Читать книгу: «Seewölfe Paket 10», страница 16
Keine Jakobsleiter, nur zwei Taue waren dort belegt worden. Grand Duc lehnte sich über die Handleiste und sah die Taue außenbords baumeln. Daran also waren sie hinuntergehangelt.
„Picou!“ schrie er blind vor Wut.
Er hob den Blick etwas, spähte in die tiefe Finsternis der Lagune hinaus und glaubte plötzlich, die Umrisse der davongleitenden Jolle zu erkennen. Er wußte, daß es genausogut eine Täuschung sein konnte, aber er klammerte sich an diese letzte Möglichkeit, die Tat der Gefangenen zu vergelten.
„Picou, zu mir!“ brüllte er, dann löste er sich von dem Schanzkleid, eilte nach vorn und erklomm die Back mit zwei mächtigen Sätzen. Er stürzte an die linke der beiden auf der Balustrade der Back montierten Serpentinen, und dann erschien auch Picou, der natürlich begriffen und in aller Eile das Kupferbecken mit der immer noch glimmenden Holzkohle darin von der Kuhl mitgebracht hatte. Es war das Becken, in dem Andai kurz zuvor die Lunte für den 17-Pfünder entzündet hatte.
Grand Duc drehte das leichte Geschütz in der Gabellafette und richtete die Mündung auf jenen Punkt in der westlichen Lagune, an dem er die Jolle gesehen zu haben glaubte.
Picou entfachte die Lunte, als Grand Duc die Serpentine justiert und festgeschraubt hatte. Grand Duc entriß ihm den Luntenstock und zündete die Ladung selbst.
Die Serpentine krachte und rüttelte an der Gabellafette, als wollte sie sie aus der eisernen Verankerung reißen. Im Aufzucken des Mündungsblitzes glaubten Grand Duc und Picou die Jolle mit den Flüchtigen für einen Augenblick zu erkennen, aber dann erlosch der Schein, und die Wahrnehmung ging im finsteren Nichts unter.
Rauschend stieg eine Wasserfontäne auf, aber das Bersten von Holz und die Schreie tödlich Verwundeter blieben aus.
Grand Duc feuerte auch die zweite Serpentine ab – mit dem gleichen Mißerfolg. Zwei dröhnende Schüsse waren wirkungslos in der Nacht verpufft.
„Unsere Jolle bergen“, stieß Grand Duc hervor. Seine Schläfen- und Halsadern traten beängstigend hervor, soviel vermochte Picou trotz der Dunkelheit zu sehen. „Sie aufrichten, das Wasser ausösen, an Land und die Kameraden holen. Wir müssen ankerauf gehen und diesen Teufeln nachsegeln, wir …“
Er entdeckte die beiden anderen Kumpane. Sie hatten soeben die Back geentert und schnitten betretene Mienen.
„Habt ihr die Schiffsräume durchsucht?“ fragte Picou. „Nun redet doch schon! Was habt ihr gefunden?“
„Einen Toten im Vordeck“, erwiderte der linke der beiden Kerle.
„Ist es einer dieser braunen Hunde?“ fuhr Grand Duc ihn an.
„Nein. Einer von uns.“
„Und im Achterdecksgang liegt Henri. Er ist auch tot“, erklärte der andere leise.
Grand Duc sprach stockend, als bereite es ihm ungeheure Schwierigkeiten. „Die Geiseln – sind sie alle …“
„Sie sind alle geflohen, Grand Duc, daran besteht kein Zweifel“, sagte Picou. Die beiden anderen bestätigten es durch Kopfnicken.
„Die Jolle!“ brüllte Grand Duc sie an. „Die Jolle bergen, ihr Hunde!“ Er blieb stehen, als sie davonstoben und schüttelte den Kopf, als müsse er eine vernichtende Last abwerfen. Dann erst fiel ihm ein, daß er sich um ein Detail von außerordentlicher Wichtigkeit bislang noch nicht gekümmert hatte.
