So Gut Wie Tot

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Из серии: Das Au-Pair #3
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KAPITEL SIEBEN

Cassie rutschte von der Tür des Arbeitszimmers weg und hoffte, dass Ms. Rossi ihr Lauschen nicht bemerkt hatte. Sie war zutiefst erschrocken. War die junge Angestellte tatsächlich wegen eines Missverständnisses bei einer Stellenanzeige gefeuert worden?

Das konnte nicht die ganze Geschichte sein, vermutlich hatte sie bereits andere Fehler gemacht. Zumindest hoffte Cassie das. Sie begriff bestürzt, dass das möglicherweise zur Leitung eines Imperiums dazugehörte – und dass deshalb so wenige Leute von Erfolg gekrönt waren. Fehler und Ausreden waren inakzeptabel. Das bedeutete für sie, pausenlos auf Zack zu sein und sich größte Mühe zu geben, keine Fehler zu machen.

Sie wollte sich gar nicht ausmalen, etwas falsch zu machen und dann von Ms. Rossi so beschimpft und sogar rausgeschmissen zu werden. Sie klang so wütend, wie ein vollkommen anderer Mensch. Cassie konnte nicht anders, als Mitleid mit der von Pech verfolgten Abigail zu haben. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie nicht in der Position war, die Situation zu beurteilen, wo sie doch nichts über die Hintergründe wusste.

Cassie war froh über die Ankunft des Dienstmädchens, um der wütenden, einseitigen Unterhaltung entfliehen zu können, die sich noch immer im Inneren des Büros abzuspielen schien. Die Frau trug Arbeitskleidung und sprach lediglich Italienisch, war aber in der Lage, sich mit ihrer Gestik verständlich zu machen.

Zusammen gingen sie auf den Hof, wo die Frau Cassie ihren Parkplatz zeigte – eine überdachte Parknische hinter dem Haus. Sie gab ihr außerdem den Schlüssel für die Tür samt Fernbedienung, die das Tor steuerte, und half ihr dann, ihr Gepäck nach oben zu bringen.

Cassie war automatisch nach rechts in Richtung der Zimmer der Kinder gegangen, doch das Dienstmädchen rief sie zurück.

No!“, rief sie auf Italienisch.

Das Mädchen deutete den Korridor entlang in Richtung des anderen Endes des Hufeisens.

Cassie drehte sich verwirrt um. Sie hatte angenommen, in der Nähe der Kinder zu schlafen, sodass sie auch nachts für sie erreichbar war. Am anderen Ende des riesigen Hauses würde sie nicht in der Lage sein, sie zu hören, sollten sie weinen. Ms. Rossis Zimmer, das in der Mitte des Hufeisens lag, war sogar näher.

Doch sie hatte bereits gesehen, wie unabhängig die Mädchen für ihr Alter waren und möglicherweise nachts keine Hilfe mehr benötigten – oder selbstsicher genug waren, auch nachts durch das Haus zu gehen, um sie aufzusuchen.

Ihr großes Schlafzimmer samt eigenem Badezimmer lag am anderen Ende des Hufeisens. Cassie blickte aus dem Fenster und sah, dass ihr Zimmer den Garten und Innenhof überblickte, wo ein kunstvoller Brunnen den Mittelpunkt bildete.

Auf der anderen Seite konnte sie die Schlafzimmerfenster der Kinder sehen und im Licht der spätnachmittäglichen Sonne sogar den dunklen Kopf eines der Mädchen ausmachen, das am Schreibtisch saß und mit den Hausaufgaben beschäftigt zu sein schien. Da die beiden Mädchen identische Pferdeschwänze trugen und auch fast gleich groß waren, konnte sie nicht herausfinden, um welches der Mädchen es sich handelte. Die Stuhllehne blockierte den Blick auf das Kleid, dessen Farbe ihr Aufschluss darüber hätte geben können. Dennoch war es gut zu wissen, sie sehen zu können.

Cassie würde am liebsten durch den Hufeisen-Korridor laufen und die Kinder besser kennenlernen, um einen guten Start mit ihnen zu garantieren.

Doch sie waren mit ihren Hausaufgaben beschäftigt und würden bald mit ihrer Mutter aufbrechen. Sie würde also warten müssen.

Stattdessen packte Cassie aus und stellte sicher, dass sowohl Zimmer als auch Schrank tadellos aufgeräumt waren.

Ms. Rossi hatte sie nicht gefragt, ob sie Medikamente einnahm, also war Cassie nicht gezwungen gewesen, ihr von den Tabletten zu erzählen, die ihre mentale Stabilität förderten.

