Читать книгу: «Seewölfe Paket 10», страница 15
Fast im selben Augenblick fiel ein zweiter Schuß. Numil hatte die Muskete, die er auf der Kuhl erbeutet hatte, hochgerissen und mit dem Kolben gegen seine rechte Schulter gestemmt. Er stand hinter einem Backbordgeschütz und hatte geistesgegenwärtig auf den französischen Piraten gezielt. Jetzt raste die Musketenkugel auf Henri zu. Während Andai sich durch einen tigerhaften Satz nach links in Deckung warf, beging Henri den großen, folgenschweren Fehler, sich nicht um einen Zoll von seinem Platz im offenen Achterdecksschott wegzurühren.
Die Kugel traf seine Brust und warf ihn zurück. Sein Körper prallte gegen den des nachdrängenden Piraten. Dieser Mann strauchelte und fiel, rapptelte sich aber flink wieder auf.
„Henri“, stammelte er entgeistert. „Teufel, was …“
Er sprach nicht weiter, denn er hatte jetzt den feuchten Fleck auf Henris Brust ertastet und spürte, daß jegliches Leben aus dem Leib des Kumpanen gewichen war.
Mit einem mörderischen Fluch sprang er zum offenen Schott vor.
Die anderen beiden Freibeuter aus der Mannschaftsmesse hatten sich derweil bis ins Vorschiff vorgearbeitet und trafen jetzt gerade Anstalten, dieses durch genau dasselbe Schott zu verlassen, das vorher auch die Insulaner benutzt hatten.
Moho feuerte seine Muskete auf Henris Kumpan ab, der gerade in dem offenen Schott der Poop erschien. Es nutzte diesem Franzosen nichts mehr, daß er sich auf die Planken warf. Die Kugel traf seinen Kopf. Er hatte die Gefahr, der er sich hatte stellen wollen, unterschätzt.
Hauula stieß einen Warnlaut aus.
Die Männer von Hawaii fuhren daraufhin zum Vordeck herum. Buchstäblich im letzten Augenblick konnten sie sich hinter dem Beiboot und den Geschützen verstecken und sich so vor den Kugeln schützen, die die zwei Freibeuter vom Vordecksschott aus auf sie abfeuerten.
Andai und ein anderer Insulaner rollten sich aus ihren Deckungen hervor und schossen aus zwei Pistolen, die sie vorher den Bordwachen abgenommen hatten, zurück, ehe die Piraten ihre leergeschossenen Musketen mit ihren Pistolen vertauschen konnten.
Der eine Franzose brach getroffen zusammen und blieb halb auf dem Niedergang, halb auf den Planken der Kuhl liegen. Sein Mitstreiter schrie auf, warf sich herum und ergriff die Flucht.
Zwei Polynesier hetzten ihm nach und waren im Vordeck verschwunden, bevor Andai sie daran hindern konnte.
Andai blickte zu den Stammesbrüdern, die sich mit dem Beiboot beschäftigt hatten. „Schnell, hievt das Boot hoch!“ rief er ihnen zu. „Wir müssen fort, ehe die anderen Kerle über uns herfallen! Gegen sie können wir uns nicht behaupten!“
Flüche in der Sprache der Freibeuter hallten vom Wasser der Lagune zu ihnen herüber.
Mara, die einen Blick über das Steuerbordschanzkleid riskiert hatte, fuhr erschrocken zu den ihren herum und sagte: „Das Boot! Es ist uns jetzt sehr nahe!“
„Andai“, stieß Hauula hervor. „Die Kanonen – sind sie nicht geladen?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Und keiner von uns kann mit diesen Geschützen umgehen.“
Im Inneren des Schiffes krachte dumpf ein Pistolenschuß. Moho lief zum Vordecksschott, gefolgt von zwei anderen jungen Männern. Hauula hastete plötzlich auf das Kombüsenschott zu, das dicht daneben lag, riß es auf und tauchte in dem stockfinsteren Rechteck der Öffnung unter.
Andai verfolgte es verstört und wußte nicht, ob er das Mädchen zurückholen oder gewähren lassen sollte. Er stand für einen Moment recht ratlos da, wandte sich dann aber den übrigen Männern und jungen Frauen zu, die jetzt mit vereinten Kräften das Beiboot der Galeone hochhievten, indem sie die Zugtaue Hand über Hand durchholten. Die Taue liefen durch Taljen, die an der Großrah und der Fockrah befestigt waren. Langsam hob sich die Jolle.
