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7.
Bill, der Moses, war in den Jahren an Bord der „Isabella“ zu einem kräftigen und mutigen jungen Mann herangewachsen, und er hätte es sich ohne weiteres zugetraut, seinen Posten im Großmars beizubehalten. Aber der Seewolf hatte es doch vorgezogen, ihn abentern zu lassen, denn der Sturm nahm zu und es hätte leicht passieren können, daß Bill durch eine Bö von der wild hin und her schwankenden Plattform gefegt worden wäre.
Bill und Dan O’Flynn waren jetzt von der Back auf die Galionsplattform hinuntergestiegen, hatten sich mit Tauen festgebunden und spähten voraus, um ihren Kapitän auf jedes Riff und andere „unerfreuliche Erscheinungen“ aufmerksam machen zu können – wenn es auch in jedem Fall im allerletzten Augenblick geschehen würde. Die Finsternis und der Gischt ließen einen Ausblick auf mehr als zehn, fünfzehn Yards kaum zu, ja, manchmal konnte man im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr die Hand vor Augen sehen.
„Das geht nicht gut aus!“ schrie Bill Dan O’Flynn zu. „Wir laufen heute nacht noch auf Grund!“
„Mal den Teufel bloß nicht an die Wand!“ rief Dan zurück. „Fängst du auch schon so an wie mein Alter?“
„Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich oben im Großmars geblieben wäre!“
„Das ist zu gefährlich!“
„Aber für einen Ausguck der richtige Platz …“
„Nein, nicht bei diesen Bedingungen! Da oben siehst du nicht mehr als hier, ich schwör’s dir! Ganz gleich, wo du stehst, die Nacht ist überall gleich schwarz – schwarz wie dicke Tinte!“
Dan mußte es wissen, er war lange Zeit der Ausguck der „Isabella“ gewesen. Und noch heute hatte er ebensogute Augen wie der Moses.
Bill wollte etwas erwidern, aber plötzlich hielt Dan ihn am Arm fest. „Da war doch was!“ stieß er hervor. „Ich hab was entdeckt – Backbord voraus!“
„Doch wohl kein Riff!“ rief Bill entsetzt. Er hielt selbst angestrengt Ausschau, aber vor ihnen schien nichts anderes als die brodelnde Wasserwelt zu sein.
„Kein Riff!“ brüllte Dan. „Ein Mensch!“
„Du bist verrückt!“
„Da!“ schrie Dan. „Da, sieh doch selbst, Hölle und Teufel, da schwimmt einer in der See, Junge, der ist am Absaufen!“
Bill erstarrte fast, denn genau in diesem Moment konnte auch er die Gestalt erkennen, die gar nicht weit von ihnen aus einem Wellenhang hervorzuwachsen schien und gleich darauf wieder verschwand.
„Almächtiger Gott im Himmel“, stammelte er. Dann schrie er mit Dan O’Flynn zusammen: „Sir – ein Schiffbrüchiger!“
Carberry hörte es als erster und fuhr auf der Kuhl nach achtern herum, um es mit seinem Stentororgan weiterzugeben: „Schiffbrüchiger voraus!“
Der Seewolf verließ unverzüglich seinen Platz auf dem Quarterdeck, sprang auf die Kuhl hinunter, hangelte an den Manntauen voraus und enterte schließlich die Back.
„Beidrehen und die Segel aufgeien!“ schrie er Ben Brighton und Edwin Carberry im Vorbeilaufen zu.
„Aye, Sir!“ riefen sie zurück.
Und dann – während der Seewolf von der Back aus zu Dan O’Flynn und Bill auf die Galionsplattform hinunterstieg – entwickelte sich eine geradezu fieberhafte Aktivität an Bord der „Isabella“. Das Ruderrad wirbelte unter Pete Ballies Fäusten, Pete legte Hartruder Backbord. Die Galeone drehte mit dem Vorschiff in den Wind und stemmte sich frontal gegen die anrollende See. Die Crew schrickte die Steuerbordschoten und Brassen weg, holte die Backbordschoten dicht, und die Rahen stellten sich gerade. Die Segel hätten jetzt wie verrückt zu killen begonnen, wenn Ben Brighton nicht dafür gesorgt hätte, daß sie schleunigst aufgegeit wurden.
Die Männer arbeiteten mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Das Schiff gelangte zum Stillstand in den quirlenden, donnernden Fluten. Es war ein Manöver, das selbst einer erfahrenen Crew wie der des Seewolfes all ihr Können und ihre Geistesgegenwart abverlangte.