„Der Schatz“, murmelte er bestürzt. „Mon Dieu, der Schatz …“
Er verließ die Back, raste über die Kuhl, sprang über die Leichen, die den Achterdecksgang versperrten, und langte keuchend bei der Tür zur Kapitänskammer an. Er riß sie auf, stürzte zum Pult, öffnete die Schublade, entnahm ihr einen großen eisernen Schlüssel, verließ die Kammer wieder und eilte ein Deck tiefer zu einem verborgen liegenden Raum, zu dem nur Masot den Schlüssel hatte. Daß der Schlüssel im Kapitänspult aufbewahrt wurde, hatte er nur Grand Duc anvertraut.
Der Riese öffnete mit fliegenden Fingern die Tür. Er konnte nicht erkennen, was dahinterlag, als er sie aufzog, tat zwei tastende Schritte vorwärts und strauchelte dann fast über die schwere Truhe, die unverändert in der Mitte des engen, niedrigen Raumes stand.
Er bückte sich und öffnete sie, und er lachte heiser auf, als seine Finger bei der ersten flüchtigen Untersuchung voll in die prasselnden Gold- und Silberstücke griffen.
Pieces of eight. Achterstücke. Spanische Piaster, mehr als eine halbe Million davon. Thomas Federmann hatte sie ihnen ausgehändigt, als sie Hawaii besetzt hatten. Er hatte es tun müssen, es war ihm nichts anderes übriggeblieben, denn sonst hätte Masot alle Männer der Insel töten und die Frauen vergewaltigen lassen.
Grand Duc forschte weiter. Auch die zweite, kleinere Truhe, war noch da. Er hob auch ihren Deckel und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß der Inhalt komplett war. Smaragdbesetzte Ketten, Armreifen und Diademe – „Esmeraldas“ aus Neu-Granada.
Grand Duc hatte nicht die geringste Ahnung, wie dieser Deutsche jemals an die grünen Diamanten herangekommen sein mochte, aber er maß dem auch keinerlei Bedeutung bei. Mochte es Federmanns Geheimnis bleiben, die Hauptsache war, daß die auf Hawaii erbeuteten Schätze noch vollständig vorhanden waren. Bei ihrer Flucht hatten die Insulaner keine Zeit und keine Gelegenheit gehabt, noch danach zu suchen.
Grand Duc schloß den Raum ab, brachte den Schlüssel wieder in die Kapitänskammer und kehrte zu den Kumpanen auf die Kuhl zurück.
Der Wind hatte zugenommen und heulte mit Sturmstärke über die Lagune, das konstatierte er sofort. Die Lagune lag geschützt zwischen der großen Insel, kleineren Eilanden und Riffen, hier konnte kein starker Seegang entstehen, aber draußen, auf dem offenen Meer, mußten die Wogen jetzt höher und höher steigen.
Picou wandte sich zu dem Riesen um und rief: „Grand Duc, wenn diese braunen Huren und Hurenböcke zwischen den Riffen hindurch auf die offene See pullen, dann haben sie ihr Todesurteil selbst unterschrieben. Sie werden alle ersaufen, die Hunde, denn das Wetter hat eben erst begonnen und wird noch schlimmer werden.“
Grand Duc blieb stehen. Seine Züge hellten sich plötzlich etwas auf. „Ich schätze, das nimmt uns ein hübsches Stück Arbeit ab, Picou. Laß sie krepieren, die Kanaken, sie haben es nicht anders verdient.“
6.
Bill, der Moses, meldete sich zwar sofort wieder aus dem Großmars, als im Südwesten die zwei Geschützfeuer kurz hintereinander losdonnerten, aber er hätte seinen Kapitän nicht darauf hinzuweisen brauchen, denn dieser hatte die ganze Zeit über aufmerksam vorausgespäht und das Aufblitzen der Kanonen im selben Moment wie sein Ausguck bemerkt.
