Читать книгу: «Seewölfe Paket 29», страница 8
Die Arwenacks bildeten eine Kette, deren Anfang – wie konnte es anders sein! – der Profos Edwin Carberry übernahm. Ihm zur Seite stand Ferris Tucker. Sie bauten sich an dem Schott zum Proviantraum auf und langten sich die Kerle einzeln, wie sie gerade in ihre Nähe gerieten.
„Nur nicht drängeln“, sagte der Profos freundlich, zog einen taumelnden und schielenden Kerl zu sich heran und schlug ihm die Faust aufs Haupt. Das stauchte dem Kerl den Kopf zwischen die Schulterblätter, und er schielte noch mehr.
„Flasche“, murmelte der Profos und reichte den Schieler weiter. Batuti nahm ihn in Empfang, dann Smoky, Stenmark und so fort.
Und jeder der Arwenacks stupste ein bißchen an dem Schieler und seinen Nachfolgern herum. Nicht daß sie die Kerle etwa mißhandelten – bewahre! Nein, nein, das war nicht ihre Art. Aber besonders zärtlich waren sie zu den Rabauken auch nicht. Das hätten die wohlmöglich als Verbrüderung aufgefaßt.
Also, sie stutzten sie auf ein vernünftiges Maß zurecht, soweit das bei diesen bezechten Lümmeln überhaupt möglich war.
Natürlich, wer frech wurde, kriegte was aufs Maul, und das nicht zu knapp.
Da war einer, der den Profos mit dem Messer pieken wollte und ihn dumm anlaberte. Zwar verstand der Profos nicht, was der Kerl zu ihm sagte, aber nach „Süüßer, gib Küüßchen!“ klang das nicht.
„Du kannst mich mal“, sagte der Profos, schlug ihm die Handkante aufs Gelenk der Messerhand, kickte das entfallene Messer weg und schob dem Lümmel die Faust unters Kinn. Der flog gleich bis zu Stenmark, so daß Batuti und Smoky Arbeitspause hatten.
Ferris war nicht minder in Aktion, natürlich ohne Zimmermannsaxt, aber seine Fäuste waren auch nicht ohne. Allmählich leerte sich der Proviantraum – und oben auf dem Steg stapelten sich die Rabauken. Die Milizsoldaten und ihr Kommandant staunten Bauklötzer und glaubten zu träumen.
Carberry und Ferris Tucker betraten den Proviantraum und schauten sich kopfschüttelnd um.
In einer Ecke schnarchten zwei Kerle. Unter einem Faß lag der Totenkopfmann und drehte den Zapfhahn auf und zu. Er lag mit dem Maul genau unter dem Hahn und brauchte nur zu schlucken.
Carberry war zutiefst erschüttert.
„Hast du so was schon mal gesehen, Ferris?“ fragte er ächzend.
„Der fühlt sich wie im Schlaraffenland“, sagte der rothaarige Riese grinsend und schob das Faß weg.
Broz drehte in der Luft weiter den Zapfhahn auf und zu – analog öffnete und schloß sich sein Maul wie bei einem Karpfen auf dem Trockenen. Na ja, trocken war’s, es kam nichts mehr. Broz hatte schadhafte Zähne und glasige Augen. Er sah so unerfreulich aus wie vergammelte Hafergrütze. Daß nichts mehr floß und der Zapfhahn verschwunden war, merkte er nicht.
Sie zogen ihn an den Füßen aus dem Proviantraum. Stehen konnte er nicht mehr, gehen schon gar nicht. Er war abgefüllt bis unter die Schädeldecke, sozusagen besoffen wie hundert Russen. Daß sie den Kerl auch noch von Bord tragen mußten, ergrimmte die Arwenacks.
Dafür wurden die beiden Schnarcher, inzwischen von Carberry und Ferris Tucker hochgepurrt, von Bord geprügelt.
Philip Hasard Killigrew erhielt, was er wünschte. Die Dankbarkeit des Selim Güngör kannte keine Grenzen. Und sie empfingen mehr als nur vier Wodkafässer. Der ausgelüftete und gesäuberte Proviantraum füllte sich mit den köstlichsten Lebensmitteln und den entsprechenden Getränken. Die Arwenacks brauchten keinen Nickel zu bezahlen.
Und Hasard erfuhr, daß es unten im Süden, an die hundert Seemeilen von Burgas entfernt, einen Meereskanal gab, Bosporus genannt, der ins Marmara-Meer führte – und von dort ins Mittelmeer.