Hasard stand bei Dan und Bill auf der Galionsplattform und verfolgte beim Herumschwenken der „Isabella“, wie die Gestalt des Schiffbrüchigen erneut aus den Fluten auftauchte, diesmal an der Steuerbordseite, unmittelbar vor dem Bugspriet und der Galion.
Der Seewolf zögerte nicht. Er wand sich das Ende einer vor dem Schott bereitliegenden Taurolle um die Hüften, knotete es vor dem Bauchnabel zusammen, prüfte den Sitz und riß sich in aller Eile die lederne Weste, das Hemd und die Hose vom Leib. Er war jetzt nur noch mit einer kurzen Hose bekleidet.
Er kletterte über die Umrandung der Plattform, hielt sich mit einer Hand am Vorgeschirr fest, spähte noch einmal zu dem ertrinkenden Mann, ließ dann seinen Halt los und stieß sich mit den Füßen ab.
Kopfunter und mit vorgestreckten Armen tauchte er in die Fluten. Die Taurolle lief ab, er zog die Leine mit sich in die Tiefe.
„Aufpassen!“ rief Dan O’Flynn Bill zu. „Wenn die Rolle zu Ende ist, müssen wir das Tau festhalten und irgendwo belegen.“
„In Ordnung!“ schrie Bill. Die Aufregung über das Auftauchen des fremden Mannes in der See und über das schnelle und unerschrockene Handeln des Seewolfes stand ihm im Gesicht geschrieben.
Siri-Tong, Ben Brighton, Carberry, Ferris Tucker, Shane, Old O’Flynn und fast alle von der Crew waren ans Steuerbordschanzkleid der Kuhl gestürzt, lehnten sich über, so weit der Seegang und der Sturmwind es ihnen erlaubten, und verfolgten mit teils besorgten, teils verwegenen Mienen, was jetzt geschah.
Der Seewolf tauchte wieder auf. Er schaute sich um, konnte den Schiffbrüchigen aber nicht entdecken.
„Dort drüben, Hasard!“ schrie die Rote Korsarin. Mit dem ausgestreckten Arm wies sie ihm die Richtung, in die er zu schwimmen hatte. Sie hatte den bedauernswerten Mann eben gerade wieder in der See erspäht. Mehr noch, sie glaubte gesehen zu haben, daß dieser Mensch nicht weißer, sondern brauner Hautfarbe war. Und unwillkürlich verband sich in ihrem Geist die Beobachtung mit dem Gedanken an die verschleppten, verschollenen Insulaner, die sie suchten.
Ihr Herz begann schneller und heftiger zu schlagen.
Hasard schwamm wie in alten Zeiten mit kräftigen Armschlägen und ausgeglichenen Beinbewegungen. Es war sein ganz persönlicher Stil, sich im nassen Element voranzubringen – nicht sonderlich elegant, aber sehr zweckmäßig. Rasch glitt er dem armen Teufel näher.
Eine Woge hob ihn hoch und brachte ihn von der Richtung ab, er arbeitete hart dagegen an. Der zischende Gischtkamm baute sich über seinem Kopf auf, drohte zu überlappen und ihn unter sich zu begraben. Hasard begann zu fluchen, verstummte dann aber gleich wieder, denn er riskierte, einen ordentlichen Schwall Wasser zu schlucken.
Der Schaumkamm der Woge stülpte sich über ihm aus. Hasard tauchte unter, kam wieder hoch und sah den Schiffbrüchigen überraschenderweise vor sich, ganz nah, eher mit einem Schemen als mit einem menschlichen Wesen zu vergleichen.
Mit zwei Zügen brachte der Seewolf sich dem Unbekannten noch näher, dann konnte er nach ihm greifen und ihn festhalten.
Er registrierte, daß er einen polynesischen Eingeborenen vor sich hatte. Entweder hatte er so viel Wasser geschluckt und lag schon so lange in der See, daß er durch die erlebten Strapazen ohnmächtig geworden war, oder eine Verletzung hatte ihm das Bewußtsein geraubt. Wie auch immer, dieser arme Teufel trieb völlig hilflos in den Wogen, und erst jetzt, als Hasard sich in Rückenlage brachte und ihm unter die Achseln griff, um ihn abzuschleppen, regte sich der Fremde benommen.
Plötzlich entwickelte der Mann jedoch bedenkliche Aktivitäten. Er begann zu strampeln und um sich zu schlagen. Die Panik ließ ihn aufschreien.