Andai warf wieder einen Blick zum Vordeck und atmete auf, als er Moho und gleich darauf auch die anderen vier Stammesbrüder aus dem Schott stürmen sah. Moho gab durch eine Gebärde zu verstehen, daß der kurze Kampf gegen den vierten Mann der Wachablösung erfolgreich verlaufen war – zugunsten der Polynesier.
Hauula erschien mit einemmal auch wieder auf der Kuhl. Sie trug ein kleines, stark abgeflachtes Metallbecken in ihren Händen, balancierte es vorsichtig vor sich her und transportierte es zu dem ersten Steuerbordgeschütz der Piratengaleone.
Andai sah die Holzkohlenglut darin glimmen und begriff, was das Mädchen vorhatte. Wieder erstaunte es ihn, welche Tapferkeit Hauula an den Tag legte. Er lief zu ihr, half ihr, das Kohlebecken neben der Geschützlafette abzusetzen und griff dann instinktiv zu dem Luntenstock mit der Zündschnur, der mit dem anderen Zubehör der Kanone neben der Lafette bereitlag.
Hauula wies auf das Kohlebecken. „Ich habe es auf dem Kombüsenherd vorgefunden“, erklärte sie. „Die Piraten müssen es dort für alle Fälle bereitgehalten haben.“
„Und du meinst wirklich, daß die Kanone geladen ist?“ fragte Andai atemlos.
„Versuchen wir es wenigstens.“
Schüsse peitschten in der Lagune auf, Feuerblitze waren zu sehen. Andai und das Mädchen zogen augenblicklich die Köpfe ein. Die Jolle mit Grand Duc und den drei anderen Piraten darin – soviel hatte Andai durch einen raschen Blick über das Schanzkleid eben noch sehen können – war der Galeone wirklich bedrohlich nahe.
Andai deutete auf die Stückpforte. „Wir müssen diese Klappe öffnen, glaube ich. Hilf mir.“ Er zerrte an der Verriegelung der Pforte.
Numil und Moho glitten heran, um ihnen bei dem Vorhaben zu helfen.
Die anderen Polynesier hatten das Beiboot jetzt über das Backbordschanzkleid hinausbefördert und begannen, es in Lee abzufieren.
Heftiger strich der ablandige Wind über das Deck der Galeone.
Wieder fiel in der heranschwimmenden Jolle ein Schuß, und diesmal glaubte Andai die Kugel haarscharf über seinen Kopf hinwegpfeifen zu hören.
Er hatte die Verriegelung der Stückpforte gelöst. Numil zog sie vermittels des dazugehörigen Tampens auf, und sie konnten jetzt durch die Öffnung genau auf die Jolle mit den vier Seeräubern blicken.
Hauula und Moho mühten sich damit ab, das Rohr der Kanone zu senken und sie in Feuerstellung zu bringen. Sie schafften es aber erst, als auch Andai und Numil mit zupackten.
Die Mündung des schweren 17-Pfünders richtete sich durch den Lukensüll auf die Jolle der Piraten.
Andai und seine Freunde taten dies alles zum erstenmal in ihrem Leben, aber sie wußten in etwa, wie sie mit der Culverine umzugehen hatten, denn Thomas Federmann hatte es ihnen zumindest theoretisch beigebracht. Der Erfolg, den sie mit den Handfeuerwaffen im Kampf gegen die Piraten zu verzeichnen gehabt hatten, bestärkte sie in ihrem Unternehmen.
Ehe die Jolle sich noch näher an den Segler heranschieben konnte, hatte Andai die Lunte in der glühenden Holzkohle entfacht und senkte den Stock auf das Bodenstück der Culverine. Hauula, Moho und Numil wichen zu den Seiten fort und hielten die Hände gegen die Ohren.
Andai sah, wie die Glut von der Lunte auf das Pulver im Zündkanal des Bodenstückes übersprang, und hörte es vernehmlich knistern. Dann rückte auch er aus der unmittelbaren Nähe des Geschützes fort – keinen Augenblick zu spät.
Das Wummern der Explosion war ohrenbetäubend, Andai schützte seinen Kopf mit den Händen, weil er glaubte, die Culverine würde ihnen nun um die Ohren fliegen. Hauula stieß einen Schreckensschrei aus. Numil verlor vor lauter Aufregung das Gleichgewicht und stürzte auf die Planken.
Der 17-Pfünder raste auf seiner Lafette zurück und spuckte Feuer und Eisen aus. Das Deck erbebte und schien zerspringen zu wollen. Es mutete wie ein Wunder an, daß die Planken diesem höllischen Rumpeln und Zittern doch standhielten. Die Brook stoppte den Rückstoß. Plötzlich stand das Geschütz still.