Am Nachmittag des neuen Tages warfen sie die Leinen los und gingen auf Südkurs …
ENDE
1.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, war sofort hellwach, als eine Hand seine Schulter berührte. Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht von Ben Brighton, seinem Ersten Offizier und Bootsmann.
„Sir“, sagte Ben. „Dan hat eben etwas Interessantes entdeckt. Das schaust du dir am besten selbst an.“
„Kriegen wir Ärger?“ Hasard erhob sich und trat auf das Deck der zweimastigen Dubas. Es war noch früher Morgen. Das Licht war blaß, graue Schleier lagen über der See.
Die meisten der Männer waren auf den Beinen. Sie begrüßten ihren Kapitän. Dan O’Flynn, der ganz vorn am Bug stand, wies mit dem Zeigefinger voraus. Hasard ging zu ihm und spähte mit zusammengekniffenen Augen voraus.
„Ein Schiff, Dan?“ fragte er.
„Nein. Fällt dir nichts auf?“
Seit die Mannen Burgas verlassen hatten, waren sie mit dem Zweimaster meistens unter Land gesegelt – zunächst auf südöstlichem Kurs, dann auf Kurs Ostsüdost. Für den Seewolf war es folglich nichts Neues, jetzt die Küste vor Augen zu haben. Sie zeichnete sich als dunkelgrauer Streifen an der Kimm ab. Sein Blick wanderte an dem Streifen entlang – und mit einemmal fixierte er einen bestimmten Punkt.
„Da ist ein Einschnitt“, sagte er.
„Genau das ist auch mir aufgefallen“, erwiderte Dan grinsend.
„Eine Bucht?“
„Nach einer Bucht sieht mir das nicht aus.“
„Vielleicht ist es die Einfahrt zu einer größeren Bucht“, sagte Ben Brighton, der sich zu ihnen gesellt hatte.
„Auch das glaube ich nicht“, entgegnete Dan. „Wir haben da etwas ganz anderes vor uns, nämlich die Verbindung zum Marmarameer, die uns Selim Güngör, der Hafenkapitän von Burgas, beschrieben hat. Ich müßte mich schon sehr täuschen, wenn sie nicht von Norden nach Süden verläuft.“
„Der Bosporus“, sagte der Seewolf. „Hoffentlich behältst du recht, Dan. Wenn wir ihn durchsegeln, stoßen wir auf die Verbindung, die uns ins Mittelmeer führt.“
Die Mannen lachten, stießen sich mit den Ellenbogen an und rieben sich die Hände. Das Mittelmeer? Allein der Name klang, als sei man nicht mehr weit von der Heimat Old England entfernt. Denn das Mittelmeer gehörte zur Alten Welt, zu Europa. Und zur Zeit hatte die Crew kein größeres Ziel vor Augen, als endlich das Morgenland zu verlassen.
Hasard ordnete an, Kurs auf den Einschnitt in der Küste zu nehmen. Die Dubas luvte an und lief ab nach Süden. Keine halbe Stunde verstrich, und schon war das Land im zunehmenden Sonnenlicht besser zu erkennen.
„Hölle und Teufel“, sagte Ferris Tucker. „Das stimmt wirklich, Dan. Das ist die Wasserstraße.“
„Hoffentlich tief genug“, brummte Old O’Flynn, die Bordunke vom Dienst. „Daß wir bloß nirgends aufbrummen. Ich habe keine Lust, wieder Landratte zu spielen.“
„Das hat keiner von uns, Donegal“, sagte Big Old Shane drohend. „Du brauchst uns auch nicht dauernd an das zu erinnern, was hinter uns liegt.“
„Bist du so empfindlich?“ fragte der Alte.
„Nein, aber dein Gerede geht mir auf den Geist.“
„Deinetwegen verschalke ich mein Schott nicht“, erwiderte Old O’Flynn mit einem Grinsen. „Und, was ich noch sagen wollte, in meinem Beinstumpf zwackt es mal wieder. Ich schätze, wir kriegen demnächst Verdruß. Wir müssen höllisch auf der Hut sein.“
„Vor Werwölfen und Geistern?“ wollte Ferris Tucker wissen.
Der Alte spuckte ins Wasser und antwortete: „Eher vor Schnapphähnen und Galgenstricken.“
Die Dubas war der Küste sehr nah, die Distanz betrug nur noch etwa eine halbe Meile. Hasard ließ die Wassertiefe ausloten. Luke Morgan ging aufs Vorschiff, warf das Senkblei aus und meldete, daß sie noch mehr als sechs Faden unter dem Kiel hätten.