Sie verstaute die Pillenflaschen außer Sichtweite ganz hinten in ihrer Nachttischschublade.

Cassie hatte nicht damit gerechnet, den ersten Abend im Haus alleine zu verbringen. Sie ging nach unten in die leere Küche und durchsuche die Schubladen, bis sie die Menüs der Lieferunternehmen gefunden hatte.

Der Kühlschrank war voll, aber Cassie hatte keine Ahnung, was für zukünftige Mahlzeiten reserviert war. Fragen konnte sie auch niemanden. Das Personal, inklusive des Mädchens, das ihr geholfen hatte, schien bereits Feierabend zu haben. Es war ihr unangenehm, am ersten Abend etwas zu essen zu bestellen und die Familie dafür bezahlen zu lassen, aber sie entschied, den Anweisungen ihrer Arbeitgeberin zu folgen.

Das Telefon befand sich in der Küche, also rief sie eines der örtlichen Restaurants an, um eine Lasagne und eine Cola Light zu bestellen. Eine halbe Stunde später kam der Lieferdienst. Da sie nicht im formellen Esszimmer speisen wollte, ging Cassie auf Erkundungstour. Im unteren Bereich befanden sich mehrere kleine Räume. Sie vermutete, das Esszimmer der Kinder gefunden zu haben, in dem ein kleiner Tisch sowie vier Stühle standen.

Sie setzte sich und aß ihre Lasagne, während sie das Buch mit den italienischen Redewendungen studierte. Von den Ereignissen des Tages erschöpft ging sie zu Bett.

Kurz bevor sie einschlief, vibrierte ihr Handy.

Es war der freundliche Bartender aus dem Hostel.

„Hey Cassie! Ich glaube, mich daran zu erinnern, wo Jax arbeitet. Die Stadt heißt Bellagio. Ich drück die Daumen, dass das weiterhilft!“

Hoffnung durchflutete Cassie. Sie kannte nun die Stadt – den Namen der Stadt – wo ihre Schwester gewesen war. Hatte sie dort gearbeitet? Cassie hoffte, dass Jacqui dort in einem Hostel oder Gästehaus untergekommen war und dadurch eine Spur hinterlassen hatte. Sobald ihre Zeit es erlaubte, würde sie mit ihren Nachforschungen beginnen. Sie hatte ein gutes Gefühl.

Wie die Stadt wohl war? Der Name klang sehr anmutig. Warum hatte sich Jacqui für einen Aufenthalt dort entschieden?

In Cassies Kopf tummelten sich so viele unbeantwortete Fragen, dass sie viel länger brauchte als erwartet, um einzuschlafen.

Als sie schließlich schlief, träumte sie von der Stadt. Sie war malerisch und klein, mit geschwungenen Häuserreihen und Gebäuden aus honigsüßem Stein. Sie ging die Straße hinunter und fragte einen Passanten: „Wo kann ich meine Schwester finden?“

„Sie ist dort drüben.“ Er zeigte Richtung Hügel.

Unterwegs begann Cassie, sich zu fragen, was sie auf dem Hügel erwartete. Er schien unglaublich weit weg zu sein. Was tat Jacqui dort? Warum war sie nicht nach unten gekommen, um Cassie zu begrüßen, wo sie doch von ihrem Besuch in der Stadt wusste?

Endlich erreichte sie atemlos die Spitze des Hügels, doch der Turm war verschwunden und vor ihr lag lediglich ein riesiger, dunkler See. Das trübe Wasser schlug gegen die dunklen, abbröckelnden Steinufer, die den See umgaben.

„Ich bin hier.“

„Wo?“

Die Stimme schien von weit weg zu kommen.

„Du bist du spät“, flüsterte Jacqui mit heiserer und trauriger Stimme. „Dad hat mich zuerst erwischt.“

Entsetzt beugte Cassie sich über das Steilufer und sah nach unten.

Dort lag Jacqui am Boden des dunklen, kalten Wassers.

Ihr Haar schlängelte sich um sie herum und ihre Arme und Beine lagen weiß und leblos wie Seetang auf den scharfen Felsen. Ihre starren Augen waren nach oben gerichtet.

„Nein!“, schrie Cassie.

Sie realisierte, dass es sich überhaupt nicht um Jacqui handelte und sie gar nicht in Italien war. Sie war wieder in Frankreich, wo sie vom steinernen Balkon aus auf den gespreizten Körper am Boden starrte. Es war kein Traum, sondern eine Erinnerung. Ihr wurde schwindelig und sie krallte sich am Stein fest. Sie fürchtete, selbst zu fallen, weil sie sich so schwach und hilflos fühlte.

