Читать книгу: «Seewölfe Paket 33», страница 27
Die Vorrahen wurden herumgeholt, erst vierkant- und dann angebraßt. Die Galeone legte sich nach Backbord über und luvte weiter an.
Großobermars- und Großuntermarssegel wurden angebraßt und der Besan wieder gesetzt. Capitán Chinchilla verließ endlich seinen Standort nahe dem achteren Steuerbordniedergang und postierte sich neben der Hecklaterne.
Er sah die spärliche Lichterkette des Konvois in der Dunkelheit verschwinden. Nur die „Santa Helena“ und die „Concordia“ glitten noch in Rufweite vorbei – und die schlanke Galeone mit dem wohlklingenden Namen „Isabella“. Aber auch dort entdeckte keiner die auf Gegenkurs liegende „Nuestra Señora de lagrimas“.
Chinchilla war zufrieden, als er durchs Spektiv blickte. Daß sich die Flucht so einfach gestalten würde, hätte er nicht geglaubt.
Die Schebecke lag noch immer ungefähr gleichauf mit der „Reputacion“ und der „Santos los Reyes Mayos“. Bald würde sie selbst in der Vergrößerung der Linsen nur mehr als schwach funkelnder Lichtpunkt erscheinen.
Die Mannschaft war mit dem Trimmen der Segel befaßt. Das Großsegel wurde wieder gesetzt. Danach würde die Galeone merklich schnellere Fahrt laufen.
„Wir haben es geschafft“, sagte Chinchilla halblaut, als eine hagere Gestalt auf ihn zutrat. Der Mann blieb knapp zwei Schritte auf Distanz.
„Darf ich fragen, was geschieht?“ sagte er heiser.
Erst an der Stimme erkannte der Kapitän José Serrador. Der Erste Offizier war einer der wenigen Männer, aus denen Chinchilla nur schwer klug wurde. Serrador war undurchsichtig, ein Kerl wie ein Eisklotz, kalt, hart und kantig. Zumindest im Moment hätte ihn der Kapitän lieber in der Koje gesehen, als neben sich an Deck.
„Wir haben den Kurs geändert“, sagte Chinchilla knapp. „Die Mannschaft ist im Begriff, aufzuklaren.“
„Die halbe Mannschaft“, erwiderte Serrador und, bewies damit, daß er sich schon im Vorschiff umgesehen hatte. „Segeln wir nach Frankreich?“
„Nach Spanien“, sagte der Kapitän frei heraus.
„Wenn Sie mit der Garotte um den Hals enden wollen, Capitán, ist das allein Ihre Sache. Ich lasse mir eine solche Entscheidung aber nicht aufzwingen.“
„Was wollen Sie dagegen tun, Señor Serrador?“ Der Kapitän ahnte, zu welchem schnellen Entschluß sein Erster gelangen würde, deshalb fügte er sofort hinzu: „Lassen Sie Ihre Waffe ruhig stecken, denn ich müßte einen solchen Vorfall als offene Meuterei auffassen. Ich habe meine Gründe, so zu handeln, wie ich es tue, und es ist mir weiß Gott nicht leichtgefallen. Aber vielleicht wartet die Admiralität nur auf eine Nachricht.“
„Das ist lachhaft und absurd. Capitán, Sie haben hoffentlich die Güte, mich von jeder Verantwortung freizustellen.“
„Verlangen Sie ein Schriftstück?“
„Das wäre sicherlich das Beste.“
„Morgen“, versprach Chinchilla und widmete sich wieder seinen Beobachtungen.
Mindestens eine Seemeile lag die Schebecke nun schon achteraus. Der Schein der Hecklaternen begann miteinander zu verschmelzen. Der Kapitän konzentrierte sich aber nur halb auf den Blick durchs Spektiv.
José Serrador hatte ihm soeben wieder einen Beweis seiner Unberechenbarkeit geliefert. Der Erste Offizier nutzte die Gunst der Stunde, um ohne eigene Verantwortung nach Spanien zurückzukehren. Zugleich hielt er sich für den Fall den Rücken frei, daß Chinchilla mit der Umkehr den größten Fehler seines Lebens beging.
„Mistkerl“, murmelte der Kapitän lautlos.
Im nächsten Moment erschrak er. Der Blick durchs Fernrohr zeigte ihm, daß die Schebecke verschwunden war. Ihre Laterne brannte entweder nicht mehr, oder sie wurde verdeckt.