Daran änderte sich auch nichts, als die Dubas auf die Einfahrt zuglitt. Eine fächerförmige, sehr breite Einfahrt – links und rechts erhoben sich sanfte, bewaldete Hügel.
„Der Kanal ist breiter, als ich angenommen hatte“, sagte Dan überrascht.
Auch die anderen staunten nicht schlecht. „He, hier scheinen sich zwei Welten zu trennen!“ rief der Profos.
„Und tief genug ist er auch“, sagte Shane mit einem Seitenblick zu Old O’Flynn.
„Um so besser“, brummte der Alte.
„Sechs Faden!“ sang Luke Morgan voraus.
„Kurs Süden halten!“ befahl der Seewolf.
Er nahm seinen Blick nicht mehr von dem Gewässer, das vor ihnen lag. Seinen Zügen war abzulesen, wie fasziniert auch er von diesem Meereskanal war. Und unausgesetzt hielt er nach anderen Schiffen Ausschau. Wenn der Kanal tatsächlich die Verbindung darstellte und sich nicht doch noch als eine langgestreckte Bucht entpuppte, dann wurde er garantiert auch von anderen Seeleuten benutzt.
Die Dubas segelte in die Einfahrt. Wie die Mündung eines gigantischen Stromes mutete diese Öffnung an – etwa wie das Delta des Amazonas, fiel dem Seewolf ein. Vor vielen Jahren war er mit seinen Männern dort gewesen, und es war für sie alle eins der größten Naturschauspiele gewesen, das man sich vorstellen konnte.
„Ich würde verdammt gern wissen, ob das der Bosporus ist“, sagte Don Juan de Alcazar.
„Nach der Beschreibung unseres Freundes Güngör muß er es sein“, entgegnete Hasard.
„Den ersten Kahn, der sich uns nähert, preien wir an“, sagte Ben.
Dan lachte. „Vorausgesetzt, es ergeht uns nicht so wie in Batumi oder im Golf von Burgas.“
„Immerhin haben wir uns in Batumi unsere erste Dubas geholt“, sagte Carberry.
„Stimmt, aber das Risiko war hoch“, meinte Dan.
„Das gehört jetzt der Vergangenheit an“, sagte der Seewolf. „Viel wichtiger ist, was vor uns liegt.“
Der Zweimaster folgte dem Verlauf der Meerenge. Die letzten nebligen Schleier verflüchtigten sich, der Himmel färbte sich azurblau. Die Männer blickten nach Backbord und nach Steuerbord und musterten die flachen Hügel. Sie waren mit Zypressen, Olivenbäumen und Pinien bewachsen. Hier und dort waren Tiere zu erkennen, die sich zwischen den Bäumen bewegten.
„Wildziegen“, sagte Hasard.
„Und dort drüben fliegt ein Schwarm Enten“, sagte Dan und deutete nach Süden. Richtig – über dem Wasser flatterten in v-förmiger Gliederung Vögel. Und natürlich fehlten auch die Möwen nicht, die die Dubas begleiteten.
„Eine wirklich schöne Gegend“, urteilte Ben Brighton. „Mir gefällt es hier.“
„Aber wir werden vorläufig nicht landen“, erwiderte der Seewolf. „Proviant und Trinkwasser haben wir genug. Es besteht also kein Grund, hier irgendwo vor Anker zu gehen.“
Inzwischen waren auch die Zwillinge auf dem Vordeck erschienen. Sie schauten sich aufmerksam um.
„Merkwürdig“, sagte Philip junior mit einemmal. „Die Landschaft kommt mir bekannt vor.“
„Ja, mir auch“, sagte sein Bruder. „Fast habe ich den Eindruck, schon mal hier gewesen zu sein.“
„Dann strengt euren Grips mal an“, sagte Carberry. „Vielleicht kriegen wir auf diese Weise raus, wo wir jetzt stecken.“
Die Söhne des Seewolfs grübelten darüber herum, aber zu einem Ergebnis gelangten sie nicht.
Hasard junior erklärte lediglich: „Die Gegend sieht mir ziemlich türkisch aus.“
„Und mein Bein zwackt immer noch“, sagte Old O’Flynn mit knurrendem Unterton in der Stimme.
Bill, der den Posten des Ausgucks übernommen hatte, stieß plötzlich einen Ruf aus. „Segler voraus! Ein Einmaster!“
Die Mannen spähten voraus und entdeckten einen kleinen Küstensegler mit Lateinersegel, der genau auf die Dubas zusteuerte.