„Dafür sind Väter da. Darum geht es.“

Die höhnische Stimme erklang hinter ihr und sie drehte sich um.

Da stand er, der Mann, der sie belogen und in die Irre geführt hatte. Der Mann, der ihr Vertrauen gebrochen hatte. Aber es war nicht ihr Vater, es war Ryan Ellis, ihr Arbeitgeber aus England. Sein Gesicht wirkte zufrieden.

„Dafür sind Väter da“, flüsterte er. „Sie verletzen. Sie zerstören. Du warst nicht gut genug und jetzt bist du an der Reihe. Dafür sind Väter da.“

Seine ausgestreckte Hand erwischte ihr Shirt und er stieß sie mit aller Kraft nach hinten.

Cassie schrie vor Angst, als sie ihren Halt verlor und der Stein unter ihr wegrutschte.

Sie fiel und fiel.

Und dann landete sie. Keuchend saß sie in kaltem Schweiß gebadet in ihrem Bett, obwohl es im geräumigen Zimmer angenehm warm war.

Das Layout des Zimmers war ihr fremd und sie verbrachte einige Zeit damit, ihre Umgebung abzutasten, bis sie endlich ihren Nachttisch und damit den Lichtschalter gefunden hatte.

Sie schaltete das Licht an, um sich zu vergewissern, dass sie ihrem Albtraum entkommen war.

Um sich herum befand sich das große Doppelbett mit seinem verzierten Kopfstück aus Metall. Auf der anderen Seite des Zimmers war das große Fenster, die goldbraunen Vorhänge geschlossen.

Rechts war die Tür zum Flur, links die zum Badezimmer. Der Schreibtisch, der Stuhl, der kleine Kühlschrank, die Garderobe. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Cassie atmete tief aus und war sich nun sicher, nicht mehr in ihrem Traum gefangen zu sein.

Trotz der Dunkelheit war es bereits viertel nach sieben Uhr. Erschrocken fiel ihr ein, dass sie keine Anweisungen erhalten hatte, wie der Tag der Kinder aussehen würde. Oder hatte Ms. Rossi sie instruiert, möglicherweise sogar die Schule erwähnt, und es war ihr entwichen?

Cassie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich an nichts erinnern und glaubte nicht, dass Ms. Rossi ihr Informationen zum Schulbeginn der Kinder gegeben hatte.

Sie kletterte aus dem Bett und zog sich schnell an. Im Badezimmer zähmte sie ihre kastanienbraunen Wellen zu einem sauberen Look, der in dem modeorientierten Haus hoffentlich akzeptabel war.

 

Während sie sich im Spiegel ansah, hörte sie draußen etwas.

Cassie erstarrte und lauschte.

Sie erkannte das Geräusch leiser Schritte auf dem Kies. Das matte Glasfenster des Badezimmers überblickte das Tor.

War das ein Angestellter der Küche?

Sie öffnete das Fenster und schielte nach draußen.

Im tiefen Grau des frühen Morgens sah Cassie eine dunkel gekleidete Figur, die ums Haus herumschlich. Als sie die Person erstaunt beobachtete, erkannte sie die Form eines Mannes, der eine dunkle Mütze und einen kleinen, dunklen Rucksack trug. Sie sah ihn nur kurz, aber erkannte, dass er Richtung Hintertür unterwegs war.

Ihr Herz beschleunigte sich, als sie an Eindringlinge, das automatische Tor und die Sicherheitskameras dachte.

Sie erinnerte sich an Ms. Rossis Worte und ihre klare Warnung. Dies war das Haus einer wohlhabenden Familie. Zweifellos waren die Rossis im Visier von Einbrechern oder sogar Kidnappern.

Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Wenn sie den Mann für gefährlich hielt, könnte sie den Alarm auslösen, schreien und den ganzen Haushalt wecken.

Als sie nach unten eilte, entschied sie sich für einen Plan.

Der Mann war um den hinteren Bereich des Hauses geschlichen, also würde sie die vordere Haustür nehmen. Es war nun hell genug, um etwas zu sehen und die kalte Nacht hatte das Gras mit Frost bedeckt. Sie wäre problemlos in der Lage, seine Fußspuren zu verfolgen.

Cassie ging nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Der Morgen war ruhig und eiskalt, aber sie war so nervös, dass sie die Temperatur kaum bemerkte.

Sie entdeckte die Fußspuren, die im Frost gut sichtbar waren. Sie führten über das sauber geschnittene Gras ums Haus herum und in Richtung Innenhof.

