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Arme Leute

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M. Djewuschkin.

P. S. Ich wollte Ihnen, Warinka, mein Unglück halb scherzhaft beschreiben, Warinka, aber man sieht, daß es mir nicht mehr gelingen will, das Scherzen nämlich. Ich wollte Sie etwas zerstreuen. Ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen.

11. August.

Warwara Alexejewna! Mein Täubchen! Verloren bin ich, beide sind wir verloren, unrettbar verloren! Mein Ruf, meine Ehre – alles ist verloren! Und ich bin es, der Sie ins Verderben gebracht hat! Ich werde geschmäht, mein Kind, verachtet, verspottet, und die Wirtin beschimpft mich schon laut und vor allen Menschen. Heute hat sie wieder geschrien, geschrien und mich mit Vorwürfen überhäuft, als wäre ich ein Nichts und ein Dreck! Und am Abend begann dann jemand von ihnen bei Ratasäjeff einen meiner Briefe an Sie laut vorzulesen: einen Brief, den ich nicht beendet und in die Tasche gesteckt hatte, und den ich dann irgendwie aus der Tasche verloren haben muß. Mein liebes, liebes Kind, wie haben sie da gelacht! Wie sie uns betitelt haben und wie sie höhnten, wie sie höhnten, die Verräter! Ich hielt es nicht aus und ging zu ihnen und beschuldigte Ratasäjeff des Treubruchs und sagte ihm, daß er ein Falscher sei! Ratasäjeff aber erwiderte mir darauf, ich sei selbst ein Falscher und beschäftige mich nur mit Eroberungen. Ich hätte sie alle getäuscht, sagte er, im Grunde aber sei ich ja sozusagen ein Lovelace! Und jetzt, mein Kind, werde ich nun von allen hier nur noch Lovelace genannt, einen anderen Namen habe ich überhaupt nicht mehr! Hören Sie, mein Engelchen, hören Sie – die wissen doch jetzt alles von uns, sind von allem unterrichtet, und auch von Ihnen, meine Gute, wissen sie alles, alles ist ihnen bekannt, alles, was Sie, mein Engelchen, betrifft! Und auch der Faldoni ist jetzt mit ihnen im Bunde. Ich wollte ihn heute hier in den kleinen Laden schicken, damit er mir ein Stückchen Wurst kaufe, aber nein, er geht nicht, er habe zu tun, sagt er. – Du mußt doch, es ist doch deine Pflicht, sage ich.

»Auch was Gutes – meine Pflicht!« höhnte er, »Sie zahlen doch meiner Herrin kein Geld, folglich gibt's da nichts von Pflicht.«

Das ertrug ich nicht, Kind, von diesem ungebildeten, frechen Menschen eine solche Beleidigung, und so schalt ich ihn denn einen »Dummkopf!«, er aber sagte mir darauf bloß kurz: »Das sagt mir nun so einer!« – Ich dachte erst, daß er betrunken sei, hielt es ihm denn auch vor: »Hör mal,« sagte ich, »du bist wohl betrunken?« – Er aber grobte mich an:

»Haben Sie mir denn was zu trinken gegeben? Sie haben doch nicht einmal so viel, daß Sie sich selber betrinken könnten!« und dann brummte er noch: »Das soll nun ein Herr sein!«

Da sehen Sie jetzt, wie weit es mit uns gekommen ist, mein Kind! Man schämt sich, zu leben, Warinka! Ganz wie ein Verrufener kommt man sich vor, schlimmer noch als irgendein Landstreicher. Schwer ist es, Warinka! Verloren bin ich, einfach verloren! Unrettbar verloren!

M. D.
13. August.
Lieber Makar Alexejewitsch!

Uns sucht jetzt ein Unglück nach dem anderen heim, auch ich weiß nicht mehr, was man noch tun soll! Was wird nun aus Ihnen werden, auf meine Arbeit können wir uns auch nicht mehr verlassen. Ich habe mir heute mit dem Bügeleisen die linke Hand verbrannt: ich ließ es versehentlich fallen und beschädigte und verbrannte mich, gleich beides zusammen. Arbeiten kann ich nun nicht, und Fedora ist auch schon den dritten Tag krank. Oh, diese Sorge und Angst!

Hier sende ich Ihnen dreißig Kopeken: das ist fast das Letzte, was wir haben, Gott weiß, wie gern ich Ihnen jetzt in Ihrer Not helfen würde. Es ist zum Weinen!

Leben Sie wohl, mein Freund! Sie würden mich sehr beruhigen, wenn Sie heute zu uns kämen.