„Sehr gut“, sagte der Seewolf. „Ich hoffe, daß wir von der Besatzung des Kahns erfahren, ob wir uns hier im Bosporus befinden.“
Salome hockte unter einem knorrigen Olivenbaum. Sie war erschöpft. Sie hatte Hunger und Durst und war verzweifelt. Die Nacht über war sie durch die Gegend geirrt. Jetzt, im Hellwerden, wußte sie sich nicht mehr zu orientieren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand.
Vielleicht bin ich die ganze Zeit im Kreis gelaufen, dachte sie. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Ihr war entsetzlich elend zumute. Was sollte sie tun?
Allmählich gewann sie die Fassung wieder. Erst einmal mußte sie wenigstens eine Quelle finden, um ihren Durst zu löschen. Wenn sie Glück hatte, stieß sie auf ein paar Beeren oder Früchte – gegen den größten Hunger. Danach mußte sie sich auf die Suche nach einem Gehöft begeben. Wenn sie auf Menschen stieß, die ihr halfen, die sie womöglich gar nach Istanbul begleiteten, war alles gewonnen.
Salome erhob sich und blickte zu dem Baum auf. Er trug dicke Oliven. Aber die waren leider nicht genießbar. Erst in einem Monat würden sie reif sein. Doch auch dann konnte man sie nicht essen. Sie schmeckten bitter. Erst, wenn man sie in Salzlake einlegte, konnte man sie verzehren.
Das Mädchen seufzte. Sie fror ein wenig. Aber als sie sich wieder in Bewegung setzte und durch den Olivenhain lief, wurde ihr wieder warm. Gut, daß es noch nicht allzu kalt ist, dachte sie.
Der Hain ging in ein Gehölz aus Laubbäumen über. Salome eilte auf nackten Sohlen über Gras und Moos. Einmal stolperte sie um ein Haar über eine Baumwurzel, fing sich aber rechtzeitig wieder.
Vor ihr raschelte es im Gebüsch. Das Mädchen fuhr zusammen. Zu Tode erschrocken kauerte sie sich hinter den Stamm einer alten Steineiche. Wieder war ein Geräusch zu vernehmen.
Salome hielt den Atem an. Sie wagte nicht, auch nur einen Blick auf das zu werfen, was sich da regte.
Dann aber sah sie es – eine Ziege. Die Ziege schlüpfte aus dem Unterholz, gab ein paar meckernde Laute von sich und trottete an Salome vorbei, als existiere das Mädchen überhaupt nicht.
Salome hielt sich die Hand vor den Mund. Unwillkürlich mußte sie lachen, obwohl ihr im Grunde gar nicht danach zumute war. Eine Ziege! Sie wußte doch, daß es in dieser Gegend wilde Tiere gab. Warum hatte sie nicht daran gedacht?
Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann in Beylerbey bei Istanbul. Er hatte Salome, seiner einzigen Tochter, eine erstklassige Ausbildung angedeihen lassen, obwohl das sonst nicht üblich war.
Allah schrieb vor, daß nur Söhne etwas lernen durften. Töchter hatten sich gefälligst um die Hausarbeit zu kümmern.
Im übrigen mußten sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gesicht verhüllen und durften nur ihr Heim verlassen, wenn die Situation es dringend erforderte. Beispielsweise, wenn sie ihren Vater irgendwohin zu begleiten hatten.
Unwillkürlich fragte sich Salome, welchen Eindruck es wohl erwecken würde, wenn sie in ihrem Zustand ein einsam gelegenes Gehöft aufsuchte und dort um Hilfe bat.
Was sollte man von ihr denken? Würde man sie nicht wie eine Aussätzige behandeln – oder wie eine Hure?
Nein. Sie brauchte ja nur zu erzählen, was ihr widerfahren war. Vor Tagen – wie viele es waren, vermochte sie selbst nicht mehr zu sagen – hatten maskierte Banditen die Pferdekutsche ihres Vaters überfallen. In der Kutsche hatten Salome und ihr Vater gesessen.
Wie die Teufel waren die Kerle über ihre Opfer hergefallen. Erst hatten sie den Kutscher, dann Salomes Vater bewußtlos geschlagen.
Danach hatten sie eine Schatulle mit Schmuck an sich gerissen, die Pferde ausgespannt und Salome aus dem Inneren gezerrt. Anschließend hatten sie sich mit den Pferden, der Schatulle und ihrer Geisel aus dem Staub gemacht.
Salome wußte nicht, wo sich der Schlupfwinkel befand, in den sie die wüsten Kerle verschleppt hatten. Es war ein Gemäuer, aus dem es kein Entkommen gab. Die Kerle hatten ihr die Augen verbunden, als sie sie in ihr Versteck gebracht und eingesperrt hatten.