Cassie folgte den Spuren und sah, dass sie zur Hintertür führten, die weit offenstand.

Sie schlich die Stufen hinauf und sah die distinktiven Schuhabdrücke auf dem Stein.

Im Türrahmen blieb sie stehen, um zu warten und neben dem Hämmern ihres eigenen Herzens verdächtige Geräusche wahrzunehmen.

Aus dem Inneren des Hauses hörte sie nichts, obwohl die Lichter an waren. Der schwache Geruch von Kaffee wehte zu ihr herüber. Vielleicht war der Mann ein Fahrer, der eine Lieferung vorbeigebracht hatte und vom Koch ins Haus gelassen worden war. Aber wo war er und warum hörte sie keine Stimmen?

Auf Zehenspitzen ging Cassie in die Küche, fand dort aber niemanden vor.

Sie entschied sich, nach den Kindern zu sehen und sicherzugehen, dass es ihnen gutging. Dann würde sie Ms. Rossi wecken und ihr erklären, was sie gesehen hatte. Möglicherweise war es falscher Alarm, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Vor allem da der Mann einfach so verschwunden war.

Ohne die Schuhabdrücke hätte Cassie geglaubt, sich den hinterhältigen Mann eingebildet zu haben, so flüchtig war ihr Blick auf ihn gewesen.

Sie joggte die Stufen hinauf und ging dann in Richtung der Schlafzimmer der Kinder.

Doch bevor sie dort ankam, blieb sie abrupt stehen und schlug sich die Hand über den Mund, um ihren Aufschrei zu ersticken.

Dort war der Mann – eine schmale, schwarz gekleidete Figur.

Er stand vor Ms. Rossis Schlafzimmer und griff mit der linken Hand nach dem Türgriff.

Sie konnte seine rechte Hand nicht sehen, weil er sie vor dem Körper hielt. Aber von ihrem Blickwinkel aus schien er offensichtlich etwas in der Hand zu halten.

KAPITEL ACHT

Cassie, die eine Waffe brauchte, griff nach dem erstbesten Gegenstand, den ihre panischen Augen erblickten – eine Bronze-Statuette, die auf dem Beistelltisch neben den Treppen gestanden hatte.

Dann rannte sie auf ihn zu. Sie hatte das Element der Überraschung auf ihrer Seite; er würde nicht in der Lage sein, sich rechtzeitig umzudrehen. Sie würde ihm die Statuette gegen den Kopf schlagen – und dann auf seine rechte Hand, um ihn zu entwaffnen.

Cassie stürzte nach vorne. Er drehte sich, das war ihre Chance. Sie hob ihre provisorische Waffe nach oben.

Dann, als er sich zu ihr umdrehte, kam sie schleudernd zum Stehen. Ihr überraschter Aufschrei wurde von seinem wütenden Ausruf überdeckt.

Der kleine, schmale Mann trug einen großen Kaffeebecher in der Hand.

„Was zum Teufel?“, rief er.

Cassie ließ die Statue sinken und starrte ihn ungläubig an.

„Hattest du vor, mich anzugreifen?“, tobte der Mann. „Bist du von Sinnen? Ich habe fast den Becher fallen lassen.“

Er betrachtete den Kaffeebecher in seiner Hand, dessen Inhalt durch die Öffnung im Deckel und auf seine Hand gespritzt war. Einige Tropfen waren auf dem Boden gelandet. Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und beugte sich nach vorne, um sie aufzuwischen.

Cassie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er sah makellos zurechtgemacht aus. Sein braunes Haar war perfekt gestuft und sein Bart kurz geschnitten. Sie glaubte, einen australischen Akzent in seiner Stimme zu hören.

Er richtete sich wieder auf und starrte sie an.

„Wer bist du?“

„Cassie Vale, das Au-Pair. Wer bist du?“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Seit wann? Du warst doch gestern noch nicht hier.“

„Ich wurde gestern Nachmittag eingestellt.“

„Signora hat dich eingestellt?“

Die Betonung lag auf dem ‚dich‘ und er betrachtete sie mehrere Augenblicke lang, in denen Cassie sich immer unangenehmer fühlte. Sie nickte wortlos.

„Verstehe. Nun, mein Name ist Maurice Smithers und ich bin Ms. Rossis persönlicher Assistent.“

Cassie öffnete den Mund. Er passte nicht in ihr Bild eines persönlichen Assistenten.

„Warum hast du dich ins Haus geschlichen?“

Maurice seufzte.