Hasard blieb nichts anders übrig, als ihm einen Faustschlag an die Schläfe zu verpassen. Der Polynesier wurde gleich wieder besinnungslos. Aber auch jetzt hätte es dem Seewolf erhebliche Mühe bereitet, ihn abzuschleppen, ja, es wäre in der bewegten See ein nahezu aussichtsloses Unterfangen gewesen, den armen Teufel zu retten, wenn nicht das Tau gewesen wäre, das er sich vorsorglich um die Hüften geschlungen hatte.
Er brauchte Dan O’Flynn und Bill, dem Moses, jetzt nur ein Handzeichen zu geben, und die beiden begannen kräftig an dem Tau zu ziehen. Mittlerweile hatten sie das andere Ende an der vorderen Querbalustrade der Back belegt. Oben standen Smoky und Al Conroy, um darauf aufzupassen, daß die Knoten sich auch ja nicht lösten.
Carberry, Luke Morgan, Sam Roskill und Bob Grey kletterten gerade auf die Galionsplattform hinunter, banden sich mit kurzen Tauen fest und griffen nun mit zu, um das Tau, an dem ihr Kapitän und der Schiffbrüchige hingen, Hand über Hand durchzuholen.
Wenig später hievten die Männer Hasard und den Fremden an Bord.
„Kutscher!“ schrie der Seewolf zur Back hinauf, als er pudelnaß auf der Galionsplattform stand. „Kutscher, verarzte diesen Mann sofort, sonst stirbt er uns unter den Händen weg!“
„Aye, Sir!“ Der Kutscher stand auf der Back und bedachte den reglosen Eingeborenen mit prüfenden, besorgten Blicken. Sobald Hasard und die anderen den Mann von der Galionsplattform zur Back hochbugsiert hatten, übernahmen es der Kutscher, Smoky und Al Conroy, ihn über die Balustrade zu heben.
„Wiederbelebung“, sagte der Kutscher hastig. „Hier hilft nur eine Radikalkur.“ Er gab Smoky und Al Conroy ein paar knappe Anweisungen. Dann legten sie den Polynesier mit dem Bauch auf die Holzleiste der Balustrade und drückten ein wenig zu.
Mehrere Gallonen Wasser ergossen sich auf die Galionsplattform, die inzwischen von Hasard, Bill, Dan, Carberry und den anderen geräumt worden war.
Der Kutscher griff nach den Schultern des Polynesiers, drehte ihn herum, ließ ihn vorsichtig auf die schwankenden Planken der Back sinken und begann mit der Wiederbelebung, indem er ihm in rhythmischen Abständen mit beiden Händen auf die Brust drückte und gleich wieder losließ. Dies alles wurde durch den Seegang und den Wind erheblich erschwert, aber der Kutscher hatte dennoch Erfolg: Der braunhäutige Fremde kam zu sich, schlug die Augen auf und stammelte ein paar Worte, die sie nicht verstanden.
Hasard hatte sich neben den Kutscher gekniet.
„Sir, der Mann ist von einem harten Gegenstand am Rücken getroffen worden“, erklärte der Kutscher. „Er kann dabei noch froh sein, daß es ihm nicht das Kreuz gebrochen hat.“
„Und daß er nicht ersoffen ist“, fügte Carberry hinzu. „Wenn wir ihn nicht rausgefischt hätten, wäre es jeden Augenblick mit ihm aus gewesen.“
„Lange kann er noch nicht im Wasser gelegen haben“, meinte Dan O’Flynn. „Sonst wäre er nämlich so oder so abgekratzt, der arme Kerl.“
Der Eingeborene blickte den Seewolf an, und seine Augen weiteten sich plötzlich. Dann begann er zum großen Erstaunen der Männer und der Roten Korsarin, die unterdessen auch die Back geentert hatte, auf spanisch zu sprechen.
„Du – ich kenne dich – du bist – El Lobo del Mar!“
Hasard spürte einen feinen, eisigen Schauer auf seinem Rücken. Es war unmöglich, daß der erste Eingeborene, dem sie in diesem Winkel der Welt durch einen geradezu unerhörten Zufall begegneten, diese Sprache beherrschte – er konnte es einfach nicht glauben.
Und dann kannte er auch noch seinen Beinamen. Seewolf! Das setzte allem die Krone auf! Dafür gab es nur eine Erklärung.
„Du kommst von der Insel Hawaii!“ sagte Hasard.