Alvaro Chinchilla verspürte ein sehr ungutes Gefühl. Je länger er die wogende Wasserfläche mit dem Spektiv absuchte, desto mulmiger wurde ihm.
Er sah die anderen Schiffe – nur die Schebecke nicht.
4.
Die Wachablösung um Mitternacht bestand aus Dan O’Flynn, Sam Roskill und Jeff Bowie. Es gab keine Veränderungen, die Anlaß zur Sorge geboten hätten. Der Konvoi lag weiterhin auf Nordkurs, die Schiffe stampften gleichmäßig gegen Drift und Wellen an.
Sam Roskill, der die Pinne übernommen hatte, begann nach der ersten halben Stunde leise vor sich hin zu summen.
Dan patrouillierte im vorderen Bereich des Achterdecks von Luv nach Lee und zurück. Vergeblich versuchte er in der Schwärze der Nacht fremde Schiffe zu entdecken. Es gab keine, und das würde sich kaum ändern, bevor die Nähe der englischen Küste erreicht war.
„Plymouth ist nahe!“ rief Jeff halblaut vom Vorschiff. „Ich kann die Kneipenluft schon riechen!“
„Solange ich nichts sehe, riechst du nichts“, erwiderte Dan spitz. „Bestenfalls deinen eigenen Mief.“
„Hör mal“, protestierte Jeff, „es ist gar nicht lange her, daß ich ein Bad genommen und dazu sogar ein mächtiges Stück Bimsstein benutzt habe.“
„Wie schön für dich. Du könntest dich natürlich auch ohne was an in den nächsten Regen stellen.“
„Das hat jeder nötig.“ Jeff Bowie war ein stämmiger, grauäugiger Mann, tapfer, gerecht und eher zurückhaltend. Daß Dan O’Flynn ihn bestimmt nicht provozieren wollte, wußte er. Es waren die äußeren Umstände, die zu kleinen Sticheleien reizten.
Dan blieb an Backbord stehen. Das bißchen spärliche Helligkeit, das von der Hecklaterne bis zu ihm strahlte, reichte aus, die anderen erkennen zu lassen, daß er angespannt beobachtete. Mühelos glich er das Stampfen und Rollen des Schiffes aus – ein möglicherweise angepeiltes Objekt hätte er anderenfalls auch sofort wieder aus den Augen verloren.
„Was ist?“ raunte Sam Roskill nach einer Weile. „Siehst du was?“
„Herzlich wenig.“
„Dann ist es ja gut.“
„Ganz und gar nicht. Eine unserer ‚Goldenen Hennen‘ versucht vermutlich abzuhauen. Ich sah noch das letzte Aufflackern der Hecklaterne, seitdem liegt das Schiff in Finsternis.“
„Das kann mehrere Ursachen haben. Eine davon allerdings, daß die Mannschaft nach Spanien zurück will.“
Dan beobachtete wieder.
Die Nacht hatte eine Galeone verschluckt. Der Position nach zu schließen, handelte es sich um die „Nuestra Señora de lagrimas.“
Dan O’Flynn wartete geduldig. Vorschnell Alarm zu schlagen, lag ihm nicht. Als nach einer Zeitspanne, die er für ausreichend hielt, eine Deckswache die möglicherweise defekte Laterne austauschen zu lassen, kein neues Licht aufflammte, schnalzte er leise mit der Zunge.
„Also doch?“ fragte Sam Roskill von der Pinne her. „Ich hätte nicht geglaubt, daß jemand die Flucht versuchen würde.“
Eine weitere Laterne erlosch. Aber nur für die Dauer eines flüchtigen Lidschlags. Im nächsten Moment strahlte sie so hell wie zuvor. Selbst Dan, der Mann mit den schärfsten Augen der Crew, war versucht anzunehmen, daß er sich getäuscht hatte. Das nahezu unablässige Starren in die Dunkelheit hinaus verführte sehr leicht dazu, daß man Lichtpunkte sah, wo keine waren, manchmal sogar leuchtende Kreise oder flackernde, sich wie Seeschlangen windende Linien, oder daß Objekte, die eben noch klar und deutlich zu erkennen waren, gleich darauf scheinbar spurlos verschwanden.
Die Laterne verblaßte zum zweitenmal. Sie wurde von etwas verdeckt, was vor ihr vorüberzog.