W. D.
14. August.
Makar Alexejewitsch!

Was ist das mit Ihnen? Sie fürchten wohl Gott nicht mehr? Und mich bringen Sie um meinen Verstand. Schämen Sie sich denn nicht!? Sie richten sich zugrunde. So denken Sie doch an Ihren Ruf! Sie sind ein ehrlicher, ehrenwerter, strebsamer Mensch – was werden die Menschen sagen, wenn sie das erfahren? Und Sie selbst, Makar Alexejewitsch, Sie werden doch vergehen vor Scham! Oder tut es Ihnen nicht mehr leid um Ihre grauen Haare? So fürchten Sie doch wenigstens Gott!

Fedora sagt, daß sie Ihnen jetzt nicht mehr helfen werde, und auch ich kann Ihnen unter diesen Umständen kein Geld mehr schicken. Was haben Sie aus mir gemacht, Makar Alexejewitsch! Sie denken wohl, es sei mir ganz gleichgültig, daß Sie sich so schlecht aufführen. Sie wissen noch nicht, was ich Ihretwegen auszustehen habe! Ich kann mich gar nicht mehr auf unserer Treppe zeigen: alle sehen mir nach, alle weisen mit dem Finger auf mich und sagen solche Schändlichkeiten, – ja, sie sagen geradezu, daß ich mit einem Trunkenbold ein Verhältnis habe. Wie glauben Sie, daß mir zumute ist, wenn ich so etwas hören muß! Und wenn man Sie nach Hause bringt, sagt alles mit Verachtung von Ihnen: »Da wird der Beamte wieder gebracht.« Ich aber – ich schäme mich zu Tode für Sie. Ich schwöre Ihnen, daß ich diese Wohnung hier verlassen werde. Und sollte ich auch Stubenmagd oder Wäscherin werden – hier bleibe ich auf keinen Fall!

Ich schrieb Ihnen, daß ich Sie erwarte, Sie sind aber nicht gekommen. Meine Tränen und Bitten sind Ihnen also schon gleichgültig, Makar Alexejewitsch? Aber sagen Sie doch, wo haben Sie denn nur das Geld dazu aufgetrieben? Um Gottes willen, nehmen Sie sich in acht! Sie werden doch sonst verkommen, ganz sicher verkommen! Und diese Schande, diese Schmach! Gestern hat die Wirtin Sie nicht mehr hineingelassen, da haben Sie auf der Treppe die Nacht verbracht – ich weiß alles. Wenn Sie wüßten, wie weh es mir tat, als ich das von Ihnen hören mußte!

Kommen Sie zu uns, hier wird es Ihnen leichter werden: wir können zusammen lesen, können von früheren Zeiten reden. Fedora kann uns von ihren Erlebnissen erzählen. Makar Alexejewitsch, tun Sie es mir nicht an, daß Sie sich zugrunde richten, Sie richten damit auch mich zugrunde, glauben Sie es mir! Ich lebe doch nur noch für Sie allein, nur Ihretwegen bleibe ich hier. Und Sie sind jetzt so! Seien Sie doch ein anständiger Mensch, seien Sie doch charakterfest und standhaft, auch im Unglück. Sie wissen doch: Armut ist keine Schande. Und weshalb denn verzweifeln? Das ist doch alles nur vorübergehend. Gott wird uns schon helfen und alles wird wieder gut werden, wenn Sie sich nur jetzt noch etwas zusammennehmen!

Ich sende Ihnen zwanzig Kopeken, kaufen Sie sich dafür Tabak, oder was Sie da wollen, nur geben Sie sie um Gottes willen nicht für Schlechtes aus. Kommen Sie zu uns, kommen Sie unbedingt zu uns! Sie werden sich vielleicht wieder schämen, wie neulich – aber lassen Sie das, das wäre ja bloß falsche Scham. Wenn Sie nur aufrichtig bereuen wollten! Vertrauen Sie auf Gott. Er wird alles zum besten wenden.

W. D.
19. August.
Warwara Alexejewna, mein Kindchen!

Ich schäme mich, mein Sternchen, ich schäme mich. Doch übrigens, Liebling, was ist denn dabei so Besonderes? Warum soll man nicht sein Herz etwas erleichtern? Sieh: ich denke dann nicht mehr an meine Stiefelsohlen – eine Sohle ist doch nichts und bleibt ewig nur eine einfache, gemeine, schmutzige Stiefelsohle. Und auch Stiefel sind nichts! Sind doch die griechischen Weisen ohne Stiefel gegangen, wozu also soll sich unsereiner mit einem so nichtswürdigen Gegenstande abgeben? Warum mich deshalb gleich beleidigen und verachten? Ach, Kind, mein Kind, da haben Sie nun etwas gefunden, das Sie mir schreiben können! – Der Fedora aber sagen Sie, daß sie ein närrisches, unzurechnungsfähiges Weib ist, mit allerlei Schrullen im Kopf, und zum Ueberfluß auch noch dumm, unsagbar dumm! Was aber meine grauen Haare betrifft, so täuschen Sie sich auch darin, meine Gute, denn ich bin noch lange nicht so ein Alter, wie Sie denken.