„Ja.“
„Wie heißt du?“
„Andai.“
„Ich kann mich an dich nicht erinnern“, sagte der Seewolf. „Aber du mußt mir jetzt sofort erzählen, wo …“
„Die anderen – Brüder und Schwestern“, murmelte Andai. „Sie – wo sind sie – das Boot …“
„Ein Boot“, sagte Hasard erschüttert. „Sie haben also in einem Boot gesessen und sich in diesen Sturm hinausgewagt – entweder wurden sie von Masot, der ihrer überdrüssig war, einfach ausgesetzt, oder – oder sie sind von Bord der ‚Saint Vincent‘ geflohen …“
„Sir!“ brüllte Bill mit einemmal aus vollem Hals. „Da, Steuerbord voraus! Da treibt ein gekentertes Boot‘ O Himmel, so was gibt’s doch nicht!“
Er war kurzerhand in den Fockwanten auf geentert, um nach dem gelungenen Bergungsmanöver des verunglückten Andai erneut Umschau zu halten. Er riskierte dabei sein Leben, denn der Südostwind drohte ihn aus den Webeleinen zu schütteln, aber nur so hatte er diese neue, gleichsam ungeheuerliche Entdeckung machen können.
„Bill, du Höllenhund, reiß dich zusammen!“ schrie der Profos.
„Aye, Sir! Sir, ich sehe mehr als ein Dutzend Leute, die sich alle an dem Boot festhalten!“
Hasard hatte sich aufgerichtet, war zum Schanzkleid der Back gestürzt und blickte erschüttert in die von Bill genannte Richtung. Siri-Tong war wieder neben ihm.
Sie griff nach seinem Arm und sagte betroffen: „Das sind sie – die Geiseln der Freibeuter. Allmächtiger!“
„Kurs auf die Schiffbrüchigen!“ rief der Seewolf. „Wir setzen zwei Sturmsegel, um wieder Fahrt aufzunehmen. Wir manövrieren vorsichtig auf das Boot zu und fischen die Leute in Lee auf!“
Er rief es auf englisch, und Andai, der wieder völlig bei Bewußtsein war, verstand nicht alle Worte, weil Thomas Federmann ihm und den anderen Bewohnern Hawaiis ja in erster Linie spanisch beigebracht hatte. Aber das Wichtigste begriff er doch. Die Jolle der „Saint Vincent“ trieb in der Nähe der „Isabella“. Andai spürte instinktiv, daß nun auch seine Leute gerettet wurden und die Erlösung von allem Übel und Unglück sehr nah war.
Die Welt hatten sie mit ihrer „Isabella“ umsegelt, hatten Länder und Menschen kennengelernt, mit denen noch kein anderer Europäer Kontakt gehabt hatte. Schier Unglaubliches hatten sie erlebt, und daher hatte so mancher der Crew angenommen, daß es nichts mehr gäbe, das sie noch aus der Fassung bringen könne.
Aber das hier war denn doch fast zuviel. Wildeste Abenteuer und tolldreiste Amouren in allen Winkeln der Welt hatten sie nicht so erschüttern können wie diese Angelegenheit hier, bei Sturm mitten in der Nacht, mitten in der Südsee: ein Schwarm splitterfasernackter, nasser Mädchen enterte an den ausgebrachten Jakobsleitern an Bord der Galeone und stieß Jubellaute und kleine Schreie des Entzückens aus.
Zehn waren es, allesamt hübsch, es war keine dabei, die man auch nur annähernd als „uninteressant“ bezeichnen konnte. Auf dem schlingernden Deck der „Isabella“ stürzten sie auf die Männer zu, lachten und weinten vor Freude, umarmten die entgeisterten Kerle und drückten ihnen jede Menge Küsse auf.
Sogar der Kutscher, der als ein zurückhaltender Mensch galt, hatte plötzlich ein Mädchen am Hals hängen.
„Kutscher, schämst du dich gar nicht, du alter Lustmolch?“ schrie Matt Davies.
„Ist doch nicht meine Schuld …“
Mehr kriegte der Kutscher nicht heraus, denn das Hawaii-Mädchen erstickte jeden weiteren Einwand und Protest durch eine Serie von weichen, salzig schmeckenden Küssen. Der Kutscher war so verdattert, daß er sein Manntau losließ. Er verlor das Gleichgewicht. Das Mädchen kicherte und ging mit ihm zu Boden. Sie rutschten quer über die Planken der Kuhl, richteten sich in einer Krängung der „Isabella“ am Steuerbordschanzkleid wieder auf – und wären um ein Haar beide über Bord gegangen, wenn der Kutscher nicht auf den Boden der Realitäten zurückgekehrt und sich blitzschnell festgehalten hätte.