„Al!“ rief er seinem Stückmeister und Waffenexperten zu. „Was für eine Art von Geschütz war das deiner Ansicht nach?“
„Hörte sich an wie das Feuer von zwei Minions!“ rief Al Conroy von der Kuhl aus zurück. „Aber genausogut können es Hinterlader gewesen sein, also Drehbassen oder Serpentinen.“
„Du schätzt also, daß es auf jeden Fall Schiffsgeschütze waren?“
„Darauf würde ich fast meine Mütze verwetten.“
„Potztausend!“ rief der Profos. „Wer will denn deine speckige Mütze schon haben?“
Siri-Tong, die immer noch neben dem Seewolf auf dem Quarterdeck stand, konnte sich ein leises Auflachen nicht verkneifen. Hasard hatte das Spektiv auseinandergezogen und vors Auge gehoben, drehte daran herum und versuchte, etwas zu erkennen und die Schärfe richtig einzustellen. Aber vor ihm lag wieder das unendlich wirkende, tiefschwarze Dunkel der Nacht, und kein neuer Mündungsblitz zerriß den schwarzen Vorhang.
Hasard hatte sich wieder genau eingeprägt, an welcher Stelle die Feuerblitze aufgeflammt waren. Er ließ Pete Ballie eine leichte Kurskorrektur vornehmen, spähte noch einmal versuchsweise durch das Spektiv, gab es dann aber auf und wandte sich, nachdem er das Rohr zusammengeschoben und in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, an die Rote Korsarin.
„Hast du es bemerkt, Siri-Tong?“ sagte er. „Die Distanz ist ganz erheblich zusammengeschrumpft. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die beiden Schüsse an demselben Ort wie zuvor abgegeben wurden, und dieser Ort liegt nur noch drei bis vier Meilen von uns entfernt.“
Sie war sehr schnell wieder ernst geworden und nickte ihm flüchtig zu. „Angenommen, wir haben das gesuchte Schiff der französischen Freibeuter vor uns …“
„Was noch höchst unwahrscheinlich ist …“
„Angenommen, es ist doch die ‚Saint Vincent‘“, sagte sie beharrlich. „Dann müssen wir doch voraussetzen, daß sie wieder vor einer Insel ankert, auf der Masot und seine Meute nach dem vermeintlichen Schatz forschen.“
„Auf was willst du hinaus?“
„Daß wir uns vor Korallenriffen in acht nehmen müssen, wenn wir uns an diese Insel heranpirschen.“
Er setzte eine grimmige Miene auf. „Keine Angst, ich lasse schon beizeiten das Zeug wegnehmen.“
Die „Isabella“ schob sich unter vollen Segeln auf ihr unbekanntes Ziel zu. Der Seewolf schätzte den Wind auf Sturmstärke, ließ sich aber von dem Heulen und Tosen und dem sprühenden Gischt rundherum nicht beeindrucken. Er wartete weiterhin damit, die Segel bergen und die kleineren, stärkeren Sturmsegel setzen zu lassen. Hart krängte die Dreimast-Galeone nach Steuerbord, so hart, daß die untere Leekante des Großsegels in die Fluten zu tauchen drohte. Das Steuerbordschanzkleid schnitt fast unter, und die Back, die Kuhl, das Quarter- und Achterdeck hatten sich in eine feuchte Rutschbahn verwandelt, die für jeden Mann der Besatzung unvermittelt zum tödlichen Abhang werden konnte. Wild schlingernde und taumelnde Bewegungen vollführte die „Isabella“ in den aufgewühlten Fluten. Jedesmal, wenn sie einen Brecher mit ihrem Bug zerteilte, krachte es beinah ohrenbetäubend.
Längst war auch die Freiwache auf Deck erschienen, keiner tat jetzt mehr ein Auge zu. Mit vereinten Kräften führten die Männer die Segelmanöver durch, prüften die Zurrings der Boote und Kanonen und achteten darauf, daß alles für die größtmögliche Sicherheit des Schiffes im Sturm getan wurde.
