihre einzige Möglichkeit war es, die aktuellen Erfahrungen auszublenden und sich stattdessen auf ihre Arbeit in den Staaten zu konzentrieren.

Sie räusperte sich und begann dann, zu sprechen.

„Ich bin mit sechzehn Jahren zuhause ausgezogen und habe mir als Kellnerin das College finanziert“, sagte sie.

Sie ging nicht auf die Gründe ihres Auszugs ein, aber hoffte, dass ihr unabhängiges und autarkes Leben auf Wohlwillen stoßen würde. Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi anerkennend.

„Ich habe damals außerdem jüngeren Schülern bei ihren Aufgaben geholfen und in einer Kita Mutterschutzvertretung gemacht. Ich bin befugt, in der Kinderbetreuung zu arbeiten und kann Ihnen die notwendigen Bescheinigungen auf meinem Handy zeigen. Ich habe außerdem ein Zeugnis des Restaurants, für das ich zwei Jahre lang gearbeitet habe, das nicht nur meine Verlässlichkeit bestätigt, sondern auch, dass ich hart für die Zufriedenheit meiner Kunden arbeite.“

Glücklicherweise waren diese Dokumente die Basis ihrer ersten Au-Pair-Bewerbung gewesen und sie hatte sie online gespeichert. Und obwohl die Restaurantarbeit nicht relevant war, bildete sie ihre einzige richtige Referenz.

„Exzellent“, sagte Ms. Rossi.

„Seit meiner Ankunft in Europa bin ich viel gereist. Ich habe zuerst für eine Familie in Paris gearbeitet. Die Kinder sind dann nach Südfrankreich gezogen, deshalb habe ich den Dezember in Großbritannien verbracht.“

Cassie glühte. Ihre Geschichte war voller Lücken. Falls Ms. Rossi ihre Version hinterfragen sollte, würde sie schnell herausfinden, dass Cassie ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Doch zu ihrer Überraschung schien die Geschäftsfrau zufrieden zu sein und begann nun, selbst das Wort zu ergreifen.

„Ich werde Ihnen kurz den Hintergrund meiner persönlichen Situation erläutern. Meine Scheidung liegt nun mehrere Monate zurück und während ich eine Weile in der Lage war, von zu Hause aus zu arbeiten, ist es dafür im Büro nun zu geschäftig geworden. Wir haben unsere Präsenz auf weitere Märkte erweitert und mehrere Marken akquiriert. Dieses Wachstum war geplant, aber ist schneller verwirklich worden, als erwartet. Meine Mutter wird herziehen, um sich um die Kinder zu kümmern, aber sie benötigt Zeit für die Vorbereitung und den Umzug. Für die nächsten drei Monate brauche ich also Hilfe. Natürlich würden Sie im selben Haus wohnen. Die Kinder sind wohlerzogen und wir haben sowohl einen Koch als auch einen Fahrer. Die Aufgaben sind dadurch nicht allzu beschwerlich.“

Cassie schluckte.

„Können Sie mir mehr über die Kinder erzählen? Wie sind sie so?“

„Es sind zwei Mädchen im Alter von acht und neun Jahren. Nina ist die Ältere, Venetia die Jüngere. Sie sind gut erzogen.“

Da Ms. Rossi nicht weiter ins Detail ging, nahm Cassie ihren Mut zusammen.

„Könnte ich sie vielleicht kennenlernen? Um zu sehen, wie wir uns verstehen, bevor ich mich entscheide?“

Sie hatte keine Ahnung, ob Ms. Rossi diese Frage als unhöflich bewerten würde, wo sie doch selbst für das Verhalten ihrer Kinder gebürgt hatte.

Die Geschäftsfrau nickte.

„Natürlich. Sie müssten mittlerweile von der Schule zurück sein. Folgen Sie mir.“

Sie stand auf und glitt aus dem Zimmer. Cassie folgte ihr eilig.