Die jungen Männer von Hawaii waren zu Andai auf die Back gestiegen. Sie schienen es nicht beunruhigend oder gar skandalös zu finden, daß sich die Mädchen den Männern der „Isabella“ an den Hals warfen. Im Gegenteil – für sie schien das die natürlichste Sache der Welt zu sein. Eine Selbstverständlichkeit sozusagen.
Siri-Tong stand ziemlich verdattert da und wußte nicht mehr, was sie sagen sollte.
„Madam“, sagte Ben Brighton, der bislang von den stürmischen Ovationen verschont geblieben war. „Sie erinnern sich doch an Hawaii, nicht wahr?“
„An das Hawaii vor sechs Jahren, Ben?“
„Ja, genau das meine ich.“
„Natürlich. Und ich weiß ja, was für eine freizügige Art die Inseldamen haben, uns zu begrüßen und sich bei uns zu bedanken. Aber das hier …“
„Madam, Sie dürfen nicht vergessen, daß wir sie vor dem sicheren Tod bewahrt haben.“
Sie seufzte. „Ich vergesse es nicht. Und ich bilde mir ein, über den Dingen zu stehen.“ Der Blick, den sie Hasard zuwarf, war aber nicht gerade als liebenswürdig zu bezeichnen. Hauula und Mara hatten sich an Hasard festgeklammert und ließen ihn nicht mehr los.
Eifersüchtig? dachte die Rote Korsarin. Mach dich nur nicht lächerlich …
„Lobo del Mar!“ riefen Mara und Hauula immer wieder. „Daß wir dich wiedersehen dürfen! Pele sei Dank, sie hat uns wirklich geholfen. Wie bist du hierhergekommen? Hast du gewußt, daß wir hier sind?“
Sie überschütteten ihn mit ihren Fragen, aber er konnte sie endlich doch auf sanfte, aber nachdrückliche Art zum Schweigen bringen und sich auch bei den anderen Gehör verschaffen.
„Ed!“ rief er. „Ben, Ferris, Shane!“
„Sir?“
„Habt ihr die geborgenen Schiffbrüchigen gezählt?“
„Hölle und Teufel“, wetterte der Profos los. „Ich hab’s ja gewußt, daß wir was vergessen haben.“ Er wollte schon zum Schanzkleid rennen und sich überbeugen, um bei der gekenterten Jolle, die längsseits der Galeone lag, nach weiteren Insulanern zu suchen, aber die Rote Korsarin rief: „Es sind zwanzig, Hasard. Zehn Mädchen und zehn Männer.“
„Zwei fehlen!“ stieß Big Old Shane entsetzt hervor. „Thomas Federmann und Zegú, von denen wir wissen, daß sie auch mit verschleppt worden sind.“
„Nein!“ schrie Blacky von der Back aus. „Andai hat mir eben gesagt, daß Thomas und der Häuptling von Hawaii noch auf der Insel sind!“
„Demnach haben wir aus der See wohl alle herausgefischt“, meinte Carberry verwirrt.
Andai stieg von der Back hinunter und bestätigte es auf spanisch. Er gesellte sich zu Moho und Numil, die inzwischen zu Siri-Tong getreten waren. Sie verbeugten sich alle drei vor der Korsarin, und Andai richtete sich als erster wieder auf und sagte – wieder auf spanisch: „Schöne Frau, Perle der Südsee, gestatte es uns, daß wir uns auch bei dir bedanken – für die Rettung.“
Sie lächelte ihnen zu und entgegnete: „Es war selbstverständlich für uns, dies zu tun. Es war unsere Pflicht. Mehr noch, wir sind euch ja von Hawaii aus gefolgt, um euch herauszuhauen.“
Andai beugte sich vor, legte ihr die Hände auf die Schultern und küßte sie auf beide Wangen.
Hasard stand da und staunte nicht schlecht. Er glaubte aber auch, den leicht spöttischen und auftrumpfenden Blick wahrzunehmen, den Siri-Tong ihm über Andais Schulter hinweg zuwarf.
„Schöne Perle mit schwarzem Haar“, stieß Numil aufgeregt hervor. „Erzähle uns mehr von Hawaii‘ Ihr – dort gewesen? Was dort passiert?“
Hauula und Mara blickten den Seewolf aus großen Augen an, und Mara flüsterte: „Ist das wahr? Von Hawaii kommt ihr?“
„Wartet“, sagte er.
Philip junior und Hasard junior hatten sich vorsichtig genähert und musterten die beiden Hawaii-Mädchen, die ihren Vater mit Beschlag belegt hatten, argwöhnisch.