Im Heulen der 17-Pfünder-Kugel war das Brüllen der Piraten in der Jolle zu vernehmen. Grand Duc und seine drei Begleiter schrien in Todesangst.
4.
Thomas Federmann grub und grub mit seinem Spaten, seine Hände hatten Blasen und waren an mehreren Stellen aufgeplatzt. Er keuchte und duckte sich unwillkürlich, als er einen mehrfachen Peitschenknall zu hören glaubte. Ließ Masot die Neunschwänzige jetzt ohne jeglichen Grund auf seinem Rükken tanzen? Hatte er die Geduld verloren? Wollte er ihn totschlagen?
Die Gespenster der Nacht schienen wieder aus dem Busch zu schlüpfen und über den entkräfteten Deutschen herzufallen. Thomas fühlte es in seinem Kopf tosen und wirbeln, wankte wieder und vernahm kaum noch die Stimme Masots, die rief: „Teufel, was ist denn da unten in der Lagune los? Was …“
Wieder knallte es – zweimal kurz hintereinander.
„Das kommt von der ‚Saint Vincent‘“, sagte Gugnot verdattert.
Und Saint Cyr stieß fassungslos aus: „Beim Donner, das hört sich ja ganz so wie ein Überfall an.“
Masot drehte sich um, lief los und rief ihnen nur noch zu: „Paßt auf diesen Hurensohn von einem Deutschen auf! Ihr büßt mir mit eurem Kopf dafür, wenn er euch entwischt!“ Mit seinen letzten Worten verschwand er bereits im Dickicht, das die kleine Lichtung umsäumte.
Thomas Federmann sank auf die Knie.
Er kauerte jetzt in der fast einen Yard tiefen Grube, die weniger das Versteck eines riesigen Schatzes als vielmehr der Ort zu sein schien, an dem er sich zur ewigen Ruhe betten würde.
Sein Grab!
„Aufstehen und weitergraben, du Satansbraten!“ schrie Saint Cyr ihn an. „Bilde dir bloß nicht ein, du könntest jetzt faulenzen, weil Masot fort ist!“
„Wird’s bald?“ rief Gugnot.
Das Grollen, das jetzt von der Lagune herauftönte, schien geradewegs den Schlünden der Finsternis zu entspringen. In einer grausigen Vision sah Thomas all die Dämonen und Teufel, die Zerberusse und Schimären, die am Tag der großen Abrechnung wohl dem Jenseits entschlüpfen mußten, um auf Erden die Apokalypse herbeizuführen.
„Das war eine von unseren Kanonen“, stieß Saint Cyr entsetzt hervor. Er drehte sich um, trat an den westlichen Rand der Lichtung und reckte in der Hoffnung, dort unten in der Lagune etwas Genaueres erkennen zu können, den Hals.
Gugnot blickte von Thomas Federmann zu Saint Cyr und von dem Kumpanen zurück zu dem erschöpften Deutschen. Er wußte plötzlich nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Sollte er Federmann hochpeitschen – oder verlangte das Geschehen in der Inselbucht ihre volle Aufmerksamkeit? Wurden sie dort gebraucht?
„Mist“, fluchte er. „Was wird hier gespielt? Was ist los, he? Was, Saint Cyr?“
„Weiß ich das? Ich sage dir nur, das war eine unsrer Culverinen, da bin ich ganz sicher. Wessen Kanonen sollten hier wohl auch sonst in die Gegend feuern?“
Thomas hockte immer noch schwitzend und entkräftet in der ausgehobenen Grube, aber sein Geist war jetzt wieder imstande, klare Gedanken zu fassen.
Nein, du bist nicht verrückt, sagte er sich, noch hat die Stunde deines Unterganges nicht geschlagen. Noch hast du eine Chance.
Er wandte den Kopf, öffnete die Augen und sah Saint Cyr und Gugnot dort drüben, keine drei Yards entfernt, am Rand der Lichtung. Blickten sie nicht über das Dickicht hinweg nach Westen – zum Inselstrand? Sie hatten ihm den Rücken zugekehrt.
Er hielt den Atem an.
Dann kroch er so vorsichtig wie möglich aus der Grube heraus.
Er robbte von dem elenden, modrig riechenden Loch fort, fühlte, wie der Hauch des drohenden Todes von ihm abglitt und schöpfte neue Hoffnung. Ein unbändiger Lebenswille beseelte ihn plötzlich. Er ahnte, was auf der „Saint Vincent“ vorgefallen war.