Diese Kerle waren keine Einheimischen. Sie sahen anders aus. Salome vermutete, daß sie Giaurs waren, Ungläubige aus dem Abendland. Wer immer sie waren – sie benahmen sich wie die Tiere. Schlimmer.
Jeden Abend veranstalteten sie die schlimmsten Gelage. Dann hörte das Mädchen, wie die Kerle lachten und grölten. Und Frauen, die sie nicht kannte, kreischten und kicherten.
Der eine Kerl hieß Dario. Soviel hatte Salome begriffen. Immer wieder versuchte er, sie zum Liebesspiel zu bewegen. Aber Salome hatte sich gewehrt.
Zuletzt hatte er ihr angedroht, er werde sie dazu zwingen. Genau das hatte er in der letzten Nacht tun wollen. Aber ihre Panik hatte Salome ungeheuren Mut verliehen.
Sie wußte selbst nicht, wie sie es geschafft hatte, die Vase zu ergreifen und dem Strolch auf den Schädel zu donnern. Aber sie hatte es geschafft. Und der betrunkene Giaur war besinnungslos zusammengebrochen. Eine bessere Chance hätte es für sie, Salome, nicht geben können.
Oder hatte sie einen Fehler begangen? Was war, wenn sie verhungerte oder verdurstete? Oder wenn sie von einem wilden Tier angefallen wurde? Konnte es nicht sein, daß eine giftige Schlange ihr in den Fußknöchel biß?
Entsetzt blieb das Mädchen wieder stehen. Ihr Blick huschte über den Untergrund. Hatte sich da nicht etwas bewegt?
Unsinn, sagte sie sich. Es war November, und in diesem Monat hielten die Reptilien bereits ihren Winterschlaf. Keine Panik, schärfte Salome sich ein, benutze lieber deinen Geist, deinen Verstand.
Sie eilte weiter. Bald vernahm sie das Gurgeln und Plätschern von Wasser. Sie folgte den Lauten und stieß auf eine kleine Quelle, die aus einem steinigen Hang hervorsprudelte.
Gierig trank Salome von dem kühlen, frischen Naß. Als sie wieder den Kopf hob, fühlte sie sich bedeutend besser.
Noch einmal trank sie, dann setzte sie ihren Fluchtweg fort. In welche Richtung mußte sie überhaupt laufen? Wahrscheinlich nach Westen, denn nach dem Überfall auf die Kutsche hatten die Banditen sie nach Osten entführt. Soviel hatte sie immerhin registriert.
Doch wie sollte sie sich orientieren? Am Stand der Sonne? Das konnte sie nicht. Auch in der Nacht hatte sie mit den Sternen am Firmament nichts anzufangen gewußt. Sich auf diese Weise in der Natur, in der Wildnis zurechtzufinden, war denn doch zu schwierig für sie.
Etwa eine halbe Stunde hastete das Mädchen weiter, da hörte sie erneut Geräusche. Sie blieb stehen.
Was war das?
Die Laute ertönten aus einiger Entfernung, schienen sich aber zu nähern. Dumpfes Klopfen und Pochen. Jetzt begriff Salome: Es war der Hufschlag von Pferden.
Rasch versteckte sich Salome in einem nahen Gebüsch. Mit heftig schlagendem Herzen lauschte sie. Wer waren die Reiter? Etwa dieser Dario und seine Horde?
O Allah, laß es nicht wahr sein, flehte sie im stillen. Oder handelte es sich um Landsleute, Jäger beispielsweise, die sie um Hilfe und Unterstützung bitten konnte?
Wieder wagte das Mädchen nicht, zu atmen. Der Hufschlag wurde lauter. Die Stimmen von Männern waren zu vernehmen. Und plötzlich hörte Salome auch noch etwas anderes – das Winseln und Hecheln von Hunden.
Ich sterbe, dachte sie voll Panik.
Die Reiter galoppierten heran. Salome stöhnte auf. Durch eine Lücke zwischen den Blättern konnte sie den Anführer erkennen. Es war Dario. Hinter ihm ritten gut ein Dutzend Kerle. Ihre Mienen waren finster.
Die Hunde liefen vor den Reitern her und hatten ihre Nasen auf dem Boden. Große Hunde. Vier oder fünf. In den Tagen ihrer Gefangenschaft in dem Gemäuer hatte Salome die Hunde nie gehört. Sie hatte nicht gewußt, daß die Banditen auch Hunde hatten.
Jetzt weißt du es, dachte Salome.