Dan verwünschte die Tatsache, daß jedes Schiff des Konvois aus Sicherheitsgründen nur mit einem einzigen Licht segelte. Trotzdem war er jetzt überzeugt davon, daß die „Nuestra Señora de lagrimas“ im Begriff war, zu halsen. Die Galeone hatte soeben mit dem Heck durch den Wind gedreht und dabei flüchtig die hinter ihr stehende „Patricia“ verdeckt.
„Die Nacht wird nicht so ruhig, wie du befürchtet hast“, rief Dan Sam Roskill zu, bevor er leichtfüßig zur Kuhl huschte und von dort zu den achteren Kammern.
Hasard war sofort hellwach, als Dan O’Flynn ans Schott klopfte. Vermutlich hatte er noch nicht fest geschlafen oder sich noch mit Problemen beschäftigt, die in Kürze anstanden.
„Die ‚Nuestra Señora‘“, wiederholte er, während er sich eilig ankleidete. „Kapitän Chinchilla ist zwar nur ein Dickkopf wie mancher andere auch, aber ich fürchte, er könnte eine gewisse Vorreiterrolle übernehmen. Anders als bei der ‚Nobleza‘ dürfte ausschlaggebend sein, daß Spanien inzwischen hinter uns liegt. Falls er abhaut, werden die anderen es ebenfalls versuchen, und dann haben wir das Kraut fett.“ Er blickte Dan forschend an. Ein leichter Zug von Belustigung vermischte sich mit der eben noch in seinem Gesicht erkennbaren Besorgnis. „Geh und wecke die Crew. Aber die Männer sollen ohne Licht an Deck erscheinen. Wir schlagen Chinchilla mit seinen eigenen Waffen.“
Die Galeone hatte mit Sicherheit noch keinen so großen Vorsprung herausgesegelt, als daß sie nicht innerhalb kurzer Zeit hätten aufschließen können. Erst nach seinem Kommando „klar zum Wenden!“ ließ Hasard die Laterne löschen. In völliger Dunkelheit drehte der Dreimaster mit dem Bug durch den Wind und lief dann nahezu exakt auf Südkurs. Die Arwenacks beherrschten das Manöver noch besser als die Spanier, bei ihnen war nicht einen Moment lang Zögern zu erkennen.
„Klar Deck überall!“
Das Tauwerk wurde belegt und aufgeschossen. Mit Steuerbordhalsen und vorlichem Wind folgte die Schebecke der längst von der Nacht verschluckten Galeone.
Dan O’Flynns Platz war jetzt auf der Back, dicht neben dem Fockmast. Unablässig blickte er durchs Spektiv und suchte die Dunkelheit nach einer Spur der Verfolgten ab.
Es gab keine klare Trennlinie zwischen Himmel und Meer. Wasser und Wolken verschmolzen miteinander zu einer Einheit, nur aufwirbelnde Gischtschwaden oder verfließende Schaumkronen zeigen manchmal einen sehr nahen Horizont. Der Atlantik hatte sich noch längst nicht beruhigt.
Stärker als zuvor krängte die Schebecke. Manche Wellen waren so hoch, daß sie schäumend vor dem Bug aufstiegen und sich tosend über die Back auf die Kuhl ergossen. Dan O’Flynn achtete kaum darauf, daß er sehr schnell durchnäßt war und der Wind sich eisig durch seine Kleidung fraß.
Unvermittelt stand Hasard neben ihm.
„Geh nach achtern, Dan, und wärme dich auf.“
„Nicht jetzt.“ Old Donegals Sohn blies etliche Wassertropfen von der vorderen Linse des Spektivs und widmete seine Aufmerksamkeit erneut der undurchdringlich scheinenden Schwärze der Nacht. „Ich denke, wir müssen die Spanier bald sehen.“
Hasard zog Dan an der Schulter zu sich herum.
„Was ich sagte, war ein Befehl.“
„Aye, Sir!“ murmelte Dan wenig erbaut.
Hasard blickte ihm kurz hinterher, dann übernahm er den Beobachtungsposten. Es war alles andere als angenehm, auf der Back den hochsteigenden Brechern und dem schneidenden Wind zu trotzen und dabei das unregelmäßige Stampfen und Schlingern des Schiffes so auszugleichen, daß das Spektiv möglichst ruhig auf einen Punkt gerichtet blieb. Zudem trieb ungewöhnlich viel Tang in der aufgewühlten See, der an Deck zurückblieb und die Planken schnell glitschig werden ließ.