„Dad“, sagte Philip junior. „Was wollen die beiden Tanten eigentlich von dir?“
„Herhören!“ rief der Seewolf. „Wir gehen alle bis auf die Deckswache in die Mannschaftsmesse hinunter. Dort können wir uns besser unterhalten.“
„Was wird mit dem Boot, Sir?“ fragte der Profos.
„Das bergen wir.“
„Aye, Sir – und welchen Kurs nehmen wir?“
Der Seewolf drehte sich zu ihm um. „Bevor ich das entscheide, muß ich den Bericht unserer Freunde von Hawaii gehört haben. Solange bleiben wir beigedreht im Sturm liegen, Ed.“
8.
In der Mannschaftsmesse der „Isabella“, die früher Teil des achteren Laderaums gewesen war und bis ins Quarterdeck reichte, stand der seltsame Ofen, den Ferris Tucker seinerzeit aus Mangel an Baumaterial aus Silberbarren errichtet hatte. Bei der Durchquerung der Nordwestpassage hatten sie diesen Ofen bitter nötig gehabt, aber inzwischen wurde er nicht mehr gebraucht. Auch in einer stürmischen Nacht wie dieser war es in diesen Breiten immer noch so warm, daß man bedenkenlos mit freiem Oberkörper herumlaufen konnte.
Daran hielten sich auch die Insulaner. Unbekümmert gruppierten sie sich um den Silberbarrenofen mit der Tür aus Kupferblech. Ehe Big Old Shane jedoch zwei Öllampen entfachte, schickte Siri-Tong die Zwillinge los, damit sie saubere Leinentücher aus einer der Achterdeckskammern holten. Damit sollten sich die Männer und Frauen erstens abtrocknen und zweitens ihre Blößen verhüllen.
Philip junior und Hasard junior brachten die Tücher – ganze Packen davon. Nachdem die Insulaner sich mit freundlichem Lächeln darin vermummt hatten, sorgte Shane für Licht.
In dem schwankenden Schiffsraum zuckte der Lampenschein hin und her und zeichnete vage Muster auf die Gestalten. Hasard richtete sein Wort an Andai und stellte ihm gezielte Fragen über das, was seit ihrem Aufbruch wider Willen von Hawaii geschehen war.
Wie bei Alewa, die ihnen in der Bucht vor Hawaii den Hergang der Ereignisse geschildert hatte, erforschte der Seewolf auch bei Andai das Geschehen, indem er ihn geschickt ausfragte. Für einen vollständigen, zusammenhängenden Bericht reichte Andais Spanisch nämlich nicht aus.
Als Andai die Flucht von der Piraten-Galeone und das Kentern des Bootes in allen Einzelheiten wiedergegeben hatte, sagte der Seewolf: „Und beim Kentern der Jolle erhieltest du das Dollbord ins Kreuz, Andai. So muß es gewesen sein. Himmel, deine Göttin Pele muß dir wirklich beigestanden haben, daß du es überlebt hast.“
„Ich dachte – tot zu sein“, sagte Andai in etwas schwerfälligem und fehlerhaftem Spanisch.
„Nicht tot, sondern bewußtlos“, berichtigte der Kutscher.
„Auf jeden Fall hast du ein höllisches Glück gehabt“, stellte der Profos noch einmal nachdrücklich fest. „Aber jetzt habe ich eine Frage, wenn sie mir gestattet ist. Sir?“
„Nur heraus damit, Ed.“
Carberrys Spanisch war auch nicht das beste, aber er gab sich redliche Mühe, sich der passenden Vokabeln zu bedienen, damit die Polynesier ihn auch verstanden.
„Warum seid ihr von der ‚Saint Vincent‘ getürmt? Ihr hättet nur noch den Anker zu lichten brauchen, dann hättet ihr euch heimlich aus der Bucht verholen können – und dieser Masot, dieser Bastard, hätte das Nachsehen dabei gehabt.“
„Zumal sich an Bord der ‚Saint Vincent‘ wohl auch der Schatz befindet, den sie euch abgenommen haben“, sagte Ferris Tucker auf die Worte Carberrys hin.
„Ja, die Achterstücke, die wir damals erbeutet haben, als wir vor Hawaii die Manila-Galeone aufgebracht haben!“ rief Dan O’Flynn.