„Haltet euch an den Manntauen fest!“ brüllte der Profos. „Daß mir ja keiner über Bord geht, ihr matschäugigen Heringe!“
„Der Teufel soll ihn holen“, schrie Matt Davies, der gerade ein loses Ende an der Nagelbank auf der Backbordseite der Kuhl belegte. „Wofür hält der uns eigentlich? Für blutige Anfänger?“
Plötzlich rutschte er aus und mußte sich an der Nagelbank festhalten, um nicht quer über die Kuhl zu schlittern. Batuti, der Mann aus Gambia, der ihm am nächsten stand, grinste breit und mußte einen Schwall von Matts Flüchen über sich ergehen lassen.
„Soll ich die Zwillinge unter Deck begleiten?“ fragte die Rote Korsarin den Seewolf.
Er blickte sie an. „Nein. Solange das Wetter sich nicht verschlechtert, versehen sie weiter ihren Dienst an Deck. Sie haben die gleichen Pflichten wie jeder andere auf diesem Schiff.“
„Mit dem feinen Unterschied, daß sie Jungen und keine Männer sind“, sagte die Eurasierin angriffslustig. „Das darfst du nicht vergessen.“
„Aber die richtigen Seebeine sind ihnen inzwischen gewachsen.“
„Hasard, das …“
„Das hast du mir gestern selbst gesagt“, unterbrach er sie mit dem Anflug eines harten Grinsens.
„Und daraus schließt du – was?“
„Daß sie auch im Sturm ihren Mann zu stehen haben. Sie haben gefälligst aufzupassen, daß sie nicht über Bord gefegt werden“, sagte er. „Das erwarte ich von jedem Moses – und erst recht von meinen eigenen Söhnen.“
Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und rief: „Also gut! Du hast ja recht. Wie immer hast du völlig recht mit dem, was du sagst und anordnest. Zufrieden?“
„Ja. Ich hasse nichts mehr als sinnlosen Widerspruch und Disziplinlosigkeit“, erwiderte er halb im Scherz, halb im Ernst.
Sie wollte aufbegehren, bezwang sich dann aber und schwieg. Dies war sein Schiff, nicht das ihre. Trotz des einmalig guten Verhältnisses, das sie zueinander hatten, konnte sie ihm in seine Entscheidungen nicht hineinreden. Er war der Kapitän und hatte zu bestimmen. Gelegentlich waren sie darüber aneinandergeraten, denn auch Siri-Tong verfügte über einen harten, unbeugsamen Charakter, aber sie war intelligent genug, einzusehen, daß dies der unpassendste Moment zum Diskutieren war.
Hasard hielt sich an der Querbalustrade des Quarterdecks fest und schaute voraus. Er fragte sich, welches Geheimnis sich mit den Schüssen verband, welches Drama dort, drei Meilen im Südwesten, wohl seinen Lauf nahm.
Er ahnte nicht, daß sich der Schleier der Ungewißheit schon bald auf ganz ungewöhnliche Weise lüften sollte.
Die Jolle der „Saint Vincent“ hatte die Korallenbänke vor der großen Lagune fast erreicht. Andai, der auf der Heckducht saß und die Ruderpinne übernommen hatte, feuerte die Männer an den Riemen durch Zurufe an. Er wußte, daß die namenlose Insel von gefährlichen Riffen umgeben sein mußte, und gab sich keinen Moment der Illusion hin, daß sie einfach aufs Geratewohl aus der Lagune steuern konnten. In diesem Punkt hatten er und die anderen Männer von Hawaii in ihrer Heimat reiche Erfahrungen sammeln können, denn auch dort gab es die tückischen Bänke, und sie hatten als geschickte Bootsfahrer und Fischer schon oft Berührung damit gehabt.
Es war also in erster Linie seinem Fingerspitzengefühl überlassen, ob er die Jolle sicher aus dem natürlichen Hafenbecken zu dirigieren vermochte oder nicht.
Moho kauerte vorn am Bug und hielt die Augen nach allen Seiten offen, aber er konnte kaum zwei, drei Schritte weit sehen und nahm nicht mehr wahr als das Schäumen der Wellenkronen, die sich, je näher sie der offenen See gelangten, höher und höher aufzutürmen schienen.