Jemeljä läßt Sie grüßen. Sie schreiben, Sie hätten sich gegrämt und hätten geweint, und ich schreibe Ihnen, daß auch ich mich gegrämt habe und weine. Zum Schluß aber wünsche ich Ihnen Gesundheit und Wohlergehen, und was mich betrifft, so bin ich gleichfalls gesund und wohl und verbleibe mit besten Grüßen, mein Engelchen, Ihr Freund

Makar Djewuschkin.
21. August.

Sehr geehrtes Fräulein und liebe Freundin, Warwara Alexejewna!

Ich fühle es, daß ich schuldig bin, ich fühle es, daß Sie mir viel zu verzeihen haben, aber meiner Meinung nach ist damit nichts gewonnen, Kind, daß ich alles dies fühle. Ich habe das alles auch schon vor meinem Vergehen gefühlt, bin aber dann doch gefallen, im vollen Bewußtsein meiner Schuld.

Kind, mein Kind, ich bin nicht hartherzig und böse. Um aber Ihr Herzchen, mein Täubchen, zerfleischen zu können, müßte man gar ein blutdürstiger Tiger sein. Nun, ich habe ein Lämmerherz und, wie Ihnen bekannt sein dürfte, keine Veranlagung zu blutdürstiger Raubtierwildheit. Folglich bin ich, mein Engelchen, nicht eigentlich schuld an meinem Vergehen, ganz wie mein Herz und meine Gedanken nicht schuldig sind. Das ist nun einmal so, und ich weiß es selbst nicht, was oder wer eigentlich die Schuld trägt. Das ist nun schon so eine dunkle Sache mit uns, mein Kind!

 

Dreißig Kopeken haben Sie mir geschickt und dann noch zwanzig Kopeken: mein Herz weinte, als ich Ihre Waisengeldchen in Händen hielt. Sie haben sich das Händchen verbrannt und verletzt und bald werden Sie hungern müssen. Trotzdem schreiben Sie, ich soll mir noch Tabak kaufen. Nun sagen Sie selbst: was sollte ich denn tun? Einfach und ohne alle Gewissensbisse, recht wie ein Räuber Sie armes Waisenkindchen zu berauben anfangen?! Es sank mir eben der Mut, mein Kind, das heißt, zuerst fühlte ich nur unwillkürlich, daß ich zu nichts tauge und daß ich selbst höchstens nur um ein Geringes besser sei, als meine Stiefelsohle. Ja, ich hielt es sogar für unanständig, mich für irgend etwas von Bedeutung, und wärs etwas noch so Geringes, zu halten, sondern fing an, in mir etwas Unwürdiges und bis zu einem gewissen Grade geradezu Gemeines und Niederes zu sehen. Nun, und als ich so die rechte Selbstachtung verloren hatte und mich der Verneinung der eigenen guten Eigenschaften und der Verleugnung meiner Menschenwürde überließ, da war denn schon so gut wie alles verloren, und er konnte kommen, der Sturz, der unvermeidliche! Das war mir offenbar so vom Schicksal bestimmt. Ich aber bin nicht schuld daran.

Ich ging nur hinaus, um etwas frische Luft einzuatmen. Doch da kam gleich eins zum anderen: auch die Natur war so regnerisch, verweint und kalt. Und dann kam mir plötzlich noch der Jemeljä entgegen. Er hatte bereits alles versetzt, Warinka, alles, was er besaß, und schon seit zwei Tagen hatte er kein Gotteskorn mehr im Munde gehabt, so daß er bereits solche Sachen versetzen wollte, die man überhaupt nicht versetzen kann, weil doch niemand so etwas als Pfand annimmt.

Nun ja, Warinka, da gab ich ihm denn nach, und zwar mehr aus Mitleid mit der Menschheit als aus eigenem Verlangen. So kam es zu jener Sünde, mein Kind! Wir weinten beide, Warinka! – sprachen auch von Ihnen! Er ist ein sehr guter, ein herzensguter Mensch, und ein sehr gefühlvoller Mensch. Das fühlte ich alles, mein Kind, und deshalb ist es denn auch so gekommen, eben weil ich das alles fühlte.