Andai stand auf und begann zu gestikulieren. Moho sagte ihm etwas in ihrer Muttersprache, und Andai beruhigte sich daraufhin, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und erklärte: „Zu schwierig für uns. Können kein großes Schiff lenken. Brauchen dazu Hilfe von Thomas Federmann.“
„Ihr hattet Angst, zu stranden oder auf die Riffe zu laufen?“ erkundigte sich Old O’Flynn. „Hölle, nach dem, was wir eben über die Insel und das Atoll erfahren haben, kann ich das wirklich gut verstehen.“
„Erst einmal fort“, sagte Andai.
„So dachten wir“, fügte Moho hinzu.
„Aber großes Fehler von uns“, gestand Numil niedergeschlagen. „Zegú und Thomas allein bei Masot. Vielleicht jetzt schon tot.“
„Nein!“ schrie Mara.
Hauula kroch zu ihr hinüber und sprach leise auf sie ein. Das sehr schreckhafte, verängstigte Mädchen ließ sich besänftigen.
Damals, als Ciro de Galantes den schwarzen Segler entführt hatte, war sie mit Hauula, Alewa und Waialae an Bord gewesen. Damals hatte sie noch mehr Mut aufgebracht, aber bei der Landung von Masot und dessen Kerle auf Hawaii mußte sie einen nachhaltigen Schock erlitten haben, von dem sie sich erst nach und nach erholen würde.
„Ich glaube nicht, daß sich die Franzosen an Thomas und Zegú vergriffen haben“, sagte der Seewolf nachdenklich. „Noch hoffen sie, den Schatz zu finden. Sie können die beiden nicht einfach umbringen, vor allem Thomas ist ihnen zu wichtig.“
„Wir müssen die beiden befreien“, sagte die Rote Korsarin. „Noch in dieser Nacht.“
Die Tür öffnete sich, und Blacky trat herein. „Sir“, meldete er. „Der Sturm hat etwas nachgelassen. Wir schätzen, daß er nicht mehr von langer Dauer ist.“
„Ein merkwürdiger Sturm“, sagte Old O’Flynn. „Aber uns kann das nur recht sein. Uns ist diese Entwicklung gerade recht, was, Hasard?“
„Ja“, erwiderte der Seewolf. „Ich will die Gefangenen der Piraten zu uns an Bord holen, und ich will Masot auch die ‚Piece of eight‘ und den Smaragdschmuck aus Neu-Granada abnehmen. Ich weiß schon, wie wir vorgehen. Obwohl wir nicht wissen, wie die Struktur des Atolls aussieht, und dadurch ziemlich im Nachteil sind, werden wir eine Landung auf der Hauptinsel unternehmen. Blakky, ist das Beiboot der ‚Saint Vincent‘ geborgen und an Bord gehievt worden?“
„Ja, Sir. Die Jolle liegt an Deck und wird eben festgezurrt.“
„Vielleicht können wir sie noch gut gebrauchen“, sagte Hasard.
Carberry grinste wissend. „Soll ich mal raten, wozu?“
Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Das wäre verfrüht, Ed. Du weißt ja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – und die Nacht ist noch lang, das steht mal fest.“
Hauula hatte sich erhoben und trat auf den Seewolf zu. „Lobo del Mar“, sagte sie leise mit ihrer weichen, etwas heiseren Stimme. „Sag du uns jetzt – von Hawaii. Was ist dort? Die Piraten – ihr habt sie doch gesehen. Unsere Brüder und Schwestern, wie ist es ihnen ergangen?“
„Einen Augenblick noch“, stoppte der Seewolf ihren weiteren Redefluß. „Ben, Ed, Blacky, wir setzen wieder Vollzeug und segeln mit südlichem Kurs auf die Insel zu.“
„Aye, Sir“, sagten die Männer gleichzeitig.
„Wir versuchen, sie im Südwesten zu runden und dann einen Landtrupp abzusetzen. Dieser Trupp wird wieder von mir geführt – wie auf Hawaii. Der Rest der Crew wird sich unter deinem Kommando mit der ‚Isabella‘ an die Lagune heranpirschen, Ben.“
„Verstanden, Sir.“
„Das ist vorläufig alles“, sagte Hasard.
Ben Brighton, Blacky, Carberry und noch ein paar andere verließen die Mannschaftsmesse, um an Oberdeck die erforderlichen Segelmanöver zu veranlassen und bei ihrer Durchführung mitzuhelfen.
Hasard wandte sich unterdessen wieder an die zehn Mädchen und die zehn jungen Männer von Hawaii und erzählte ihnen, was sich dort, auf ihrer Heimatinsel, vor Tagen zugetragen hatte. Er begann mit der Schilderung dessen, was die Tsunami, die Riesenwelle, angerichtet hatte, und sie lauschten ihm mit geöffneten Mündern und verhaltenem Atem.