Sie drehte sich um und kroch davon. Sie gab sich Mühe, sich so vorsichtig wie möglich zu bewegen und keine Laute zu verursachen. Hinter ihrem Rücken unterhielten sich die Kerle miteinander – in ihrer Muttersprache. Einige von ihnen – wie Dario – konnten Salomes Sprache. Doch wenn sie unter sich waren, bedienten sie sich natürlich ihres wüsten Kauderwelsches.
Was sie sagte, konnte Salome also nicht verstehen. Aber sie hörte die Hunde winseln und bellen. Die Männer waren mit einemmal sehr aufgeregt. Salome hatte nicht den geringsten Zweifel – die Hunde hatten ihre Spur entdeckt.
Salome sprang auf und rannte. Sie schluchzte und keuchte. Ihr Herz hämmerte, ihre Brust schmerzte und schien zerspringen zu wollen. Sie raste dahin und wußte selbst nicht mehr, was sie suchte und sich erhoffte. Sie war wie von Sinnen.
Sie hörte, wie sich das Trappeln der Pferdehufe, das Fluchen der Kerle und das Hecheln der Hunde immer mehr näherten, wie die Meute hinter ihrem Rücken auftauchte.
Jetzt sterbe ich, dachte sie voll Grauen, jetzt zerfetzen sie dich!
2.
Mißtrauisch blickten der Seewolf und seine Mannen zu dem sich nähernden Einmaster. Sie hatten allen Grund, argwöhnisch zu sein. Es geschah selten, daß man Fremden begegnete, die einem freundlich gesonnen waren. In der letzten Zeit hatten die Arwenacks immer wieder die übelsten Überraschungen erlebt – nicht nur in Batumi, auch anderswo.
Dan beobachtete den Einmaster durch den Kieker.
„An Deck befinden sich fünf Mann“, sagte er. „Vielleicht Fischer.“
„Der Kahn ist nicht armiert?“ wollte der Seewolf wissen.
„Sieht nicht so aus.“ Dan reichte seinem Kapitän das Rohr, und Hasard spähte selbst hindurch.
Nun konnte er die Männer an Bord des Einmasters erkennen. Die Kerle hatten pechschwarzes Haar und Schnauzbärte und waren bunt gekleidet. Grinsend blickten sie der Dubas entgegen.
„Wir preien sie an“, sagte der Seewolf.
Kurz darauf, als die beiden Schiffe nur noch etwa eine Viertel Kabellänge voneinander entfernt waren, rief Ben Brighton zu dem Einmaster hinüber! „Welches Schiff, welcher Kapitän?“
Die fünf Kerle grinsten immer noch, gestikulierten aber nur. Allem Anschein nach verstanden sie kein Wort. Hasard gab seinen Söhnen ein Zeichen. Jetzt waren sie an der Reihe.
Philip junior schrie etwas auf türkisch zu den Kerlen hinüber. Das wirkte. Plötzlich lachten die fünf. Einer von ihnen erwiderte etwas, was die Arwenacks ihrerseits nicht verstanden.
Philip junior rief noch ein paar Worte, und die Kerle antworteten erneut mit einem grölenden Gelächter. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren.
„Sie sind Türken“, erklärte Hasard junior seinem Vater und den anderen Mannen. „Und wir befinden uns hier in der Türkei.“
„Was?“ Hasard konnte sein Erstaunen nicht verbergen. „Nach der langen Irrfahrt wieder in der Türkei?“
„Das ist wirklich ein starkes Stück“, sagte Shane.
„Hört denn diese Türkei nie auf?“ brummte Ferris Tucker.
„Um welche Meerenge handelt es sich?“ fragte der Seewolf.
„Um den Bosporus“, entgegnete Hasard junior.
„Na, das hört sich ja doch gar nicht so schlecht an“, sagte Ben. „Auf diese Weise gelangen wir nach Istanbul, wie uns das der gute Güngör erklärt hat.“
„Richtig“, pflichtete Hasard ihm bei. „Und von dort aus geht’s hinüber ins Mittelmeer.“
„Dann nichts wie klüsen“, sagte der Profos. „Wenn wir erst im Mittelmeer sind, gibt’s bestimmt wieder Schweinefleisch und guten Schnaps.“
„Wünsche hat der Mensch“, sagte der Kutscher mit schwachem Grinsen. Aber er selbst träumte auch von halbwegs heimatlichen Gaumenfreuden.
Der Einmaster glitt inzwischen an Backbord der Dubas vorbei. Die fünf Kerle johlten und pfiffen. Sie lachten wieder, besonders, als sie den Schimpansen Arwenack, den Papagei Sir John und Plymmie, die Wolfshündin, an Bord des Zweimasters erblickten. Auch Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, erregte ihre Aufmerksamkeit.