Die autoritäre Ausstrahlung beeindruckte Cassie. Wenn diese Aura für die Leitung eines erfolgreichen, internationalen Unternehmens notwendig war, würde sie selbst vermutlich nie so weit kommen. Nicht in einer Million Jahren. Sie besaß weder die Persönlichkeit noch das kommandierende Auftreten von Ms. Rossi.

Doch sie hatte das Gefühl, dass Ms. Rossi sie mochte. Jedenfalls schien sie keine sofortige Abneigung ihr gegenüber zu empfinden, was bei ihren französischen Arbeitgebern der Fall gewesen war.

Cassie folgte ihr die Marmortreppe hinauf. Das Haus war in der Form eines Hufeisens konzipiert worden und besaß zwei Hauptflügel. Die Zimmer der Kinder befanden sich oben, im rechten Flügel des Hufeisens.

Ottavia Rossis klackernder Schritt auf dem Fliesenboden war laut genug, um den Kindern ihre Ankunft mitzuteilen. Cassie beobachtete beeindruckt, wie zwei dunkelhaarige Mädchen aus ihren Schlafzimmern kamen und nebeneinanderstehend auf ihre Mutter warteten.

Sie trugen elegante, langärmelige Kleider, die bis auf die Farbe identisch waren – das eine was gelb, das andere blau. Cassie betrachtete die bunten Mokassins der Mädchen und fragte sich, ob Rossi Shoes auch eine Kinderlinie hatte und diese Modelle dazugehörten.

„Kinder, ich möchte euch Cassie vorstellen“, sagte Ms. Rossi. „Sie ist im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs hier und wird möglicherweise ein paar Wochen nach euch sehen. Vielleicht könnt ihr sie begrüßen und ihre Fragen beantworten?“

„Guten Tag, wir freuen uns, dich kennenzulernen“, sagten die Kinder im Chor. Cassie war von ihrem einwandfreien Englisch überrascht.

Das größere Mädchen machte einen Schritt nach vorne.

„Ich bin Nina.“

Sie streckte ihre Hand aus und Cassie, überrascht von der formellen Begrüßung, schüttelte sie.

„Ich bin Venetia“, sagte das jüngere Mädchen.

Cassie schüttelte auch ihre kleine, warme Hand. Und obwohl die Situation eher verlegen war und der formelle Korridor keine ideale Atmosphäre zum entspannten Reden bot, wusste sie, beweisen zu müssen, wie freundlich und liebenswert sie selbst war.

Sie lächelte die Kinder an.

„Ihr beide habt wunderschöne Namen.“

„Danke“, sagte Nina.

„Wart ihr heute in der Schule?“

Venetia antwortete eifrig.

„Ja. Nachmittags machen wir unsere Hausaufgaben. Damit waren wir eben auch beschäftigt.“

„Wow, ihr seid sehr fleißige Mädchen. Welches Schulfach gefällt euch am besten?“

Die beiden Mädchen sahen sich kurz an.

„Englisch“, antwortete Nina.

Venetia dachte kurz nach.

„Ich mag Mathematik.“

Cassie war beeindruckt. Deutlich erkannte sie, wo die Wurzel des Erfolgs lag – schon im jungen Alter Disziplin und eine Liebe zum Lernen zu entwickeln. Sie konnte bereits sehen, dass die Mädchen in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollten und eine goldene Zukunft vor sich hatten.

Diese Mädchen würden vermutlich Gelegenheiten haben, von denen sie selbst nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Kurz wunderte sich Cassie, wie es sich wohl anfühlte, als Erbe eines Modeimperiums und mit einer Liebe zum Lernen geboren worden zu sein.

„Was sind eure Hobbys? Was macht ihr außerhalb der Schule?“

Wieder wechselten die Mädchen einen Blick.

„Ich genieße meinen Gesangsunterricht“, sagte Nina.

„Ich reite gerne. Wir haben beide sonntags Unterricht“, fügte Venetia hinzu.

„Das klingt fantastisch“, sagte Cassie, die sich von dem Leben der Mädchen immer mehr begeistern ließ. Die beiden waren nicht nur motiviert, ehrgeizig und akademisch veranlagt, sondern außerdem in der Lage, Hobbys zu haben, die Cassie sich nie hätte leisten können.