Dann aber berichtete der Seewolf, wie sie Alewa gefunden und aus der Gewalt der französischen Piraten befreit hatten – wie sie die Gefangenen aus dem Hauptdorf der Insel herausgeholt und gleichzeitig die „Saint Croix“, das zweite Schiff der Karibik-Freibeuter, angegriffen hatten. Louis, der Anführer der Meute, hatte eine schmähliche Niederlage erlitten.
„Euer Stamm ist wieder frei“, schloß Hasard. „Das Volk von Hawaii ist dabei, die erlittenen Schäden auszubessern. Alewa, Waialae, Koa, Lanoko und all die anderen warten jetzt nur noch auf eins – auf eure Heimkehr.“
Er schwieg.
Eine Zeitlang herrschte Stille in der Mannschaftsmesse, dann aber sprangen die Insulaner auf, umtanzten auf fast groteske Weise den Silberbarrenofen und lachten unter Tränen. Neuer Jubel war ausgebrochen, die Erleichterung und Freude dieser einfachen, liebenswerten und friedlichen Menschen schien keine Grenzen mehr zu kennen.
Hasard und seine Kameraden standen dabei und fühlten so etwas wie Verlegenheit in sich aufsteigen, als die Insulaner sie wieder mit Dankesworten überhäuften.
„Fehlt bloß noch, daß sie uns Blumenkränze umhängen“, brummelte Smoky, der Decksälteste.
„Das hätten sie längst getan, wenn sie welche zur Hand hätten“, sagte Old O’Flynn mit einem wohlwollenden Blick auf all die hübschen Mädchen.
Mit dem toten Henri und den anderen drei Leichen, die sie an Bord der „Saint Vincent“ gefunden hatten, hatte Grand Duc nicht viel Aufhebens gemacht. Er hatte sie kurzerhand übers Schanzkleid in die Lagune befördern lassen. Als die Jolle geborgen und wieder aufgerichtet war, lagen diese vier Toten längst auf dem Grund der Bucht.
Picou und die beiden anderen Piraten, die mit Grand Duc die Galeone geentert hatten, waren in die Jolle, die jetzt längsseits der Bordwand lag, hinuntergestiegen und östen das letzte Wasser aus, das noch unter den Duchten schwappte.
Ein Mann der vierköpfigen Deckswache trat auf der Kuhl auf den Riesen Grand Duc zu und sagte: „Grand Duc, hör zu. Ich habe dir etwas vorzuschlagen. Ich …“
Grand Ducs Augen verengten sich zu Schlitzen. Die häßlichen Narben und anderen Kampfspuren in seinem Gesicht waren auch in der Finsternis deutlich genug zu erkennen, und nichts in seinem Aussehen wirkte vertrauenerwekkend und aufrichtig. „Red nicht um den heißen Brei herum“, sagte er. „Komm zur Sache. Ich weiß, was du willst. Wollen wir wetten, daß ich es genau weiß?“
„Die Geiseln – sie haben sich von hinten an uns herangepirscht.“
„Und sie haben euch niedergeschlagen.“
„Wir waren durch euch abgelenkt, Grand Duc …“
„Fehlt bloß noch, daß ihr mir und den drei anderen die Schuld daran zuschiebt, daß sie euch fertiggemacht haben. Wir wollten die Weiber holen und uns einen Spaß mit ihnen erlauben. Und was erleben wir? Ihr Satansbraten laßt euch wie die Narren zusammenprügeln. Und jetzt habt ihr Angst vor Masot. Die Hosen voll habt ihr, und die Knie schlottern euch nur so, weil er sich an euch rächen wird.“
„Grand Duc, laß uns verschwinden“, flehte der Pirat.
„Wie? Mit der Jolle vielleicht? Du bist wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, was?“
„Hör zu.“ Der Mann senkte seine Stimme und schlug einen verschwörerischen Tonfall an. „Ich meine das anders. Wir sind zu siebt. Und der Schatz befindet sich an Bord der ‚Saint Vincent‘. Wir sieben brauchen jetzt nur ankerauf zu gehen und mit der Galeone aus der Lagune abzuhauen. Masot und die anderen können uns nicht folgen. Sie stehen völlig machtlos da, haben kein Boot, gar nichts – sie werden womöglich den Rest ihrer Tage auf dieser elenden Insel verbringen, wenn wir jetzt abhauen. Und wir vier hier entgehen unserer Bestrafung.“