Er kroch weiter, immer weiter, und erreichte das schützende Gebüsch.
Saint Cyr drehte sich um, um einen prüfenden Blick auf den Gefangenen zu werfen, von dem er annahm, daß dieser nach wie vor schwer atmend und unfähig, sich zu regen, in der Grube kauerte.
Gugnot zuckte zusammen, als Saint Cyr einen heiseren Schrei ausstieß.
„Da! Er haut ab!“ rief Saint Cyr. „Verfluchter Mist, der Hund türmt! Gugnot, so tu doch was, du Idiot!“
Gugnot wirbelte herum. Saint Cyr hatte seine Muskete in Anschlag gebracht und drückte auf die Gestalt des Deutschen ab, die soeben im Dikkicht verschwand. Der Schuß blaffte über die Lichtung, aber die Kugel traf nicht.
Thomas Federmann hatte sich im Dickicht halb aufgerichtet und arbeitete sich schneller voran. Die Musketenkugel schlug hinter seinen nackten Füßen in den weichen Untergrund.
Fluchend nahmen die Piraten die Verfolgung auf.
Thomas lief um sein Leben.
Masot sah nicht, wie die 17-Pfünder-Kugel dicht bei der Jolle ins Wasser der Lagune schlug und eine mächtige Fontäne hochriß. Er wurde nicht Zeuge, wie die Woge, die sich aus der Fontäne entwickelte, auf das Boot zulief und es zum Kentern brachte. Ja, Grand Duc, Picou und die anderen beiden Freibeuter befanden sich in derart ungünstiger Position, daß die Welle ihr Fahrzeug glatt umwarf. Zu allem Übel hatten sie auch noch die Riemen eingeholt, um ihre ganze Konzentration dem Musketen- und Pistolenfeuer widmen zu können, das sie auf die Eingeborenen auf der Kuhl der „Saint Vincent“ eröffnet hatten – und so verfügte die Jolle über weitaus weniger Stabilität im Wasser als mit ausgefahrenen Riemen.
Sie kenterte also, und Grand Duc, Picou und die anderen beiden landeten in den Fluten. Das Naß erstickte ihre lästerlichen Verwünschungen, und sie konnten heilfroh sein, daß sie nicht von dem niedersausenden Dollbord getroffen und erschlagen wurden.
Sie strampelten unter Wasser mit den Beinen und tauchten wieder auf, und Grand Duc fand als erster die Sprache wieder.
„Wir schwimmen“, keuchte er. „Wir schwimmen zum Schiff und entern und bringen sie alle um.“
Er zog sein Entermesser aus dem Gurt und schob sich die Klinge zwischen die Zähne. Er verging fast vor Wut auf die Feinde, schloß kurz die Augen, öffnete sie wieder und glitt mit weit ausholenden, kräftigen Zügen auf die Galeone zu. Picou und die anderen folgten seinem Beispiel.
Sie rechneten damit, von einem zweiten Kanonenböller empfangen zu werden. Deshalb hatte Grand Duc nichts Eiligeres zu tun, als sich und seine Mannen in die Nähe der schwarz aufragenden Bordwand zu bringen. Dort befanden sie sich im toten Schußwinkel – zumindest, was die Culverinen betraf. Mit Musketen und Tromblons und Pistolen konnten die Gegner immer noch auf sie feuern.
Grand Duc erreichte die Bordwand und stellte in ohnmächtigem Zorn fest, daß die Jakobsleiter, die hier vorher heruntergebaumelt hatte, jetzt verschwunden war.
Er trat Wasser und überlegte krampfhaft, was zu tun sei. Wie sollten sie entern, wenn sie keine Taue und Haken zur Verfügung hatten?
Es gab nur noch eine vernünftige, wenn auch zeitraubende Möglichkeit, an Bord der Galeone zu gelangen. Er mußte bis zum Ruder schwimmen und daran hochklimmen.
Grand Duc zögerte nicht. Er schwamm weiter, gelangte an das Heck des Dreimasters, tastete sich an das Ruderblatt, umklammerte es, holte zwischen seinen Zähnen und der dazwischen festgeklemmten Entermesserklinge ein paarmal tief Luft und kletterte dann hoch, dem Hennegat und dem Rudersteven entgegen.
Masot hatte derweil den Inseldschungel hinter sich gebracht und stürmte unter Palmen, die stark vom Ostwind gekrümmt wurden, auf den Strand zu.