Ihr wurde klar, dass diese Familie in ihrem modernen und gleichzeitig eleganten Haus denen ähnelte, die in den Glanzmagazinen beim Friseur ausgestellt waren. Die Rossis gehörten zur Elite der Gesellschaft und es war aufregend und fast schon überwältigend, mit ihnen verbunden zu sein.

Der einzige Makel ihres sonst so perfekten Lebens muss die Scheidung gewesen sein und Cassie fragte sich, wie Ms. Rossis Ehemann wohl war. Da das Rossi-Imperium von ihrer Seite der Familie begründet worden war, hatte sie nach der Scheidung wohl entweder ihren Mädchennamen zurückgenommen oder seinen Namen gar nie benutzt. Cassie fragte sich, ob die Scheidung die Kinder traumatisiert hatte und ob sie Zeit mit ihrem Vater verbrachten. Es waren Fragen, die sie Ms. Rossi stellen müssen würde – oder vielleicht sogar den Kindern selbst – aber nicht jetzt.

Erschrocken bemerkte Cassie, dass sie bereits einen Schritt übersprungen hatte, als hätte sie schon entschieden, den Job anzunehmen.

Die Kinder sahen sie gespannt an. Sie hatten sich nicht bewegt, als warteten sie auf die Erlaubnis, sich zu verabschieden. Ihre Selbstkontrolle war beeindruckend.

„Danke für das Gespräch“, sagte sie. „Es hat mich sehr gefreut, euch kennenzulernen. Ich möchte euch nicht länger von den Hausaufgaben abhalten.“

„Geht, Kinder“, sagte Ms. Rossi und die Mädchen verschwanden in ihren Zimmern.

Auf dem Rückweg durchs Haus konnte Cassie nicht anders, als die beiden zu loben.

„Sie sind fantastisch. Ich kenne keine anderen Kinder, die so diszipliniert und gehorsam sind. Und mit ihrer Liebe für die Schule müssen Sie sehr stolz auf sie sein.“

Ms. Rossi klang erfreut, als sie antwortete.

„Sie sind nicht perfekt, aber das ist kein Kind“, sagte sie. „Doch sie werden eines Tages ein Unternehmen erben, ich strebe also danach, ihnen die richtigen Werte zu vermitteln.“

 

Sie traten die große Treppe hinunter und kehrten ins Arbeitszimmer zurück.

„Nun, da Sie die Familie kennengelernt haben, werden wir über die Stelle sprechen“, sagte sie. „Sie sind die erste Kandidatin, die zum Gespräch gekommen ist – nach Abigails Versäumnis waren wir nicht in der Lage, alle Bewerber zu kontaktieren. Sie scheinen kompetent zu sein und auch die Kinder interagieren gut mit Ihnen. Wenn Sie interessiert sind, würde ich Ihnen die Stelle gerne anbieten. Sie müssten mit den Kindern nach der Schule und auch sonntags Zeit verbringen. Unterricht ist von acht Uhr bis halb zwei, wenn keine Nachmittagsaktivitäten geplant sind.“

Cassie atmete tief durch. Sie fühlte sich geehrt, von Ms. Rossi als kompetent genug eingestuft zu werden, ihre zwei außergewöhnlichen Kinder zu beaufsichtigen. Sie hatte nicht einmal um Telefonnummern gebeten, um Cassies Referenzen zu überprüfen.

„Ich glaube daran, dass jede Gelegenheit eine Tür öffnet“, fuhr Ms. Rossi fort. „Wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, wird es vielleicht auch in der Zukunft Möglichkeiten für Sie geben. Wir haben regelmäßig Praktikumsstellen; wenn Sie also auch nach dieser Anstellung in Italien bleiben und in der Modeindustrie arbeiten möchten, könnte das vermutlich arrangiert werden.“

Cassies Herz machte einen Sprung. Dieser Job war mehr als nur eine kurzzeitige Anstellung und würde vielleicht sogar ihre zukünftige Karriere beeinflussen. Außerdem würden ihre Chancen steigen, Jacqui zu finden.