Einmal glaubte Hasard, einen Schatten aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Nicht mehr als höchstens zwanzig Yards entfernt. Doch als er sich darauf konzentrierte, liefen die ohnehin nur vagen Konturen vor seinen Augen auseinander. Er hatte sich das Schiffsheck nur eingebildet.
Vielleicht segelte die Schebecke einige hundert Yards an der „Nuestra Señora de lagrimas“ vorbei, ohne daß jemand aufmerksam wurde. Falls Chinchilla nicht den geraden Kurs wählte, sondern es vorzog, zunächst zur französischen Küste hin abzufallen, würde auch eine intensivere Suche im Morgengrauen kaum den erhofften Erfolg bringen.
Dan O’Flynn kehrte schon wieder zurück. Er hatte lediglich die Kleidung gewechselt und trug jetzt festeres Zeug, durch das die Nässe nicht mehr so leicht hindurchdrang.
„Der Ärger geht erst los!“ prophezeite Old Donegal auf der Kuhl. „Wegen eines solchen Affenarsches müssen wir den Konvoi verlassen.“
„Reg dich nicht auf, Admiral!“ rief der Profos mit mühsam gedämpfter Stimme. „Das schadet der guten Verdauung. Außerdem sind die ‚Isabella‘ und die ‚Wappen von Kolberg‘ auch noch da. Oder traust du den Kerls überhaupt nichts zu?“
Old O’Flynns Antwort hörte Hasard nicht mehr, weil Dan ihn in dem Moment anstieß und nach Backbord voraus deutete.
„Da!“ raunte er. „Ein Schatten. Schätzungsweise fünfhundert Yards Distanz.“
Hasard sah nichts. Wieder einmal bewahrheitete sich, daß Dan Augen wie ein Falke hatte.
„Es ist die Schatzgaleone.“ Dan O’Flynn verriet nicht, woran er das erkannte. Wahrscheinlich zog er seine Schlüsse aus der Tatsache, daß das Schiff ohne Licht segelte.
„Ruder ein Strich Backbord!“ rief der Seewolf halblaut zur Kuhl hinunter. Der Befehl wurde weitergegeben.
Das Knarren der Rahruten, das Singen der Pardunen und das monotone Rauschen der Bugwelle veränderten sich nur wenig. Langsam schwenkte die Schebecke herum.
„Gut so!“ rief Dan.
Hasard sah die „Nuestra Señora de lagrimas“ noch immer nicht. Aber dann entdeckte er den fahlen Schimmer einer sich verlaufenden Hecksee. Allerdings fand er den feinen Schaumstreifen nur, weil er wußte, wo er danach suchen mußte.
„Ausgezeichnet!“ lobte er. „Wir gehen bis auf Tuchfühlung ran.“
„Soll ich den Rudergänger einweisen?“
„Genau das wollte ich eben anordnen, Dan. Chinchilla soll der Schreck in alle Glieder fahren, daß er ihn so schnell nicht mehr vergißt.“
5.
Die „Nuestra Señora de lagrimas“ lief mit gutem Wind südwärts. Nach und nach verschwanden die Lichter des Konvois achteraus in der Nacht.
Je mehr Zeit verstrich, desto ruhiger wurde Capitán Chinchilla. Don Julio de Vilches und seine Mannschaften waren auch nur Menschen mit allen Fehlern und Schwächen. Wahrscheinlich würde sich der Sonderbeauftragte in den Hintern beißen, wenn er bei den ersten Sonnenstrahlen feststellte, daß eine der Schatzgaleonen fehlte.
Alvaro Chinchilla bedauerte nur, daß er nicht dabeisein konnte, um diesen Anblick zu genießen. Wenn sich nun noch herausstellte, daß de Vilches auf eigene Faust handelte und ein Schwindler und Betrüger war …
Der Capitán stutzte. Irgend etwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt, nur wußte er nicht zu sagen, was.
Ein Geräusch.
Er lauschte aufmerksam, aber vergeblich. Da waren nur das Singen des Windes in Stagen, Wanten und Pardunen, das leise Knistern der Segel und das Ächzen und Stöhnen des Schiffsrumpfs, sobald er sich in ein Wellental senkte und dabei noch weiter überholte. Die „Nuestra Señora de lagrimas“ war ein gutes Schiff, das schon manchen Sturm schadlos überstanden hatte, selbst wenn andere, leichter beladene Galeonen dabei zu den Fischen gingen.