Er sah jetzt endlich die Lagerfeuer, die ziemlich weit heruntergebrannt waren, und erkannte die Gestalten seiner Leute. Vergebens suchte er mit dem Blick nach Grand Duc.
Die Piraten standen dicht bei der Brandung und hielten die Augen auf die Lagune und die „Saint Vincent“ gerichtet. Stumm waren sie jetzt, betreten wirkte ihre Körperhaltung, alles Grölen und Singen und Trinken und Witzereißen war vergessen.
An einer der größten Kokospalmen hing der hölzerne Käfig mit dem Tau. Zegú, der König von Hawaii, hatte sich in seinem Verlies aufgerichtet, hielt die Gitterstäbe mit den Händen umschlossen und sah unverwandt zu der Galeone hinüber.
„Pele, Pele“, murmelte er immer wieder. „Feuerspeiende Göttin der Vulkane, hilf meinen Brüdern und Schwestern, daß sie entkommen. Um mein Leben ist es nicht schade, mir ist nicht mehr daran gelegen, dieses Eiland zu verlassen, aber sie sind alle noch jung, sie sind die Zukunft unserer Heimat, Pele.“
Masot langte schwer atmend bei seinen Männern an. Er spähte über ihre Schultern und sah jetzt undeutlich etwas im Wasser – nicht weit von der Galeone entfernt. Wellenringe liefen in der Nähe des seltsamen Gegenstandes auseinander oder leckten über ihn weg.
„Was ist das?“ brüllte Masot seine Meute an. „Das dort – was in aller Welt ist das für eine Teufelei?“
„Das ist unsere Jolle“, sagte einer der Kerle.
Masot stieß einen japsenden Laut aus, rang nach Luft. „Sie ist …“
„Gekentert“, sagte ein beherzter Freibeuter. Und er berichtete Masot auch gleich das, was sich seit dem ersten Schuß an Bord der „Saint Vincent“ ereignet hatte.
Masot taumelte und suchte nach einem Halt. „Das kann nicht sein. Die dreckigen Hunde, die braunen Bastarde – sie sind ausgebrochen und jetzt – jetzt wollen sie mit unserem Schiff türmen?“ Er blickte sich wild nach allen Seiten um. „Ein Boot! Ich brauche sofort ein Boot!“
„Die zweite Jolle befindet sich noch an Bord der ‚Saint Vincent‘“, sagte der Kerl. „Folglich sind uns die Hände gebunden, Masot.“
„Nein!“ schrie Masot. „Lieber schwimme ich zu meinem Schiff, als daß ich dastehe und tatenlos zusehen muß, wie …“
Er brach ab, um sich seinen Rock vom Leib zu reißen.
„Moment, da entert jemand am Ruder der ‚Saint Vincent‘ auf“, sagte plötzlich einer der Piraten. „Hölle, ich verwette meinen Kopf darauf, daß es Grand Duc ist!“
„Stimmt!“ pflichtete ihm sofort ein anderer Kerl bei. „Und Picou ist dicht hinter ihm.“
Die Freibeuter sprachen plötzlich durcheinander.
„Sie sind also nicht ertrunken!“
„Sie leben – alle vier!“
„Sie schaffen es!“
„Still“, zischte Masot. „Wollt ihr die Kanaken etwa warnen, ihr Satansbraten? Grand Duc hat einen Überraschungsangriff auf sie vor – und den führt er auch radikal durch, das kann ich euch versichern. Schweigt, damit die braunen Hurensöhne nichts von dem, was er plant, merken.“
Er trat ein paar Schritte nach rechts, senkte sein bärtiges Haupt und sah angestrengt zur Galeone hinüber. „Grand Duc, mein ganzer Dank gebührt dir, wenn du es fertigbringst, die ‚Saint Vincent‘ zurückzuerobern“, sagte er. „Und du kannst es. Ich weiß, daß du es kannst. Nur zu, Freund, zeig es diesen Bastarden, wie du mit ihnen umspringst.“
Langsam drehte er sich zu Zegú um, der immer noch aufrecht in seinem hängenden Holzkäfig stand. „Und mit dir“, flüsterte Masot. „Mit dir rechne ich nachher noch gründlich ab. Du hast deine Leute aufgewiegelt, als du noch an Bord der ‚Saint Vincent‘ warst. Nur weil du es ihnen befohlen hast, haben sie diesen Ausbruch gewagt. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber du wirst dafür büßen.“
Er hob die Faust und schüttelte sie zu Zegú hinüber.
Zegú maß ihn mit einem so kalten und verächtlichen Blick, daß Masot am liebsten seinen Schiffshauer gezückt und ihn damit umgebracht hätte.