Andais größte Besorgnis drehte sich aber darum, daß das Boot überladen war. Eigentlich für acht, höchstens zehn Insassen konstruiert, mußte es jetzt zwanzig Menschen befördern. Das hatte zur Folge, daß der Tiefgang zu groß war und die Jolle immer wieder Wasser übernahm.
Hauula, Mara und die anderen Mädchen und Frauen östen das Naß eifrig mit Schöpfkellen aus. Mara schrie plötzlich auf, denn die Jolle neigte sich unter einer anrollenden Woge so stark nach Backbord, daß sie im nächsten Moment querzuschlagen drohte. Hauula hielt Mara fest und versuchte, sie zu beruhigen, die anderen klammerten sich fest, wo sie konnten, und warteten zitternd und mit angstgeweiteten Augen darauf, daß das Boot kenterte. Einige Mädchen rutschten nach Backbord, und durch die Gewichtsverlagerung krängte die Jolle noch weiter.
Es schien das Ende der kurzen Fahrt zu sein.
Dann aber glitt die Woge unter der Jolle hindurch und bauschte sich jenseits des Dollbordes auf, so daß sich das Fahrzeug aus seiner unglücklichen Lage aufrichtete und die normale Schwimmlage wiedergewann.
Andai atmete erleichtert auf. Hauula lächelte ihm aufmunternd zu, und auch die anderen gaben durch ihr Verhalten klar zu verstehen, daß sie neue Hoffnung gefaßt hatten.
Sie nahmen jede Entbehrung und Härte gern auf sich, wenn sie nur nicht wieder in ihre Gefängnisse an Bord der Piratengaleone zurück mußten. Nichts konnte schrecklicher sein als die Stunden, die Tage, die schier endlose Zeit, die sie dort in Furcht und Ungewißheit verbracht hatten.
Moho stieß einen Warnruf aus.
Andai drückte die Ruderpinne auf das Zeichen des Stammesbruders hin nach Steuerbord, und im nächsten Augenblick erblickten sie alle, was Moho vor ihnen entdeckt hatte: Drohend wuchs die schartige Korallenbank aus der aufgerührten See hervor, messerscharf schienen ihre Ränder zu sein.
Die Jolle glitt nahe daran vorbei.
Und die Riffe unter der Wasseroberfläche? Andai schauderte es bei dem Gedanken daran, was ihnen noch alles passieren konnte. Wenn ein Riff den Bootsrumpf aufschlitzte, dann nutzte alles Auslösen nichts mehr, dann konnten sie alle ihren Geist aufgeben und Pele und den anderen Gottheiten überantworten, die sie in diesen Augenblicken flehentlich anbeteten.
Andai konnte einer Gefahr, die er nicht zu erspähen vermochte, durch kein Mittel ausweichen, er war ihr gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern machtlos ausgeliefert.
Die Männer pullten mit zusammengepreßten Lippen. Sie brachten die Jolle ziemlich schnell voran, denn sie mußten ja nicht gegen den Seegang arbeiten, sondern fuhren mit der Dünung. Der Wind aus Südosten fiel raumschots ein und drückte gegen das Heck des Bootes.
Wie durch ein Wunder gelangte die Jolle unbeschadet über die Riffe hinweg und schob sich in die lärmende See hinaus. Zwanzig halbnackten, nassen Gestalten war die nahezu unmöglich erscheinende Flucht aus der Teufels-Lagune somit gelungen, aber alle Schwierigkeiten schienen erst jetzt richtig zu beginnen.
Wütend packte die See das Boot, hob es hoch, ließ es in gähnende schwarze Wasserschluchten hinunterschießen und schüttelte es durch. Gnadenlos waren die Urgewalten der Natur, klein und ohnmächtig wirkte der Mensch.
Andai und die anderen Männer hatten einen simplen Plan gefaßt. Sie wollten erst einmal aus der Lagune heraus und dann das Atoll umrunden.