Ich weiß, wieviel Dank, mein Täubchen, ich Ihnen schuldig bin! Als ich Sie kennen lernte, begann ich, auch mich selbst besser kennen zu lernen und Sie zu lieben. Bis dahin aber, mein Engelchen, war ich immer einsam gewesen und hatte eigentlich nur so mein Leben verdämmert und gar nicht wirklich auf der Erde gelebt, wie die anderen! Die bösen Menschen, die da ewig sagten, daß meine Erscheinung einfach ruppig sei, und sich schämten, mit mir zu gehen, brachten mich so weit, daß auch ich mich schließlich ruppig fand und mich meiner selbst zu schämen begann. Sie sagten, ich sei stumpfsinnig, und ich dachte auch wirklich, daß ich stumpfsinnig sei. Seitdem Sie aber in mein Leben getreten sind, haben Sie es mir hell gemacht, so daß es in meinem Herzen wie in meiner Seele licht geworden ist. Ich lernte endlich so etwas wie Seelenfrieden kennen und erfuhr, daß ich nicht schlechter war als die anderen. Daß ich dabei bin, wie ich bin, daß ich durch nichts glänze, keinen Schliff besitze, keine Umgangsformen: das ist nun einmal so. Trotzdem bin ich immer noch ein Mensch, ja, bin mit dem Herzen und den Gedanken ein ganzer Mensch! Nun, und dann, als ich fühlte, daß das Schicksal mich verfolgte, als ich, durch das Schicksal erniedrigt, zuließ, daß ich meine Menschenwürde selber vernichtete, als ich unter der Last meiner Anfechtungen zusammenbrach, da habe ich eben den Mut verloren: und das war das Unglück!

Doch da Sie jetzt alles wissen, mein Kind, bitte ich Sie unter Tränen, mich nie mehr über diesen Zwischenfall auszufragen oder auch nur davon zu reden, denn mein Herz ist schon ohnehin zerrissen und das Leben wird mir schwer und bitter.

Ich bezeuge Ihnen, mein Kind, meine Ehrerbietung und verbleibe Ihr treuer

Makar Djewuschkin.
3. September.

Ich habe meinen letzten Brief nicht beendet, Makar Alexejewitsch, es fiel mir zu schwer, zu schreiben. Bisweilen habe ich Augenblicke, wo es mich freut, allein zu sein, allein meinem Kummer nachhängen zu können, allein, ganz allein die Qual auszukosten, und solche Stimmungen überfallen mich jetzt immer häufiger. In meinen Erinnerungen liegt etwas mir Unerklärliches, das mich unwiderstehlich gefangen nimmt, und zwar in einem solchen Maße, daß ich oft stundenlang für alles mich Umgebende vollständig unempfindlich bin und die Gegenwart, alles Gegenwärtige, vergesse. Ja, es gibt in meinem jetzigen Leben keinen Eindruck, gleichviel welcher Art, der mich nicht an etwas Aehnliches aus meinem früheren Leben erinnerte, am häufigsten an meine Kindheit, meine goldene Kindheit! Doch nach solchen Augenblicken wird mir immer unsäglich schwer zumute. Ich fühle mich ganz entkräftet, meine Schwärmerei erschöpft mich und meine Gesundheit wird sowieso schon immer schwächer.

Doch dieser frische, helle, glänzende Herbstmorgen, wie wir ihn jetzt selten haben, hat mich heute neu belebt und mit Freude erfüllt. So haben wir schon Herbst! O, wie liebte ich den Herbst auf dem Lande! Ich war ja damals noch ein Kind, aber doch fühlte und empfand ich schon alles in gesteigertem Maße. Den Abend liebte ich im Herbst eigentlich mehr als den Morgen. Ich erinnere mich noch – nur ein paar Schritte weit von unserem Hause, am Berge, lag der See. Dieser See – es ist mir, als sehe ich ihn jetzt wirklich vor mir – so hell und rein, wie Kristall! War der Abend ruhig, dann spiegelte sich alles im See. Kein Blatt rührte sich in den Bäumen am Ufer, der See lag blank und regungslos wie ein großer Spiegel. Frisch und kühl! Im Grase blinkt der Tau. In einer Hütte fern am Ufer brennt schon das Herdfeuer, die Herden werden heimgetrieben – da schleiche ich denn heimlich aus dem Hause zum See und schaue und schaue und vergesse ganz, daß ich bin. Ein Bündel Reisig brennt bei den Fischern dicht am Ufer und der Feuerschein fließt in einem langen Streifen auf dem Wasserspiegel zu mir hin. Der Himmel ist blaßblau und kalt und im Westen über dem Horizont ziehen sich rote feurige Streifen, die nach und nach bleicher werden und schließlich ganz blaß vergehen. Der Mond geht auf. Die Luft ist so klar, so regungslos still – bald fliegt ein Vogel auf oder rauscht das Schilf leise unter einem Windhauch – alles, selbst das leiseste Geräusch ist deutlich zu hören. Ueber dem blauen Wasser erhebt sich langsam weißer Nebel, so leicht und durchsichtig. In der Ferne dunkelt es, es ist, als versinke dort alles im Nebel, in der Nähe aber ist alles so scharf umrissen – das Boot, das Ufer, die Insel – eine alte Tonne, die im Schilf vergessen ist, schaukelt kaum-kaum merklich auf dem Wasser, ein Weidenzweig mit vertrockneten Blättern liegt nicht weit von ihr im Schilf. Eine verspätete Möve fliegt auf, taucht ins Wasser, fliegt wieder auf und verschwindet im Nebel, – und ich schaute und horchte, – wundervoll, so wundervoll war mir zumut! Und doch war ich noch ein Kind… !