5.
Die „Isabella“ krängte schwer nach Steuerbord. Mit Backbordhalsen hoch am Wind segelnd, hielt sie den vom Seewolf befohlenen Südkurs, aber es wurde für Rudergänger Pete Ballie und die Deckswache, die die Segelmanöver durchzuführen hatte, immer schwerer, nicht davon abzuweichen.
„Sir!“ rief Carberry von der Kuhl zum Quarterdeck hoch. „Mir scheint, der Wind dreht noch weiter und pfeift uns gleich aus Südosten entgegen!“
Der Seewolf hatte Pete Ballie im Ruderhaus einen kurzen Besuch abgestattet, jetzt trat er wieder aufs Quarterdeck hinaus und hielt mit nachdenklicher Miene die Nase in den Wind.
„Ja“, sagte er. „Donegal behält also doch recht mit seiner Vorhersage. Und auch der Rest wird wohl zutreffen.“
„Wir kriegen Sturm!“ rief Siri-Tong vom Achterdeck her.
„Ben, Ed!“ schrie der Seewolf. „Laßt vorsorglich die Manntaue spannen und haltet die Sturmsegel bereit!“
„Aye, aye, Sir!“
Hasard wandte sich zum Ruderhaus um und sagte im zunehmenden Heulen des Windes: „Pete, abfallen! Ruder etwas Steuerbord!“
„Abfallen, Sir“, wiederholte Pete Ballie. Das Rad drehte sich unter seinen schwieligen Händen. „Ruder liegt etwas Steuerbord.“
„Abfallen“, gab Ben Brighton, der auf dem Backbordniedergang zur Kuhl stand, den Befehl weiter. Die Crew bestätigte ihn.
„Sir!“ schrie hoch über den Köpfen der Männer und der Roten Korsarin plötzlich Bill, der Moses. Er hatte sich auf seinem Posten, dem Großmars, kerzengerade aufgerichtet und wies mit der ausgestreckten Hand Steuerbord voraus. „Ich sehe Licht! Steuerbord voraus!“
Hasard und alle anderen auf den Decks fuhren herum und blickten in die von Bill angegebene Richtung. Hasard sah noch das Zucken des Feuerblitzes in der Ferne, dann hörte er trotz des Jaulens und Summens des Windes das tiefe Grollen, das über die gefurchte See heranrollte.
„Kanonendonner“, sagte er.
„Nur ein einziger Schuß, Sir!“ rief Bill. „Es scheint kein weiterer abgegeben zu werden. Aber ich habe ein paar schwächere Blitze gesehen.“
„Schwächere Blitze?“ brüllte Carberry zum Großmars hinauf. „Was zum Teufel meinst du Kakerlak damit? Drück dich gefälligst deutlicher aus, oder du kriegst es mit mir zu tun.“
Hasard war an die Querbalustrade des Quarterdecks getreten und blickte zu den Männern, die er wie schemenhafte Wesen auf der Kuhl hin und her eilen sah. Carberry stand wie ein allgewaltiger Felsen in ihrer Mitte.
„Ed!“ rief er ihm zu. „Ich schätze, es könnte sich um Musketenfeuer gehandelt haben.“
„Aber ich hab’s nicht krachen hören, Sir!“
„Der Wind heult zu laut, und die See rauscht zu stark, Ed. Wir haben nur den Kanonenböller vernehmen können.“
„Jawohl, Sir. Wir haben da also ein fremdes Schiff vor der Nase?“
„Wahrscheinlich“, erwiderte der Seewolf.
Dan O’Flynn rief: „Was denn wohl sonst, Profos? Eine Reiterschwadron mit Kanonen vielleicht – oder eine fliegende Festung?“
„Mister O’Flynn!“ brüllte Carberry, daß es von den Querwänden der Schiffskastelle widerhallte. „Es könnte immerhin angehen, daß es eine Inselfestung ist, von der aus in die Gegend geballert wird, oder? Dein schwacher Geist braucht eine zünftige Behandlung, du Stint!“
„Ruhe!“ schrie der Seewolf. „Pete, weiter abfallen. Ruder Steuerbord!“
„Ruder liegt Steuerbord, Sir!“
„Abfallen, ihr Rübenschweine!“ tönte Carberrys Stimme über die Kuhl. „Habt ihr nicht gehört? He, ihr triefäugigen Seegurken, muß ich euch erst wachrütteln, was, wie?“
„Gott bewahre uns davor“, sagte der Kutscher, der soeben die Kombüse verlassen hatte, um sich an den Manövern zu beteiligen.