Zufrieden klopfte Chinchilla mit der flachen Hand auf die Brüstung der Achterdecksverschanzung. Die „Señora“ war treuer und anspruchsloser als alle Frauen, die er an Land kennengelernt hatte.
Sie teilte alles mit ihm, Freude und Trauer ebenso wie Hunger und Überfluß, sie gab ihm ein Zuhause, in dem er sich wohlfühlte, und er sorgte dafür, daß ihre Plankennähte stets dicht waren und der Rumpf frei von Muscheln und anderem Bewuchs.
Unwillkürlich kniff Chinchilla die Brauen zusammen. Sein Blick wanderte über die schäumende Hecksee, glitt tiefer in die Dunkelheit und weiter nach Backbord. Die gischtende Woge, die dort scheinbar mit der „Señora“ mitlief, hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diese Woge schien sich zu teilen, als würde sie gegen ein verborgenes Riff gedrückt.
Nur gab es eben keine Felsen, die achterlich einem Schiff folgten.
Im selben Moment wußte der Kapitän, daß seine Hoffnungen trogen. Julio de Vilches segelte keine halbe Kabellänge hinter ihm.
Die Folgen konnte er sich an den Fingern einer Hand abzählen.
„Nicht mit mir!“ stieß er gepreßt zwischen den Zähnen hervor. „Das Gold der ‚Señora‘ wurde noch nie nach Irland verfrachtet, und das wird es auch diesmal nicht.“
Er peilte nochmals an der Hecklaterne vorbei in die Nacht. Die gischtende Woge, die er für die Bugwelle der Schebecke hielt, war noch da. Sie schien sich sogar ein Stück genähert zu haben.
Alvaro Chinchilla hastete nach vorn zur Kuhl.
„Bereit zum Anluven!“ befahl er mit halblauter Stimme. „De Vilches segelt auf kurze Distanz hinter uns.“
Die Männer reagierten unterschiedlich. Einige stöhnten unterdrückt, andere murrten oder ergingen sich in Verwünschungen. Jemand rief, daß es sinnlos und verrückt sei, sich gegen de Vilches aufzulehnen. Chinchilla erkannte die Stimme nicht.
Aber gerade deshalb sagte er: „Wem meine Entscheidung nicht paßt, der kann über Bord springen. Laßt euch von der Schebecke auffischen.“
Zufrieden registrierte er, daß Brassen und Schoten klargelegt wurden. Die „Nuestra Señora de lagrimas“ mußte hoch an den Wind gehen und wieder blitzschnell abfallen, sobald die Schebecke folgte. Ihm war klar, daß nur die Hecksee die Position der Galeone verraten haben konnte, so wie er den Verfolger wegen seiner Bugwelle entdeckt hatte.
Die einzige Chance bestand darin, kurzfristig die Distanz zu vergrößern und backzubrassen, bis die Fahrt gänzlich aufgezehrt war. Mit aufgetuchten Segeln würde die „Señora“ lediglich mit der Strömung treiben und keine verräterische Spur nach sich ziehen. Der nahende Morgen mußte dann zeigen, ob die Entscheidung richtig gewesen war.
Chinchilla hoffte, daß der Sonnenaufgang nicht schon in drei Stunden erfolgte, sondern daß die Dämmerung wegen der undurchdringlichen Wolkendecke länger auf sich warten ließ.
Er erteilte den Befehl zum Anluven, als auf der kaum noch fünfzig Schritte entfernten Schebecke eine starke Blendlaterne aufflammte. Ihr Schein reichte aus, das Achterschiff der „Señora“ der Dunkelheit zu entreißen.
„Schneller, Männer!“ zischte der Kapitän. „Zwanzig Peitschenhiebe für jeden, der nicht spurt!“
Sie gaben ihr Bestes, die Galeone luvte hart an, aber der zitternde Lichtkegel ruhte unverrückbar auf dem Heck.
Als die Schebecke noch höher an den Wind ging und weiter aufschloß, ließ Chinchilla abfallen.
Mit schlagenden, sich rasch wieder blähenden Segeln glitt die Galeone so dicht an der Schebecke vorbei, daß Einzelheiten sichtbar wurden. Vorübergehend nahm die „Nuestra Señora de lagrimas“ dem Dreimaster sogar den Wind aus den Segeln.