Ich liebte den Herbst, namentlich den Spätherbst, wenn das Korn schon eingeerntet ist, die Feldarbeiten beendet sind, man des Abends in den Hütten zusammenkommt und alle sich auf den Winter vorbereiten. Dann werden die Tage dunkler, der Himmel bewölkt sich, die Wälder werden gelb, das Laub fällt von den Bäumen und die Bäume stehen kahl und schwarz, – namentlich abends, wenn sich noch feuchter Nebel erhebt, dann erscheinen sie wie dunkle, unförmige Riesen, wie schreckliche Gespenster. Und wenn man sich auf dem Spaziergang etwas verspätet und hinter den anderen zurückbleibt – wie eilt man ihnen dann nach, und wie groß wird die Bangigkeit! Man zittert wie ein Espenblatt, auf einmal – hinter jenem Baumstamm – hat sich dort nicht etwas Schreckliches versteckt, das gleich hervorlugen wird? Und da fährt der Wind durch den Wald und es braust und rauscht und dazwischen scheinen Stimmen zu heulen und zu klagen, und Blätter fliegen durch die Luft und wirbeln im Winde, und plötzlich zieht rauschend mit gellem Geschrei eine ganze Wolke Zugvögel vorüber. Die Angst wächst ins Riesenhafte, und da ist es – als hörte man jemand, eine fremde Stimme raunen: »Laufe, laufe, Kind, verspäte dich nicht, hier wird alles gleich voll Grauen sein, laufe, Kind!« – und Entsetzen erfaßt das Herz und man läuft und läuft, bis man außer Atem zu Hause anlangt. Im Hause aber ist Leben und Fröhlichkeit: uns Kindern wird eine Arbeit gegeben, Erbsen auszuhülsen oder Mohnkörnchen aus den Kapseln zu schütteln. Im Ofen prasselt das Feuer, Mama beaufsichtigt lächelnd unsere fröhliche Arbeit und die alte Kinderfrau Uljana erzählt uns schreckliche Märchen von Zauberern und Räubern. Und wir Kinder rücken ängstlich einander näher, aber das Lächeln will doch nicht von den Lippen weichen. Und plötzlich ist alles still… Hu! da, ein Surren und Klopfen – pocht jemand an der Tür? – Nein, es ist nur das Spinnrad der alten Frolowna! Und wie wir lachen! Dann aber kommt die Nacht, und man kann vor Angst nicht schlafen, Schreckbilder und Träume verscheuchen die Müdigkeit. Und wacht man auf, so wagt man nicht sich zu rühren und liegt zitternd bis zum Morgengrauen unter der Decke. Wenn aber dann die Sonne in das Zimmer scheint, steht man doch wieder frisch und munter auf und schaut neugierig durch das Fenster: auf dem Stoppelfelde liegt silbriger Herbstreif und alle Bäume und Büsche sind bereift. Wie eine dünne Glasscheibe hat sich Eis auf dem See gebildet, und die Vögel zwitschern lustig. Und Sonne, überall Sonne, wie Glas bricht das dünne Eis unter den warmen Strahlen. So hell ist es, so klar, so… so wonnig!

Im Ofen prasselt wieder das Feuer, wir setzen uns an den Tisch, auf dem schon der Samowar summt, und durch das Fenster sieht unser schwarzer Hofhund Polkan und wedelt schmeichelnd mit dem Schwanz. Ein Bäuerlein fährt am Hause vorüber, in den Wald, nach Holz. Alle sind so zufrieden, so frohgemut!.. In den Scheunen sind ganze Berge von Korn aufgehäuft, in der Sonne glänzt goldgelb die Strohdeckung der großen, großen Heuschober – es ist eine wahre Lust, das alles anzusehen! Und alle sind ruhig, alle sind froh: alle fühlen den Segen Gottes, der ihnen in der Ernte zuteil wurde, alle wissen, daß sie im Winter nicht darben werden, und der Bauer weiß, daß er seinen Kindern Brot zu geben hat und sie satt sein werden. Deshalb hört man abends die Lieder der Mädchen, die fröhlich ihren Reigen tanzen, deshalb sieht man sie alle am Feiertage ihr Dankgebet im Gotteshause sprechen… Ach wie wundervoll, wie wundervoll war meine Kindheit!..