Masot würde ihrer Ansicht nach nicht damit rechnen, daß sie noch einmal zurückkehrten, aber genau das hatten sie vor, um Zegú, ihren König, und Thomas Federmann aus der Gewalt der Freibeuter zu befreien.
An einem unbeobachteten Punkt der Hauptinsel wollten sie wieder landen – irgendwo im Norden oder im Süden. Die Nacht und der Sturm wurden zu ihren Verbündeten, wenn ihnen dies gelang, denn die Seeräuber würden sich eher verkriechen, statt überall nach ihren flüchtigen Geiseln zu suchen.
So rechnete Andai sich aus, daß sie sich in den Busch schlagen und bis zum Lagerplatz am Strand schleichen konnten. Der Regenwald war ein Element, in dem sie sich sicher fühlten und vorzüglich auskannten, ganz im Gegensatz zu den Franzosen. Aus dem Dickicht heraus konnten sie auch mit den wenigen Waffen, die sie hatten, einige erfolgreiche Schläge gegen die Freibeuter führen.
Das würde die Kerle verunsichern, und genau diese Unruhe wollten die Insulaner ausnutzen, um in einer Blitzaktion ihre beiden Kameraden herauszuholen.
Zu diesem Zeitpunkt aber schienen Welten die Polynesier von der Verwirklichung ihres Planes zu trennen.
„Andai!“ rief Moho vom Bug her. „Wir schaffen es nicht! Wir müssen umkehren!“
„Niemals!“ schrie Andai zurück.
„Darauf warten unsere Feinde doch nur“, keuchte Hauula, die die jammernde und schluchzende Mara inzwischen festhalten mußte. „Wir bringen uns selbst um, wenn wir das tun.“
„Aber wir sterben so oder so!“ schrie eine junge Frau, die bei Numil hockte und sich mit beiden Händen verzweifelt an der Ducht festklammerte. „Das Wasser frißt uns auf, die Haie werden kommen und uns zerreißen!“
Andai begriff, daß er doch einen Fehler begangen hatte. Er hatte das offene Meer weit unterschätzt, hier drohte ihnen eine weit größere Gefahr als bei den Korallenbänken.
Hastig drehte er sich auf seiner Ducht um und blickte nach achtern. Er konnte jedoch kein Land mehr sehen. Das Atoll schien nicht mehr zu existieren und sich aufgelöst zu haben. Er spürte Panik in sich aufsteigen, kämpfte aber energisch dagegen an.
„Beruhigt euch!“ rief er den Freunden im Tosen des Wetters zu. „Wir versuchen jetzt, einen Bogen zu fahren. Wir halten auf eine Landzunge oder auf eine kleine Insel zu und gehen dort an Land. Wir warten ab, bis der Sturm vorbei ist.“
„Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Hauula ihm bei. Sie wollte noch mehr rufen, aber ein neuer Brecher hob die Jolle an, trug sie auf seinem Kamm fort und schien sie in die brausende Finsternis hinausschleudern zu wollen.
Die Mädchen und Frauen schrien durcheinander und hielten sich gegenseitig fest. Die Männer taten alles, um das Boot zu halten, Andai durch die Arbeit mit der Ruderpinne, seine Brüder durch das Bewegen der Riemen.
Doch es nutzte alles nichts. Wie von Geisterhand bewegt, drehte sich das Boot plötzlich. Dann kippte es nach Backbord über, bäumte sich auf, lud seine lebendige Fracht aus und kenterte.
Andai fühlte sich gepackt und durch die Luft gewirbelt, dann traf etwas seinen Rücken – mit solcher Wucht, daß ihm die Schmerzen das Bewußtsein raubten. Er hörte Hauula verzweifelt schreien, aber dann endete jede Wahrnehmung. Unter ihm schienen die Fluten der mörderischen See auseinanderzuklaffen. Er raste in einen Abgrund hinunter, der in der glühenden Verdammnis endete.