Das Schloss der Eingangstür ist bei kaltem Wetter nur schwer zu öffnen. Es macht unglaublichen Lärm und ich möchte niemanden stören, wenn ich frühzeitig ankomme. Also komme ich durch die Hintertür, die leiser ist.“

„Und der Kaffee?“

Cassie betrachtete den Becher und war von der seltsamen Erscheinung des Mannes und seiner angeblichen Rolle noch immer wie geblendet.

„Der stammt aus einer kleinen Kaffeerösterei in der Nachbarschaft. Signora trinkt ihn am liebsten. Ich bringe ihr immer einen Becher mit, wenn wir Morgenmeetings haben.“

„So früh?“

Obwohl ihr Ton anschuldigend war, fühlte sich Cassie beschämt. Sie hatte sich als Heldin geglaubt, die in den besten Interessen ihrer Arbeitgeberin und deren Kinder handelte. Jetzt begriff sie, einen ernsthaften Fehler gemacht und es sich mit Maurice verdorben zu haben. Als ihr persönlicher Assistent war dieser offensichtlich eine einflussreiche Person in Ms. Rossis Leben.

Ihre Visionen eines zukünftigen Praktikums kamen ihr plötzlich viel unsicherer vor. Cassie wollte nicht einmal daran denken, dass ihr eigenes törichtes Handeln bereits ihren Traum komprimiert haben könnte.

„Wir haben einen vollen Tag vor uns und Ms. Rossi beginnt gerne früh. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich ihr nun gerne den Kaffee geben, bevor er kalt wird.“

Er klopfte respektvoll an der Tür, die einen Augenblick später geöffnet wurde.

Buongiorno, Signora. Wie geht es Ihnen heute Morgen?“

Ms. Rossi war angezogen und perfekt zurechtgemacht. Sie trug heute ein anderes Paar Stiefel; sie waren kirschrot und mit großen, silbernen Schnallen besetzt.

Molto bene, grazie, Maurice.“ Sie nahm ihm den Kaffee ab.

Italienische Höflichkeiten schienen zu jeder Unterhaltung dazuzugehören, bevor diese ins Englische überging, bemerkte Cassie, als Maurice weitersprach.

„Es ist kühl draußen. Soll ich die Heizung im Arbeitszimmer andrehen?“

Bisher hatte Cassie nicht gewusst, dass Maurice lächeln konnte, aber sein Gesicht verzog sich nun zu einem unterwürfigen Grinsen, als sprudele er über vor Verlangen, ihr zu gefallen.

„Wir werden nicht lange dort sein, ich bin mir sicher, dass die Temperatur angemessen ist. Bringen Sie meinen Mantel, ja?“

„Natürlich.“

Maurice nahm den fellbesetzten Mantel vom Holzständer neben der Schlafzimmertür. Er folgte ihr dicht und begann, angeregt zu plaudern.

„Warten Sie nur, bis Sie hören, was wir für die Fashion Week in der Pipeline haben. Wir hatten gestern ein fantastisches Meeting mit dem Team in Frankreich. Ich habe die Sitzung selbstverständlich aufgenommen, aber ich habe außerdem eine Zusammenfassung vorbereitet.“

Cassie realisierte, dass Ms. Rossi kein einziges Wort zu ihr gesagt hatte. Sie musste ihre Anwesenheit registriert haben, doch ihre ganze Aufmerksamkeit hatte Maurice gegolten. Nun waren die beiden auf dem Weg ins Büro, wo Cassie am Tag zuvor interviewt worden war.

Sie glaubte nicht, dass Ms. Rossi sie absichtlich ignorierte – zumindest hoffte sie das. Sie schien vielmehr von ihrer Arbeit abgelenkt zu sein und hatte ihren Fokus auf den bevorstehenden Arbeitstag gerichtet.

„Ich habe die Verkaufszahlen der letzten Woche und die Antwort der indonesischen Zulieferer.“

„Ich hoffe, es sind gute Nachrichten“, sagte Ms. Rossi.

„Ich denke, ja. Sie wollen mehr Informationen, aber es klang positiv.“

Maurice schien geradewegs um Ms. Rossi herumzuschwänzeln und Cassie hatte keine Ahnung, ob er sie unabsichtlich oder bewusst ignorierte. Vielleicht wollte er ihr zeigen, wie viel wichtiger er in ihrem Leben war als Cassie.

Sie folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand ins Büro und wartete auf eine Lücke in der Unterhaltung, um nach dem Tagesablauf der Kinder zu fragen.