Die Mannen winkten zum Gruß, dann waren die Segler aneinander vorbei, und der Einmaster lief nach Norden ab. Die Dubas setzte ihren Kurs nach Süden fort.
„Sie sind tatsächlich Fischer“, sagte Philip junior. „Sicher habt ihr die Netze gesehen, die auf dem Deck liegen. Sie segeln ins Schwarze Meer, um Barsche und Makrelen zu fangen. Sie kommen aus Beylerbey, das ist ein nördlicher Vorort von Üsküdar auf der östlichen Seite des Bosporus. Dort könne man preiswert einkaufen, haben sie gesagt. Und es lohne sich, den Ort anzuschauen.“
„Die scheinen ja mächtig stolz auf ihr Nest zu sein“, sagte Carberry. „Was, zur Hölle, sollen wir dort? Proviant, Wasser und Wein haben wir genug, und Rum kriegen wir da bestimmt nicht.“
„Mal sehen“, sagte der Seewolf. „Vielleicht legen wir eine kurze Pause ein.“
„Damit irgendwelche Galgenstricke uns mit ihren Messern an die Gurgeln gehen?“ zischte Old O’Flynn. „Nun, da bin ich nicht mit von der Partie. Ich rate dir davon ab, Sir.“
„Wie wär’s, wenn wir ein wenig türkischen Honig kaufen?“ fragte Mac Pellew. „Das Zeug schmeckt verdammt gut.“
Die Mannen starrten ihn an, als sei er nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Carberry stieß einen üblen Fluch aus.
„Sag mal, spinnst du?“ fragte Higgy. „Türkischer Honig, pfui Teufel! Das ist doch was für Weiber!“
„Du hast überhaupt keine Ahnung“, erwiderte Mac mit einer Miene, als habe er soeben eine Pütz voll Essig ausgetrunken.
„Das stimmt“, sagte der Kutscher. „Die Türken sind berühmt für ihre Süßigkeiten. Sie sind auch ausgezeichnete Kuchenbäcker.“
„Klar“, sagte Philip junior grinsend. „Die ganze türkische Küche ist ausgezeichnet.“
„Also, müssen wir uns hier jetzt einen Vortrag über Fresserei anhören?“ polterte der Profos. „He, Mac, du stieläugiger Rochen, sieh lieber nach, ob euer Kombüsenfeuer noch brennt. Und ihr anderen Rübenschweine, was steht ihr hier eigentlich rum und haltet Maulaffen feil? Was ist das überhaupt für ein Schlendrian? Bewegt euch, ihr Affenärsche, schwenkt eure lahmen Knochen! Es gibt genug zu tun! Mister O’Higgins, du irischer Rotbarsch, wenn du nicht aufpaßt, stolperst du gleich über das Tau hinter dir, das nicht richtig aufgeschlossen ist! Ja, pennt ihr denn heute alle, ihr Kanalratten?“
Die Männer bezogen ihre Stationen. Es hatte keinen Sinn, sich mit Carberry anzulegen. Wenn der seinen „Rappel“ kriegte, hielt man am besten den Mund. Außerdem war es schon einige Zeit her, daß der Profos mal wieder richtig vom Leder zog.
Sein Fluchen und Poltern gehörte bei den Arwenacks mit zur Seemannschaft. Das war der springende Punkt: Wenn der Profos nicht brüllte, war er nicht gesund. Jetzt aber schien er aufzuleben. Bald war das Mittelmeer erreicht! Wenn das keine gute Nachricht war!
Hasard, Ben und die anderen Männer der Schiffsführung versammelten sich auf dem Achterdeck. Sie beratschlagten, was sie in den nächsten Stunden unternehmen sollten – ob sie Istanbul überhaupt anliefen oder nicht.
Sicherlich – das wußte Hasard schon jetzt – würde es nicht ganz einfach sein, Istanbul völlig unbehelligt zu passieren. Hundert Schwierigkeiten konnten dort auf sie warten.
„Aber Probleme sind dazu da, in Angriff genommen zu werden“, sagte Don Juan de Alcazar.
„Stimmt“, erwiderte der Seewolf. „Wir könnten allerdings auch bei Nacht am Hafen von Istanbul vorbeilaufen.“
„Das findet sich schon“, sagte Ben. „Laß uns doch erst mal dort sein.“
„Denkt an meinen Beinstumpf“, knurrte Old O’Flynn. „Der zwackt immer noch. Wir kriegen Verdruß.“
„Wann?“ fragte Shane trocken.