„Geben Sie auf, Capitán!“ rief Julio de Vilches vom Achterdeck herüber. „Sie werden sich den Unmut des Königs zuziehen!“
Chinchilla lachte schrill.
„Kein Ire wird unser Gold und Silber je zwischen die Finger kriegen“, brüllte er zurück. „Ich traue Ihnen nicht mehr, de Vilches! Wer sagt mir, daß Sie nicht selbst versessen auf die Schätze sind?“
„Ich!“ erklang es laut und ohne jede Regung. Der Schein der Blendlaterne huschte über die Galeone und verharrte auf dem Capitán.
„Wenn Sie mich daran hindern wollen, nach Spanien zurückzusegeln, müssen Sie mein Schiff versenken.“
De Vilches erwiderte nichts mehr. Beide Schiffe waren aneinander vorbei, und die Galeone schickte sich an, in der Dunkelheit unterzutauchen. Geräuschvoll füllte der Wind wieder die Lateinersegel der Schebecke.
Auf drei- bis vierhundert Yards schätzte Chinchilla die Distanz, bis die Verfolger ebenfalls auf dem neuen Kurs lagen. Das war herzlich wenig, doch es mußte genügen.
Die Laterne war gelöscht worden. Wo er auch hinblickte, der Kapitän glaubte dennoch ihren hellen Schein zu sehen. Selbst wenn er die Lider schloß, wich die Blendwirkung nur zögernd. Er stieß eine ellenlange Verwünschung aus, die seine aufkeimende Unsicherheit überspielen sollte.
„Halten Sie es wirklich für angebracht, den Sonderbeauftragten herauszufordern, Capitán?“ Der Erste Offizier stand plötzlich neben ihm. Die Daumen hatte er herausfordernd hinter den Waffengurt gehakt. „Die Schebecke ist schneller als unsere Galeone und schwerer bestückt.“
„Wollen Sie mir Vorschriften erteilen, Serrador?“ fragte der Kapitän gereizt.
„Ich versuche nur zu erinnern, daß nicht die gesamte Mannschaft Ihr Vorgehen billigt.“
„Vergessen Sie’s!“ Mit einer flüchtigen Handbewegung wischte Chinchilla sämtliche Bedenken beiseite. „Ich weiß, was ich tue.“ Das klang lauernd und aggressiv.
„Selbstverständlich, Capitán“, beeilte sich José Serrador zu versichern. „Daran habe ich nie gezweifelt.“
Chinchilla wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. „Lassen Sie die achteren Geschütze klarmachen!“
„Capitán …“
„Haben Sie mich verstanden?“
„Jawohl“, stieß der Erste knirschend zwischen den Zähnen hervor. „Es ist Ihre Entscheidung.“
Um Alvaro Chinchillas Mundwinkel zuckte es verhalten, als er wieder allein an der brusthohen Verschanzung lehnte und in die Nacht starrte. Er würde sich bald nach einem anderen Ersten umsehen. Das Gefühl, daß Serrador nach der Kapitänswürde strebte, ließ sich nicht mehr ignorieren.
Die Gedanken des Spaniers wurden schnell in andere Bahnen gelenkt, als er achteraus, in der Hecksee der Galeone, einen Schatten entdeckte. Offenbar schloß die Schebecke erneut auf. Die Entfernung betrug höchstens noch zweihundert Schritte.
Ein verächtliches Lächeln umspielte Chinchillas Mundwinkel. Er wandte sich um und rief: „De Vilches segelt im Kielwasser hinter uns. Feuer frei für die Heckgeschütze! Ohne Befehl feuern!“
Wer die Anordnung weitergab, wußte er nicht, es war ihm auch ziemlich egal. Jedenfalls hörte er gleich darauf das Poltern der schweren Lafetten, das von der Galerie zu erklingen schien. Die beiden Achtzehnpfünder standen aber auf dem Deck darunter, zu beiden Seiten des Ruderblatts.
Die Kanonen wurden ausgerannt und auf ein Ziel ausgerichtet, das auf dem Batteriedeck niemand sehen konnte. Hauptsache, die Kerle hielten drauf und Don Julio de Vilches erkannte, daß seiner Macht Grenzen gesetzt waren.