Doch bald wurde ihr klar, dass es keine Lücke geben würde. Sie hatten die Köpfe über Maurices Laptop zusammengesteckt und beachteten Cassie nicht. Sie war sich immer sicherer, dass Maurice sie absichtlich ignorierte. Schließlich wusste er von ihrer Anwesenheit.

Sie überlegte, das Gespräch zu unterbrechen, war aber zu nervös. Die beiden schienen so konzentriert zu arbeiten und Cassie wollte Ms. Rossi nicht wütend machen. Vor allem nachdem die Unterhaltung, die sie am Vortag belauscht hatte, bewiesen hatte, wie schnell die Geschäftsfrau überkochen konnte.

Sie war überschwänglicher Freude gewesen, von der einflussreichen Frau eingestellt und gelobt worden zu sein. Heute fühlte es sich an, als existiere sie in ihren Augen gar nicht.

Als sie sich wegdrehte, fühlte sich Cassie entmutigt und unsicher. Sie versuchte, die negativen Gedanken von sich wegzuschieben und erinnerte sich ausdrücklich daran, welche Rolle sie hatte. Sie war hier, um nach den Kindern zu sehen, nicht, um die Aufmerksamkeit Ms. Rossis an sich zu reißen, wo diese doch offensichtlich beschäftigt war. Hoffentlich kannten Nina und Venetia ihre Pläne für den Tag.

Doch als Cassie die Zimmer der Mädchen aufsuchte, waren diese leer. Beide Betten waren tadellos gemacht und die Zimmer aufgeräumt. Mit der Vermutung, die beiden beim Frühstück anzutreffen, ging Cassie in die Küche und war erleichtert, sie tatsächlich dort vorzufinden.

„Guten Morgen, Nina und Venetia“, sagte sie.

„Guten Morgen“, antworteten die Mädchen höflich.

Nina saß auf einem Stuhl, während Venetia ihr gerade einen Pferdeschwanz band. Cassie vermutete, dass Nina zuvor dasselbe für ihre Schwester getan hatte, denn deren Haar war bereits ordentlich nach hinten gebunden.

Beide Mädchen trugen weiß-pinke Schuluniformen. Auf dem Tresen standen Toast und Orangensaft.

Cassie war beeindruckt, wie die beiden als Team zu funktionieren schienen. Bisher hatte sie eine harmonische Beziehung erlebt, in der es weder Neckereien noch Streitereien zu geben schien. Da die Mädchen fast gleichalt waren, schienen sie sich mehr wie Zwillinge zu verhalten.

„Ihr beide seid prima organisiert“, sagte Cassie bewundernd. „Ihr scheint gut darin zu sein, nach euch selbst zu sehen. Kann ich euch etwas für euren Toast bringen? Was esst ihr normalerweise? Marmelade, Käse, Erdnussbutter?“

Cassie war sich nicht sicher, was die Küche hergab, vermutete aber, dass die Grundnahrungsmittel vorhanden waren.

„Ich mag meinen Toast einfach mit Butter“, sagte Nina.

Cassie nahm an, dass Venetia ihrer Schwester zustimmen würde. Doch das jüngere Mädchen betrachtete sie interessiert, als zöge sie die Vorschläge in Erwägung. Dann sagte sie: „Marmelade, bitte.“

„Marmelade? Kein Problem.“

Cassie öffnete mehrere Schränke, bis sie die Aufstriche fand. Sie standen weit oben – zu hoch für die Kinder.

„Es gibt Erdbeer- und Feigenmarmeladen. Was hättest du gerne? Ansonsten gibt es noch Nutella.“

„Erdbeere, bitte“, sagte Venetia höflich.

„Wir dürfen kein Nutella essen“, erklärte Nina. „Das ist nur für besondere Gelegenheiten.“

Cassie nickte. „Das macht Sinn, wo es doch so köstlich ist.“

 

Sie gab Venetia die Marmelade und setzte sich.

„Was habt ihr heute vor? Ihr scheint bereit für die Schule zu sein. Muss ich euch dort hinbringen? Wann beginnt der Unterricht und kennt ihr den Weg?“

Nina schluckte ihren Toast herunter.

„Unterricht beginnt um acht und endet heute um halb drei, da wir noch Gesangsunterricht haben. Aber wir haben einen Fahrer, Giuseppe, der uns hinbringt und abholt.“

„Oh.“

Cassie konnte ihre Überraschung nicht verstecken. Der Tagesablauf der Kinder war organisierter, als sie es erwartet hatte. Sie fühlte sich überflüssig und machte sich Sorgen, Ms. Rossi könnte realisieren, ohne sie klarzukommen und sie gar nicht für drei Monate zu brauchen. Sie musste sich nützlich machen. Hoffentlich würde sie den Mädchen nach der Schule bei ihren Hausaufgaben helfen können.