Da habe ich jetzt wie ein Kind geweint. Daran sind natürlich nur diese Erinnerungen schuld. Ich habe so lebhaft, so deutlich alles vor mir gesehen, die ganze Vergangenheit lebte auf, und die Gegenwart erscheint mir jetzt doppelt trüb und dunkel!.. Wie wird das enden, was wird aus uns werden? Wissen Sie, ich habe das seltsame Vorgefühl oder sogar die Ueberzeugung, daß ich in diesem Herbst sterben werde. Ich fühle mich sehr, sehr krank. Ich denke oft an meinen Tod, aber eigentlich möchte ich doch nicht so sterben – würde nicht in dieser Erde ruhen wollen… Vielleicht werde ich wieder krank, wie im Frühling, denn ich habe mich von jener Krankheit noch nicht erholt.

Fedora ist heute für den ganzen Tag ausgegangen und ich bin allein. Seit einiger Zeit fürchte ich mich, wenn ich allein bin: es scheint mir dann immer, daß noch jemand mit mir im Zimmer ist, daß jemand zu mir spricht, und zwar besonders dann, wenn ich aus meinen Träumereien, die mich mit ihren Erinnerungen ganz gefangen nehmen und die Wirklichkeit vergessen lassen, plötzlich erwache und mich umsehe. Es ist mir dann, als habe sich etwas Unheimliches im Zimmer versteckt. Sehen Sie, deshalb habe ich Ihnen auch einen so langen Brief geschrieben: wenn ich schreibe, vergeht es wieder – Leben Sie wohl. Ich schließe meinen Brief, ich habe weder Papier noch Zeit, um weiterzuschreiben. Von dem Gelde für meine verkauften Kleider und den Hut habe ich nur noch einen Rubel. Sie haben Ihrer Wirtin zwei Rubel gegeben, das ist gut: jetzt wird sie hoffentlich eine Weile schweigen. – Versuchen Sie doch, Ihre Kleider irgendwie ein wenig auszubessern. Leben Sie wohl, ich bin so müde. Ich begreife nicht, wovon ich so schwach geworden bin. Die geringste Beschäftigung ermüdet mich. Wenn Fedora mir eine Arbeit verschafft – wie soll ich dann arbeiten? Das ist es, was mir den Mut raubt.

W. D.
5. September.
Mein Täubchen Warinka!

Heute, mein Engelchen, habe ich viele Eindrücke empfangen. Mein Kopf tat mir den ganzen Tag über weh. Um die Kopfschmerzen zu vertreiben, ging ich schließlich hinaus: ich wollte längs der Fontanka wenigstens etwas frische Luft schöpfen. Der Abend war düster und feucht. Jetzt dunkelt es doch schon um sechs! Es regnete nicht, aber es war neblig, was noch unangenehmer zu sein pflegt, als ein richtiger Regen. Am Himmel zogen die Wolken in langen, breiten Streifen dahin. Viel Volk ging auf dem Kai. Es waren lauter schreckliche Gesichter, die ich sah, Gesichter, wie sie einen geradezu schwermütig machen können, betrunkene Kerle, stumpfnäsige finnländische Weiber in Männerstiefeln und mit strähnigem Haar, Handwerker und Kutscher, Herumtreiber jeden Alters, Bengel: irgendein Schlosserlehrling in einem gestreiften Arbeitskittel, so ein ausgemergelter, blutarmer Junge mit schwarzem, rußglänzendem Gesicht, ein Schloß in der Hand, oder irgendein ausgedienter Soldat von Riesengröße, der Federmesserchen und billige unechte Ringe feilbietet – das war das Publikum. Es muß wohl gerade die Stunde gewesen sein, in der sich ein anderes dort gar nicht zeigt!

 

Die Fontanka ist ein breiter und tiefer Kanal, sogar Schiffe können ihn passieren. Frachtkähne lagen da, in einer solchen Menge, daß man gar nicht begriff, wie ihrer nur so viele Platz hatten – denn die Fontanka ist doch immerhin nur ein Kanal und kein Fluß. Auf den Brücken saßen Hökerweiber mit nassen Pfefferkuchen und verfaulten Aepfeln, so schmutzige, garstige Weiber! Es ist nichts, an der Fontanka spazieren zu gehen! Der feuchte Granit, die hohen, dunklen Häuser: unten die Füße im Nebel, über dem Kopf gleichfalls Nebel… So ein trauriger, so ein dunkler, lichtloser Abend war es heute.