Alvaro Chinchilla dachte an die leider nur spärlichen Informationen, die die Kapitäne erhalten hatten, während der Konvoi auf Reede vor Havanna zusammengestellt worden war. Auf Ost-Nord-Ost-Kurs nach Teneriffa zu segeln, war wirklich neu gewesen.
Im dortigen Haupthafen Santa Cruz, so hatte es geheißen, würde der Geleitzug vom Kommandanten de Vilches mit seiner riesigen Kriegsgaleone „Casco de la Cruz“ übernommen werden. Nun, Don Julio de Vilches war da, jedoch nicht mit einem Schiff, sondern gleich mit deren drei, und er ließ auch nicht Spanien anlaufen, sondern segelte geradewegs nach Irland.
Niemand, selbst der Generalkapitän nicht, kannte den Kommandanten persönlich.
Chinchilla hämmerte mit der Faust auf den Handlauf. Er ahnte, daß er der Antwort auf viele Fragen so nahe war wie nie zuvor – aber noch entzog sie sich seinem Zugriff.
Unter ihm brüllte das Backbordgeschütz auf. Zuckender Feuerschein erhellte für die Dauer eines Lidschlags die See ringsum, dann wölkte dichter Pulverdampf hoch.
Durchs Spektiv versuchte der Kapitän, den Einschlag des Geschosses zu erkennen. Leider sah er nicht einmal mehr den Schatten, den er für die Schebecke hielt. Vor seinen Augen tanzten grelle Lichterscheinungen einen verwirrenden Reigen. Er blinzelte und massierte mit den Fingerspitzen Augenwinkel und Nasenwurzel.
Nicht minder heftig zündete das zweite Rohr. In das Krachen der Pulverladung mischten sich andere Geräusche, ein Dröhnen, Splittern und Poltern, als würde das Schiffsheck bersten, und dazwischen die Flüche der Männer. Wahrscheinlich war eins der Brooktaue gebrochen, die den Rückstoß des Geschützes auffingen, und die Lafette hatte eine Innenwand durchschlagen.
Der Kapitän konnte nicht feststellen, ob ein Wirkungstreffer erzielt worden war. Achteraus blieb alles ruhig. Er biß sich auf die Unterlippe, bis er warmen Blutgeschmack im Mund verspürte. Angewidert spie er aus.
„Die Blinde setzen!“
Vergessen war die Absicht, ohne Fahrt über Grund abzuwarten. Die Schebecke lauerte in unmittelbarer Nähe, das spürte er beinahe körperlich. Ihr davonzulaufen, war das einzige, was noch blieb, nachdem die Schüsse den Standort der „Señora“ verraten hatten. Was spielte es da für eine Rolle, ob die Männer beim Vorheißen der Blinde Gefahr liefen, den Halt zu verlieren?
Keine hundert Schritte entfernt blitzte es auf. Der Kanonendonner rollte einen Augenblick später heran und klang wie Hohngelächter in Chinchillas Ohren.
Fünf Mannslängen hinter der Galeone stieg eine gigantische Wassersäule aus der See empor und fiel rauschend und schäumend wieder in sich zusammen.
Zwei weitere Mündungsblitze verrieten, daß de Vilches keineswegs davor zurückschreckte, seine Befehle mit Waffengewalt durchzusetzen. Beide Einschläge lagen so dicht neben dem Heck der „Señora“, daß Alvaro Chinchilla unwillkürlich den Atem anhielt, weil er jeden Augenblick das Splittern von Planken zu hören glaubte. Die Fontänen stiegen höher als das Achterdeck und überschütteten ihn mit einem Schwall eisigen Wassers.
Er lief nach vorn.
„Was ist los mit der Blinde?“ brüllte er. „Wie lange soll ich warten?“
Vor dem Niedergang zur Kuhl vertrat ihm der Erste den Weg. „Befehlen Sie beizudrehen, Capitán!“
„Noch haben wir nicht verloren.“
„De Vilches schießt uns in Grund und Boden.“
„Das wird er nicht wagen.“
„Er segelt auf.“
Die Hecklaterne und zwei kleinere Lichter mittschiffs erhellten jetzt die Decks der Schebecke. Sie rauschte mit einem Tempo heran, mit dem die Schatzgaleone niemals mithalten konnte. Chinchilla ballte die Hände zu Fäusten, sein Gesicht verzerrte sich in ohnmächtigem Zorn.