Während sie über diese Strategie nachdachte, stand Cassie auf, um sich Kaffee zu machen.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass die Mädchen ihr Frühstück beendet hatten.

Nina stellte die Teller und Gläser in die Spülmaschine, während Venetia einen der Hocker zum Schrank gezogen hatte. Sie kletterte darauf und streckte ihren Arm aus, um das Marmeladenglas zurück zu stellen.

„Keine Sorge, ich mach das.“

Venetia wirkte wackelig auf dem Hocker und Cassie eilte zu ihr, um ein Desaster zu verhindern.

„Ich kann das.“

Venetia hielt das Glas fest in den Händen und weigerte sich, Cassies Hilfe anzunehmen.

„Es ist kein Problem, Venetia. Ich bin größer.“

„Ich muss das machen.“ Das kleine Mädchen klang angespannt, fast schon verzweifelt, es selbst zu tun.

Während Cassie nervös hinter ihr stand, um sie im Notfall aufzufangen, stellte Venetia auf Zehenspitzen das Marmeladenglas zurück ins Regal. Sie schob es genau dorthin, wo es sich auch zuvor befunden hatte.

„Gut gemacht“, lobte Cassie sie.

Sie nahm an, dass die erbitterte Unabhängigkeit ein Teil des Charakters und der Erziehung des Mädchens sein musste. Es kam ihr ungewöhnlich vor, aber sie hatte auch noch nie für eine derartige Familie gearbeitet.

Sie sah zu, wie Venetia den Stuhl zurück an seinen Platz manövrierte. Mittlerweile hatte Nina die Butter zurück in den Kühlschrank und das Brot in seine Box gelegt. Die Küche sah makellos aus, als wäre darin kein Frühstück gegessen worden.

„Giuseppe wird bald hier sein“, erinnerte Nina ihre Schwester. „Wir müssen unsere Zähne putzen.“

Sie verließen die Küche und gingen nach oben in ihre Zimmer. Cassie sah ihnen begeistert nach. Fünf Minuten später kehrten die Mädchen samt Schultaschen und Mänteln zurück und gingen nach draußen.

Cassie folgte ihnen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, doch ein weißer Mercedes fuhr bereits vor. Einige Augenblicke später hielt er in der kreisrunden Einfahrt und die Mädchen kletterten in den Wagen.

„Auf Wiedersehen“, rief Cassie winkend. Doch die Mädchen konnten sie nicht gehört haben, da sie nicht zu reagieren schienen.

Im Haus entdeckte Cassie, dass Ms. Rossi und Maurice ebenfalls gegangen waren. Die anderen Hausangestellten schienen auch nicht im Dienst zu sein.

Cassie war ganz alleine.

„Das ist nicht, was ich erwartet habe“, sagte sie zu sich selbst.

Das Haus war sehr still und darin allein zu sein, fühlte sich seltsam an. Sie hatte angenommen, weit mehr zu tun zu haben und mehr in das Leben der Kinder involviert zu werden. Es fühlte sich an, als würde sie wahrhaftig nicht gebraucht werden.

Sie versuchte, sich zu versichern, dass es noch früh war und sie für die Zeit dankbar sein sollte. Vermutlich war dies nur die Ruhe vor dem Sturm; sobald die Kinder wieder zuhause waren, hätte sie bestimmt genug zu tun.

Cassie entschied sich, den Hinweis weiterzuverfolgen, den sie am Vortag erhalten hatte. Der unerwartet freie Morgen war möglicherweise ihre einzige Chance, Jacquis Aufenthaltsort herauszufinden.

Sie hatte nicht viel, lediglich den Namen einer Stadt.

Aber sie war entschlossen, damit klarzukommen.

*

Im W-LAN des Hauses verbrachte Cassie eine Stunde damit, die Stadt kennenzulernen, in der Jacqui gelebt hatte – oder zumindest hatte sie das dem Bartender Tim vor einigen Wochen erzählt.

Bellagio war eine kleine Stadt, was ihr zugunsten kam. In einem kleinen Ort gab es weniger Hostels und Hotels und die Menschen kannten einander besser. Eine hübsche, amerikanische Frau würde auffallen.

Ein weiterer Vorteil war, dass es sich um ein beliebtes Reiseziel handelte. Bellagio war ein malerischer Ort am Comer See, der fantastische Aussichten, Shops und Restaurants zu bieten hatte.