„Wenn ich das wüßte!“
„Wir halten weiterhin Augen und Ohren offen“, sagte der Seewolf. „Sollten wir von Schnapphähnen angegriffen werden, wissen wir uns unserer Haut zu wehren.“
Vorsichtshalber ließ er gefechtsklar machen. Die sechs Drehbassen der Dubas waren bereits geladen. Kupferbecken mit Holzkohlenglut zum Entfachen der Lunten wurden bereitgestellt. Und die Arwenacks hielten auch ihre Musketen und Tromblons griffbereit.
Wer immer sie angreifen sollte, er würde nichts zu lachen haben.
In ihrer Panik kletterte Salome auf einen Baum. Sie schrammte sich die Knie auf, rutsche ab und dachte, sie würde es nicht mehr schaffen, aber dann erreichte sie doch einen größeren Ast, richtete sich auf und hielt sich zitternd am Stamm fest.
Unten sprangen die Hunde am Stamm hoch und schnappten nach den Beinen des Mädchens. Sie knurrten und geiferten. Salome konnte hören, wie ihre Zähne zusammenschlugen.
Und nun trafen auch die Reiter ein. Allen voran Dario Porceddu. Hart zügelten die Kerle ihre Pferde. Darios Tier stieg mit den Vorderhufen auf und schnaubte wild.
Salome versuchte sich zu verbergen. Vergebens. Die Kerle hatten sie schon entdeckt. Sie grölten und lachten.
„Komm herunter!“ schrie Dario.
Salome antwortete nicht. Sie bebte am ganzen Leib. Ihre Knie wurden weich und drohten nachzugeben.
„Komm her!“ brüllte der Anführer. „Oder ich hole dich!“
„Nein!“ schrie sie.
„Ich dachte schon, sie wäre stumm!“ brüllte einer der Banditen, und die anderen lachten wie verrückt.
„Mach nicht alles noch schlimmer!“ schrie Dario. „Noch hast du eine Chance! Ergib dich, und es passiert dir nichts! Oder willst du, daß ich dir mein Messer zwischen die Rippen stoße?“
„Nein!“
„Dann komm!“
„Die Hunde!“ jammerte das Mädchen.
Dario Porceddu glitt vom Sattel seines Pferdes. Er grinste hart, hob eine Peitsche und prügelte damit auf die Hunde ein. Die Tiere winselten und kniffen die Schwänze ein. Sie duckten sich und blickten aus triefenden Augen zu ihrem Herrn auf.
„Zurück!“ befahl Dario. Tatsächlich wichen die Hunde von dem Baum zurück. Dario gab seinen Kerlen einen Wink. „Festbinden, die Biester! Als Hundefutter ist mir die kleine Hure doch zu schade.“
Die Kerle lachten und kicherten, als habe ihr Anführer den großartigsten Witz der Welt gerissen. Ja, dieser Dario war wirklich ein Teufel! Ein Satansbraten erster Kategorie! Und sein Bruder Silvestro war noch wilder und brutaler. Doch von dessen Existenz wußte das Mädchen Salome nichts. Sie hatte bislang nur Dario gesehen.
Glucksend vor Vergnügen nahmen die Banditen die Hunde an die Leine. Ein großer, bärenstarker Kerl mit pechschwarzem Bart hielt die Tiere fest. Er hieß Brodzu.
Dario schaute zu Salome hoch. Seine Augen fixierten das Mädchen. Sie zitterte nach wie vor heftig. Das Grauen und die Panik schnürten ihr die Kehle zu.
„Alles in Ordnung, Dario“, sagte Brodzu.
„Gut.“ Dario Porceddus Augen verengten sich. „Also, zum letztenmal. Komm her, Salome.“
„Ich – habe Angst!“
„Die Hunde werden dir nichts tun.“
„Du willst – mich töten!“ stammelte das Mädchen.
„Ich könnte dich erschießen, mit meinem Gewehr“, sagte Dario mühsam beherrscht. „Aber ich tue es nicht. Du weißt, warum.“
„Nein! Nein!“
„Ich will dich lebend“, erklärte Dario. „Den Grund dafür kennst du.“
„Niemals!“ stieß Salome entsetzt hervor. Dann schrie sie: „Hilfe! Hilfe!“
„Schrei, soviel du willst“, sagte Dario unbeeindruckt. „Es wird dir keiner helfen. Hier in der Nähe befindet sich kein einziges Gehöft. Wir sind die einzigen Menschen weit und breit. Wie findest du das?“