Sie malte sich aus, gemeinsam mit ihrer Schwester in der Modeindustrie erfolgreich zu sein und ein umwerfendes Apartment in einer malerischen und exklusiven Nachbarschaft zu besitzen. Abends würden sie über ihre Arbeit plaudern, sich beim Kochen abwechseln und dann gemeinsam zum Feiern in die Stadt zu gehen.

Je mehr Cassie darüber nachdachte, desto aufgeregter war sie, diese Gelegenheit gefunden zu haben. Da es sich um so viel mehr als einen einfachen Au-Pair-Job handelte, konnte sie das Angebot unmöglich ablehnen. Sie musste ihre Aufgaben mit Leib und Seele ausführen, denn sie repräsentierten eine lebensverändernde Gelegenheit.

„Ein Praktikum klingt sehr aufregend, das könnte ich mir für die Zukunft sehr gut vorstellen. Ich freue mich, die Anstellung als Au-Pair anzunehmen. Vielen Dank“, sagte sie.

Ms. Rossi lächelte.

„Dann sind Sie hiermit eingestellt. Haben Sie Gepäck?“

„Ja, im Wagen.“

„Eines der Dienstmädchen wird Ihnen dabei helfen, Ihre Habseligkeiten auf Ihr Zimmer zu bringen. Heute Abend werden die Kinder und ich meine Mutter besuchen und dort zu Abend essen. Unser Koch hat frei, aber es gibt einen Lieferservice. Die Speisekarten liegen in der Küchenschublade. Bestellen Sie sich, was Sie möchten und rufen Sie von unserem Festnetztelefon an. Das Essen wird dann innerhalb von dreißig Minuten geliefert und von unserem Konto abgezogen.“

„Vielen Dank“, sagte Cassie.

„Es gibt eine wichtige Regel, die ich mit Ihnen teilen muss.“

Sie beugte sich nach vorne und Cassie folgte ihrem Beispiel.

„Bitte lassen Sie niemanden ins Haus, bevor Sie deren Identität nicht bestätigt haben. Wir leben in einer wohlhabenden Gegend, die Verbrecher anzieht. Wir wurden schon zuvor von Einbrechern ins Visier genommen. Mit zwei kleinen Kindern ist auch Kidnapping stets eine Bedrohung, bitte seien Sie sich dessen bewusst. Lassen Sie keinen Fremden ins Haus, wenn Sie keine Lieferung erwarten. Verstanden?“

Cassie nickte und der Gedanke, jemand könnte auf die Kinder abzielen, machte sie nervös. Dank ihrer eigenen Erfahrung in Mailand wusste sie, dass diese Art von Verbrechen ein tatsächliches Risiko darstellte.

„Ich verstehe. Ich werde sehr vorsichtig sein“, sagte sie.

„Gut, dann sehen wir uns morgen“, bestätige Ms. Rossi.

Sie nahm den Hörer des Haustelefons, drückte einen Knopf und sprach schnell auf Italienisch hinein.

„Das Dienstmädchen ist auf dem Weg“, erklärte sie Cassie.

In diesem Moment klingelte Ms. Rossis Handy.

Ciao“, antwortete sie ungeduldig.

Da es unhöflich wäre, der Unterhaltung zuzuhören, stand Cassie eilig auf und ging zur Tür, um draußen auf das Dienstmädchen zu warten.

Als sie das Zimmer verließ, hörte sie, wie Ms. Rossi streng ins Telefon sprach. „Abigail?“

Cassie erinnerte sich, dass Abigail die Frau war, die ihr fälschlicherweise mitgeteilt hatte, die Au-Pair-Position wäre bereits vergeben.

Kurz war es still, dann sprach Ms. Rossi weiter. Ihre Stimme war laut und wütend.

„Sie haben es vermasselt, Abigail. Das ist nicht akzeptabel, genau wie Ihre Entschuldigung. Sie werden morgen nicht zu Arbeit kommen. Sie sind gefeuert!“

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