Kaum einer kümmerte sich noch um die Blinde. Alle starrten dem Dreimaster entgegen, der so hart auf die „Nuestra Señora de lagrimas“ zuhielt, als hätte die Mannschaft Befehl zum Entern. Gerade sechs Schritte Zwischenraum blieben schließlich zwischen den Bordwänden.
Don Julio de Vilches stand im vorderen Bereich des Achterdecks. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte unbeweglich wie eine Statue. Licht und Schatten wechselten auf seinem Gesicht und ließen es kantig erscheinen.
Neben ihm stand ein alter Mann mit weißem Haar, einer riesigen weißen Halskrause und überheblichem Grinsen im runzligen Gesicht. Er richtete die Blendlaterne erneut auf die Galeone.
„Desertieren!“ rief er schrill. „Gold und Silber selbst behalten, als wäret ihr lausige Piraten! Don Julio de Vilches sollte euch für diese Unverschämtheit zu den Haien schicken!“
„Wir haben uns entschlossen, die Schätze nur dem König zu übergeben und niemandem sonst!“ brüllte Alvaro Chinchilla zurück.
„Wer ist wir?“ fragte Hasard.
„Die Mannschaft und ich.“
„Dann werden alle Männer die Folgen ihrer Handlungsweise zu tragen haben. Segeln Sie jetzt zum Konvoi zurück!“
Chinchilla blieb unbeweglich am Schanzkleid stehen.
„Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden, Capitán“, sagte Hasard gereizt.
„Doch, Don Julio, sehr gut sogar“, erwiderte der Spanier. „Leider sehe ich mich außerstande, Ihren Befehl auszuführen. Er ist mit meinem Treueeid für den König unvereinbar.“
Hasard holte erst tief Luft. Doch der auf der Galeone offensichtlich erwartete Wutausbruch blieb aus.
Statt dessen sagte er mit eisig klirrender Stimme und gerade so laut, daß man ihn auf der „Nuestra Señora de lagrimas“ noch verstehen konnte: „Sie sind im Begriff, die Order König Philipp III. zu sabotieren, Capitán. Lassen Sie sich gesagt sein, daß ich über weitreichende Vollmachten verfüge. Ich scheue nicht davor zurück, Ihren gesamten Sauhaufen an die Rah zu knüpfen, wenn ich damit Spanien einen Dienst erweise.“
Capitán Chinchilla wurde blaß.
„Das wagen Sie nicht …“
„Eine Schlinge um Ihren Hals, Capitán, wird Sie vermutlich sehr schnell davon überzeugen, daß mir das Wohl unserer Heimat sehr am Herzen liegt. Ich gehe davon aus, daß ich auch Ihnen in Havanna avisiert wurde. Dann wissen Sie, daß ich das Kommando über den Geleitzug erhalten habe. Um so unverständlicher ist mir Ihr Verhalten.“
„Keineswegs die ganze Mannschaft will nach Spanien zurückkehren, Don Julio!“ rief ein hagerer Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. „Etliche Männer würden selbst in die Hölle segeln, wenn Seine Majestät es befiehlt.“
„Wer sind Sie?“
„Verzeihung, Capitán, ich bin der Erste Offizier, José Serrador.“
Dem Seewolf entging keineswegs der unbeherrschte Griff Chinchillas zum Degen. Dabei beließ der Kapitän es aber, abgesehen von dem verbissenen Zug, der sich plötzlich um seine Mundwinkel abzeichnete. Niemand mußte Hellseher sein, um zu erkennen, daß er und sein Erster sich nicht sonderlich grün waren. Vermutlich hatte es schon öfter Streitigkeiten zwischen ihnen gegeben.
„Sie wären bereit, die ‚Nuestra Señora de lagrimas‘ nach Irland zu führen, Señor Serrador?“ fragte Hasard.
„Selbstverständlich“, bestätigte der Erste.
„Dann gibt es keine Probleme“, sagte der Seewolf. „Sie, Capitán, haben die Wahl zwischen der Schlinge und dem Gehorsam.“
Alvaro Chinchilla starrte ihn unbewegt an. Haß begann sich in seinem Gesicht abzuzeichnen. Hasard wußte, daß er diesen Mann schwer getroffen hatte, er würde ihm nie den Rücken zuwenden dürfen. Doch darüber konnte er nur lachen.
Ruckartig wandte sich der Kapitän um. Seine Befehle waren eindeutig.
Die „Nuestra Señora de lagrimas“ kehrte zum Konvoi zurück.