Als ich in die nächste Straße, in die Gorochowaja, einbog, war es schon ganz dunkel geworden. Man zündete gerade das Gas an. Ich war lange nicht mehr auf der Gorochowaja gewesen – es hatte sich nicht so gemacht. Eine belebte, großartige Straße! Was für Läden, was für Schaufenster! – alles glänzt nur so und leuchtet… Stoffe und Seidenzeuge und Blumen unter Glas… und was für Hüte mit Bändern und Schleifen! Man denkt, das sei alles nur so zur Verschönerung der Straße ausgestellt, aber nein: es gibt doch Menschen, die diese Sachen kaufen und ihren Frauen schenken! Ja, eine reiche Straße! Viele deutsche Bäcker haben dort ihre Läden – das müssen auch wohlhabende Leute sein. Und wieviel Equipagen fahren alle Augenblicke vorüber – wie das Pflaster das nur aushält! Und alles so feine Kutschen, die Fenster wie Spiegel, inwendig alles nur Samt und Seide, und die Kutscher und Diener so stolz, mit Tressen und Schnüren und Degen an der Seite! Ich blickte in alle Wagen hinein und sah dort immer Damen sitzen, alle so geputzt und großartig. Vielleicht waren es lauter Fürstinnen und Gräfinnen? Es war wohl gerade die Zeit, in der sie auf Bälle fahren, zu Diners oder Soupers. Es muß doch sehr eigen sein, eine Fürstin oder überhaupt eine vornehme Dame einmal in der Nähe zu sehen. Ja, das muß sehr schön sein. Ich habe noch niemals eine in der Nähe gesehen: höchstens so in einer Kutsche und im Vorüberfahren. Da mußte ich denn heute immer an Sie denken. – Ach, mein Täubchen, meine Gute! Während ich jetzt wieder an Sie denke, da will mir mein Herz brechen! Warum müssen Sie denn so unglücklich sein, Warinka? Mein Engelchen! Sind Sie denn schlechter, als jene? Sie sind gut, sind schön, sind gebildet, weshalb ist Ihnen da ein solches Los beschieden? Warum ist es so eingerichtet, daß ein guter Mensch in Armut und Elend leben muß, während einem anderen sich das Glück von selbst aufdrängt? Ich weiß, ich weiß, mein Kind, es ist nicht gut, so zu denken: das ist Freidenkerei! Aber offen und aufrichtig, wenn man so über die Gerechtigkeit der Dinge nachdenkt – weshalb, ja, weshalb wird nur dem einen Menschen schon im Mutterschoß das Glück fürs ganze Leben bereitet, während der andere aus dem Findelhaus in die Welt Gottes hinaustritt? Und es ist doch wirklich so, daß das Glück öfter einem Närrchen Iwanuschka zufällt.

»Du Närrchen Iwanuschka, wühle nach Herzenslust in den Goldsäcken deiner Väter, iß, trink, freue dich! Du aber, der und der, leck dir bloß die Lippen, mehr hast du nicht verdient, da siehst du, was du für einer bist!«

Es ist sündhaft, mein Kind, ich weiß, es ist sündhaft, so zu denken, aber wenn man nachdenkt, dann drängt sich einem nun einmal ganz unwillkürlich die Sünde in die Gedanken. Ja, dann könnten auch wir in so einer Kutsche fahren, mein Engelchen, mein Sternchen! Hohe Generäle und Staatsbeamte würden nach einem Blick des Wohlwollens von Ihnen haschen – und nicht unsereiner. Sie würden dann nicht in einem alten Kattunkleidchen umhergehen, sondern in Seide und mit funkelnden Edelsteinen geschmückt. Sie würden auch nicht so mager und kränklich sein, wie jetzt, sondern wie ein Zuckerpüppchen, frisch und rosig und gesund aussehen. Ich aber würde schon glücklich sein, wenn ich wenigstens von der Straße zu Ihren hellerleuchteten Fenstern hinaufschauen und vielleicht einmal Ihren Schatten erblicken könnte. Allein schon der Gedanke, daß Sie dort glücklich und fröhlich sind, mein Vögelchen, Sie, mein reizendes Vögelchen, würde mich gleichfalls fröhlich und glücklich machen. Aber jetzt!.. Nicht genug, daß böse Menschen Sie ins Unglück gebracht haben, nun muß auch noch ein Wüstling Sie beleidigen! Doch bloß weil sein Rock elegant ist und er Sie durch eine goldgefaßte Lorgnette betrachten kann, der Schamlose, bloß deshalb ist ihm alles erlaubt, bloß deshalb muß man seine schamlosen Reden noch untertänig anhören! Ist denn darin aber Gerechtigkeit? Und weshalb darf man das? Weil Sie eine Waise sind, Warinka, weil Sie schutzlos sind, weil Sie keinen starken Freund haben, der für Sie eintreten und Ihnen Schutz und Schirm gewähren könnte!