Philip und Hasard, die Zwillinge, waren jetzt auch an Oberdeck und lachten hinter der vorgehaltenen Hand. Carberry gewahrte sie, brüllte sie an und scheuchte sie quer über die Kuhl, damit sie beim Spannen der Manntaue mithalfen, und ihr Lachen war jetzt wie weggewischt.
Sir John, der karmesinrote Aracanga, schrie von irgendwoher seine wüsten Flüche, und zwar auf englisch und auf spanisch. Arwenack, der Schimpanse, hatte den Großmars, wo er Bill Gesellschaft geleistet hatte, verlassen und turnte kekkernd in der Takelage herum.
Es herrschte Aufregung an Bord.
„Den Feuerblitz ansteuern, Pete!“ rief der Seewolf.
„Aye, Sir. Ich hab’s mir gemerkt, wo die Stelle war!“ rief Pete Ballie aus dem Ruderhaus zurück.
Höher türmten sich die Wellen auf, dichter ballten sich die schwarzen Wolken am Nachthimmel zusammen. Gischt sprühte am Bug und an den Bordwänden der „Isabella“ hoch und näßte die Decksplanken und die Gestalten der Männer und der schwarzhaarigen Frau.
Siri-Tong war dicht neben Hasard getreten und fragte: „Sollten wir nicht lieber die Sturmsegel setzen?“
„Noch nicht“, erwiderte er. „Ich will so viel Fahrt wie möglich laufen und den Punkt erreichen, an dem geschossen wurde.“
Die „Isabella“ segelte immer noch mit Backbordhalsen und über Steuerbordbug liegend, aber die Gefahr, daß die Segel zu killen begannen, war gebannt, denn der Wind blies jetzt zwar steif bis stürmisch aus Südost, doch der neue Kurs lag Richtung Südwesten an.
„Was meinst du?“ fragte die Rote Korsarin vorsichtig. „Ob das wohl die ‚Saint Vincent‘ gewesen sein könnte?“
Hasard wandte den Kopf und blickte sie an. „Zu solch einer Hoffnung mag ich mich nicht versteigen. Ich kann nach wie vor nur alles dem Zufall überlassen. Was immer der Anlaß für die Schüsse war, was immer wir dort im Südwesten vorfinden – ich kann erst urteilen und handeln, wenn ich weiß, mit wem ich es dort zu tun habe.“
Sie richteten beide ihren Blick voraus und warteten darauf, wieder einen Feuerblitz in der Nacht zu sehen.
Aber es fielen keine Schüsse mehr.
Die „Isabella“ kämpfte sich mit gut sieben Knoten Fahrtgeschwindigkeit durch die stark kabbelige See und schien es selbst eilig zu haben, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Grand Duc hatte es nie bedauert, daß die „Saint Vincent“ keine Heckgalerie hatte wie viele andere Segelschiffe ihrer Zeit, aber jetzt, als er triefendnaß mit dem Entermesser zwischen den Zähnen an dem riesigen Steuerruder hochkletterte, verfluchte er diese Tatsache. Eine Heckgalerie hätte sein Unternehmen wesentlich erleichtert. Er hätte sich über die Reling schwingen und in die Kapitänskammer eindringen können, um von dort aus quer durch die Hütte bis auf die Kuhl zu gelangen. So aber mußte er ganz bis zum hoch aufragenden Heck hinaufklettern.
Gewiß, er hätte eins der Bleiglasfenster der Kapitänskammer zertrümmern können, aber dieses Geräusch hätten die Insulaner zweifellos vernommen. Sie wären daraufhin sofort mit ihren Beutewaffen herbeigeeilt und hätten vom Achterdeck aus ein Zielschießen auf ihn, Grand Duc, und auf Picou und die beiden anderen Kerle veranstaltet.
Grand Duc arbeitete sich folglich vom Hennegat aus an den hölzernen Verzierungen des Schiffshecks hoch, um das Achterdeck zu erreichen. Er glitt zweimal mit den Händen ab und unterdrückte einen fürchterlichen Fluch, aber dann hatte er es endlich doch geschafft und konnte an der großen eisernen Hecklaterne vorbei über die Handleiste der Reling auf den hinteren Teil des Achterdecks entern.
Hier verharrte er geduckt.
Er hatte erwartet, daß die Polynesier wieder auf ihn und seine Kumpane schießen würden. Waren sie denn wirklich so einfältig, zu glauben, daß alle vier Piraten aus der Jolle ertrunken oder vom kenternden Boot erschlagen worden waren?