Während ihrer Recherche versuchte sie, sich auszumalen, wie das Leben in dieser Stadt wohl sein mochte. Ruhig, malerisch, im Hochsommer voller Touristen. Sie stellte sich Jacqui vor, wie sie möglicherweise in einem kleinen Hotel oder einer Mietswohnung lebte. Vermutlich ein kleines Zuhause mit Blick über die Pflastersteinstraßen, von einer steilen Steintreppe aus zu erreichen. Mit einem Fensterkasten voller bunter Blumen.

Cassie verbrachte zwei Stunden damit, sich mit dem Ort vertraut zu machen. Sie erstellte eine umfangreiche Liste der Backpacker Lodges und Hostels, inklusive zahlreichen Airbnbs sowie den Agenturen für Mietwohnungen. Sie wusste, dass sie vermutlich einige Unterkünfte übersehen hatte, hoffte aber, gute Chancen zu haben.

Dann war es Zeit, die Anrufe zu tätigen.

Ihr Mund war trocken. Die Liste zusammenzustellen, hatte ihr Hoffnung gemacht. Jeder Name und jede Nummer präsentierten eine neue Chance. Jetzt würden ihre Hoffnungen nacheinander wieder zerschlagen werden, während die Liste der Unterkünfte immer kleiner wurde.

Cassie wählte die erste Nummer, ein Gästehaus im Stadtzentrum.

„Hallo“, sagte sie. „Ich bin auf der Suche nach einer Frau mit dem Namen Jacqui Vale. Sie ist meine Schwester. Ich habe mein Handy verloren und kann mich nicht daran erinnern, wo sie unterkommen wollte. Ich bin jetzt selbst in Italien und würde mich gerne mit ihr treffen.“

Obwohl das nicht der Wahrheit entsprach, hatte Cassie sich für diesen plausiblen Grund für ihren Anruf entschieden. Sie wollte nicht ihre lange und komplizierte Geschichte erzählen, da sie fürchtete, Ungeduld oder gar Argwohn zu verursachen.

„Sie hat möglicherweise unter dem Namen Jacqueline gebucht. Das müsste innerhalb der letzten zwei Monate gewesen sein.“

„Jaqueline?“ Kurz war es still und Cassies Herzschlag beschleunigte sich.

Dann zerbarsten ihre Hoffnungen, als die Frau antwortete: „Wir hatten keine Gäste mit diesem Namen.“

Cassie bemerkte schnell, wie aufwendig und frustrierend ihr Vorhaben war. Einige der Gästehäuser weigerten sich, ihr aufgrund von Datenschutzgründen weiterzuhelfen. Andere waren beschäftigt und wollten zu einem anderen Zeitpunkt kontaktiert werden.

Sie arbeitete ihre Liste ab, bis sie fast das Ende erreicht hatte. Nur drei Nummern verblieben, danach würde sie aufgeben müssen.

Sie wählte die drittletzte Nummer, frustriert, als verspotte Jacqui sie mit ihrer Ausweichlichkeit.

Posso aiutarti?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Cassie hatte gelernt, dass dieser Ausdruck ‚Kann ich Ihnen helfen?‘ bedeutete, doch der Mann klang überhaupt nicht, als wolle er das tun. Sein Ton war ungeduldig und gestresst, als hätte er einen schlechten Tag hinter sich. Cassie vermutete, dass er ihr aufgrund von Datenschutzgründen nicht weiterhelfen würde. Das würde er sagen, um sie aus der Leitung zu werfen, weil er Gäste hatte, die warteten oder selbst das Haus verlassen wollte.

„Ich suche nach Jacqui Vale. Sie ist meine Schwester. Ich hatte vor, mich mit ihr hier in Italien zu treffen, aber mir wurde gestern das Handy gestohlen und ich kann mich nicht daran erinnern, wo sie untergekommen ist.“

Cassie hatte das Drama-Level ihrer Story erhöht und hoffte auf mehr Sympathie.

„Ich telefoniere herum, um sie ausfindig zu machen.“

Sie hörte, wie der Mann auf der Tastatur tippte.

Dann fiel sie fast von Stuhl, als er antwortete. „Ja, eine Jacqui Vale hat bei uns gewohnt. Sie war etwa zwei Wochen lang hier und ist dann in eine Wohngemeinschaft gezogen. Ich glaube, sie hat in der Nähe gearbeitet.“

Cassies Herz hüpfte. Dieser Mann kannte sie – hatte sie gesehen, mit ihr gesprochen. Das war ein großer Fortschritt in ihrer Suche.

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