Doch was ist das für ein Mensch, was sind das für Menschen, denen es nichts ausmacht, eine schutzlose Waise zu beleidigen? – Das sind eben nicht Menschen, das ist Gesindel, einfach Gesindel, ein irgendetwas, das bloß als Summe zählt, als Begriff, ein trübes Etwas, das es in Wirklichkeit und als Einzelwesen überhaupt nicht gibt – davon bin ich überzeugt. Sehen Sie, das sind sie, diese Leute! Und meiner Ansicht nach, meine Liebe, verdient jener Leiermann, dem ich heute auf der Gorochowaja begegnet bin, viel eher die Achtung der Menschen, als diese. Er schleppt sich zwar nur kläglich umher und sammelt die wenigen Kopeken, um seinen Unterhalt zu bestreiten, dafür aber ist er sein eigener Herr und ernährt sich selbst. Er will nicht umsonst um Almosen bitten, er dreht zur Freude der Menschen seine Orgel, dreht und dreht wie eine aufgezogene Maschine – also mit anderen Worten: womit er eben kann, damit bringt er Nutzen, auch er! Er ist arm, ist bettelarm, das ist wahr, und er bleibt arm, dafür ist er ein ehrenwerter Armer: er ist müde und hinfällig, und es ist kalt draußen, aber er müht sich doch, und wenn seine Mühe auch nicht von der Art ist, wie die der anderen, er müht sich trotzdem. Und von der Art gibt es viele ehrliche Menschen, mein Kind, solche, die im Verhältnis zu ihrer Arbeitsleistung nur wenig verdienen, doch dafür sich vor niemandem zu beugen brauchen, die keinen untertänig grüßen müssen und niemand um Gnadenbrot bitten. Und so einer, wie dieser Leiermann, bin auch ich, das heißt, ich bin natürlich etwas ganz anderes. Aber im übertragenen Sinne, und zwar in einem ehrenwerten Sinne, bin ich ganz so wie er, denn auch ich leiste das, was in meinen Kräften steht. Viel ist es ja nicht, aber doch immer mehr als gar nichts.

Ich bin nur deshalb auf diesen Leiermann zu sprechen gekommen, mein Kind, weil ich durch die Begegnung mit ihm heute meine Armut doppelt empfand. Ich war nämlich stehen geblieben, um dem Leiermann zuzusehen. Es waren mir gerade so besondere Gedanken durch den Kopf gegangen – da blieb ich denn stehen und sah ihm zu, um mich von diesen Gedanken abzulenken. Und so stand ich denn da, auch einige Kutscher standen da, auch ein erwachsenes Mädchen blieb stehen, und noch ein anderes, ein ganz kleines Mädchen, das schrecklich schmutzig war. Der Leiermann hatte sich dort vor jemandes Fenster aufgestellt. Da bemerkte ich einen kleinen Knaben, so von etwa zehn Jahren: es wäre ein netter Junge gewesen, wenn er nicht so kränklich, so mager und verhungert ausgesehen hätte. Er hatte nur so etwas wie ein Hemdchen an, und ein dünnes Höschen. So stand er, barfuß wie er war, und hörte mit offenem Mäulchen der Musik zu – Kinder sind eben Kinder! – Augenscheinlich vergaß er sich ganz in kindlichem Entzücken über die Puppen, die auf dem Leierkasten tanzten, seine Händchen und Füßchen aber waren schon blau vor Kälte und dabei zitterte er am ganzen Körper und kaute an einem Aermelzipfelchen, das er zwischen den Zähnen hielt – in der anderen Hand hatte er ein Papier. Ein Herr ging vorüber und warf dem Leiermann eine kleine Münze zu, die gerade auf das Brett fiel, auf dem die Puppen tanzten. Kaum hörte mein Jungchen die Münze klappern, da fuhr er plötzlich aus seiner Versonnenheit auf, sah sich schüchtern um und glaubte wohl, daß ich das Geld geworfen habe. Und er kam zu mir gelaufen, das ganze Kerlchen zitterte, das Stimmchen zitterte, und er streckte mir das Papier entgegen und sagte: »Bitte, Herr!«

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