Nein. Unmöglich. Sie konnten nicht so dumm sein. Vielmehr hatten sie sich jetzt wohl gesagt, daß es klüger sei, sich still zu verhalten und den Feinden auf dem Deck der Galeone aufzulauern.
Eine Falle also.
Grand Duc wandte sich zu Picou um, der in diesem Augenblick über die Heckreling kroch. Er gab ihm ein Zeichen, sich vorsichtig zu verhalten.
Picou begriff und verständigte seinerseits die beiden anderen Piraten.
Kurz darauf bewegte sich das Quartett auf allen vieren über die Planken des Achterdecks. Grand Duc befand sich an der Spitze seines kleinen Stoßtrupps. Er hatte das Entermesser in die rechte Faust genommen. Jeden Moment rechnete er mit einem Angriff der Insulaner aus dem Hinterhalt. Er war sich im klaren darüber, daß sie den ausgebrochenen Geiseln gegenüber ohne Handfeuerwaffen auf jeden Fall unterlegen waren.
Trotzdem drang er immer weiter vor. Die Wut und der Haß, die in ihm gärten, und der draufgängerische Mut des hartgesottenen Karibik-Piraten, der vor nichts zurückschreckte, trieben ihn voran.
So langte er bei der Schmuckbalustrade an, die den Querabschluß zur Kuhl bildete.
Der Wind – jetzt aus Südosten wehend – strich pfeifend über die Insel und die Lagune und setzte dem Wasser eine kräuselnde Dünung auf. Die „Saint Vincent“ bewegte sich schwerfällig und schwojte an der Ankertrosse, ihre Blöcke und Rahen knarrten, das Wasser umspülte gurgelnd ihren Rumpf. Dies war die unheimliche Begleitmusik zu der wahrhaft gespenstischen Szene, die sich Grand Ducs Augen bot.
Er spähte zwischen zwei Pfosten der Schmuckbalustrade hindurch und konnte fünf reglose Gestalten erkennen. Vier lagen am Steuerbordschanzkleid, eine im offenen Vordeckschott. Grand Duc, dessen Augen sich ziemlich gut auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah, daß es sich nicht um Eingeborene von Hawaii, sondern um die Wachtposten des Schiffes handelte. Aus ihrer Kleidung konnte er dies eindeutig schließen.
Von den Insulanern war nichts zu entdecken.
Grand Duc beschloß, die Lage zu forcieren, sein Schicksal sozusagen herauszufordern, und richtete sich an der Schmuckbalustrade auf. So bot er etwaigen Heckenschützen seinen gewaltigen Oberkörper als Zielfläche dar.
Aber kein Schuß fiel.
Grand Duc lehnte sich etwas vor, spähte senkrecht nach unten und sah eine sechste Gestalt auf der Kuhl liegen – verkrümmt und augenscheinlich ohne einen Funken Leben im Leib. Es war einer der Piraten, die sich zur Wachablösung in der Mannschaftsmesse bereitgehalten hatten. Bis zum Achterdecksschott hatte er es geschafft, weiter nicht. Unter seinem Körper hatte sich eine dunkle Lache gebildet.
Grand Duc sah weder Picou noch die beiden anderen tropfnassen Männer neben sich. Er befand sich wie in Trance, als er jetzt zum Niedergang hinüberschlich, die Stufen hinunterstieg und auf die Kuhl trat.
Wenn sie ihn töten wollten, dann war dies die ideale Gelegenheit dazu.
Aber niemand griff ihn an, er konnte ungehindert zu dem Toten vor dem Achterdecksschott gehen und ihn einer kurzen Untersuchung unterziehen. Grand Duc konnte auch zu den vieren am Steuerbordschanzkleid hinüberwechseln und zu seinem Erstaunen registrieren, daß zwei von ihnen sich soeben bewegten und nach den Beulen an ihren Hinterköpfen tasteten, wobei sie üble Verwünschungen ausstießen. Grand Duc, Masots rechte Hand, begriff, daß alle vier nur bewußtlos geschlagen worden waren. Erst dann drehte er sich um, blickte nach Backbord und stellte fest, daß die zweite Jolle fehlte.
Nein, er hatte von seinem Boot aus nicht sehen können, wie die Insulaner die zweite Jolle hochgehievt und dann außenbords abgefiert hatten. Jetzt erst fand er die Erklärung für die lange Feuerpause, für die geisterhafte Stille, die nach dem Gefecht eingetreten war – und er stürmte zum Backbordschanzkleid.