Читать книгу: «Seewölfe Paket 35», страница 7
„Ich habe keinen gesehen“, sagte Malindi.
„Wirklich seltsam“, sagte Philip. „Aber warum sollte er uns anlügen? Das kann ohne weiteres stimmen.“
Sie erzählten Vater Hasard die Geschichte, der sie sich anhörte, ohne sie zu unterbrechen.
„Seine Geschichte kann stimmen, sie kann aber auch erfunden sein“, sagte der Seewolf. „Trotzdem, auch wenn sie wahr ist, mit dem Kerlchen stimmt etwas nicht. Er erweckt bei mir den Eindruck eines Fanatikers, der sehr gefährlich werden kann. Ich bin froh, wenn wir ihn in Tuticorin wieder an Land setzen können. Der Mann verbreitet eine eigenartige Aura um sich. Von ihm geht etwas aus, das sich nicht klar definieren läßt.“
Er warf einen Blick auf Malindi. Der hatte sich vor den Großmast auf die Planken gesetzt und war emsig damit beschäftigt, seinen Kopf mit den strähnigen Haaren zu kratzen. Er tat das fast so ausgiebig wie Arwenack, wenn dem das Fell juckte.
„Der Wikinger Thorfin Njal hat auch diese lausige Angewohnheit“, meinte der Profos. „Der behelmte Polaraffe kratzt jedoch immer seinen verdammten Kupferhelm, und das regt mich auf.“
Später erkundigten sich die Zwillinge bei Malindi, was er denn in dem Lederbeutel habe.
Mit Malindi ging wieder eine merkwürdige Veränderung vor.
Er sprang auf und drückte den Beutel heftig an sich. Mit der anderen Hand vollführte er abwehrende Bewegungen, als wolle er böse Dämonen bannen. Er wich bis an den Mast zurück und funkelte die Zwillinge wild und giftig an.
„Wirklich, ein verrückter Kauz“, sagte Philip. „Sicher hast du ein paar Perlen gefunden, Malindi?“
Die Augen waren wie glühende Lanzen auf die beiden gerichtet. Die eine Hand tastete langsam zum Messer an der Hüfte.
„Na, na“, sagte Jung Hasard gefährlich leise. „Du willst doch hier keinen Ärger anfangen, was? Laß das Messer lieber stecken, sonst gehst du ganz schnell über Bord, mein Freund, und wenn du hundertmal nicht schwimmen kannst.“
Die Hand glitt wieder zurück, aber die Augen waren drohend auf sie gerichtet.
„Laßt ihn in Ruhe“, sagte der Seewolf. „Der Kerl scheint ein bißchen unter der Einsamkeit gelitten zu haben. Laßt ihn einfach dort hocken und gebt ihm zu essen und zu trinken. Spätestens übermorgen sind wir ihn wieder los.“
„Aber mich interessiert mächtig, was in dem Beutel drin ist“, sagte Smoky. „Ich würde jede Wette halten, daß es Goldstücke oder ein paar Perlen sind.“
Sie ließen den Inder in Ruhe. Malindi rührte sich auch nicht und sah erst dann auf, als der Kutscher und Carberry erschienen und ihm etwas zu essen brachten. Der Kutscher hatte es sich nicht nehmen lassen, extra für Malindi eine Portion Reis zu kochen.
Der Kerl kratzte sich erst mal ausgiebig, bevor er die Kumme in die Hände nahm.
Der Kutscher sah auf ihn hinunter und erstarrte, als er die vielen roten und aufgekratzten Stellen unter dem Haar entdeckte.
„Ist was?“ fragte Carberry.
„Der Bursche hat Läuse“, sagte der Kutscher irritiert. „Und zwar so viele, daß du sie nicht zählen kannst.“
Carberry ruckte fassungslos herum.
„Wie bitte? Würdest du das noch mal wiederholen?“
„Er hat Läuse, Kopfläuse, pediculus capitis genannt. Ist doch wohl jedem ein Begriff. Und es wird nicht lange dauern, dann können wir die lieben Tierchen mit ihm teilen, denn sie sind sehr treu und anhänglich.“
„Um Himmels willen“, sagte der Profos erschüttert und kratzte sich unwillkürlich selbst den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein.“
„Ist es aber.“
9.
Edwin Carberry sah rot. Und wenn er rot sah, regte er sich auch meist fürchterlich auf.
„Da hilft nur noch ein Kahlschlag“, bestimmte er. „Wir sind doch hier nicht auf einem Läusekahn. Verklar das mal dem Sir, Kutscher. Ich habe nämlich keine Lust, auch mit Läusen herumzulatschen.“
Hasard entschied ebenso kurz und bündig wie der Profos.
„Haare runter, egal, ob er damit einverstanden ist oder nicht. Ich bin nicht versessen darauf, auch Läuse sonstwo zu haben.“
„Das wird ihm nicht gefallen, Sir.“
„Mir gefällt das auch nicht. Aber hier entscheidet die Mehrheit und nicht ein einzelner.“
Mac Pellew erklärte sich bereit, den Burschen einzuseifen und ihm eine prächtig funkelnde Glatze zu verschaffen.
„Das ist mir zweimal lieber, als wenn wir alle mit einer Platte herumlaufen müssen“, sagte er verdrießlich. „Läuse, pfui Teufel! Ich kann die Biester nicht ausstehen. Die sind noch schlimmer als Wanzen.“
Die Zwillinge verklarten Malindi sehr höflich, daß sein Kopfputz fallen müsse, und sprachen von kleinen Tierchen, die sich bei ihm eingenistet hätten. Und weil die anders nicht wegzukriegen seien, müsse er eben ein paar Haare opfern, die ja ohnehin bald wieder nachwachsen würden. Es sei nicht weiter schlimm.
Für die Arwenacks war das wirklich nicht weiter schlimm. Aber Malindi sah das völlig anders und erschrak tödlich. Er begann zu zittern, bis sie seine Zähne klappern hörten, und er riß ein paarmal den Mund auf, um etwas zu sagen.
„Ich bin ein heiliger Mann“, sagte er drohend. „Ein heiliger Wanderasket. Meine Religion verbietet mir, die Haare schneiden zu lassen. Wer sie mir schneidet, der tötet mich, und wer das mit Gewalt versucht, den werde ich töten.“
„Ich denke, du bist ein Fischer“, sagte Hasard argwöhnisch. „Jetzt bist du auf einmal ein Heiliger und ein Asket?“
„Ich bin alles“, sagte Malindi stolz.
„Religion hin, Religion her“, knurrte der Profos finster. „Ihm geschieht ja nichts weiter, als daß er ein paar Haare läßt. Ich traue dem Burschen nicht. Der belügt uns aus irgendeinem mir unbekannten Grund. Aber er kriegt eine Platte verpaßt, so wahr ich Edwin Carberry heiße und auf keinem Läusekahn fahre.“
„Dann also mit Gewalt?“ fragte Philip.
„Wenn er nicht freiwillig will, dann mit Gewalt“, bestätigte der Mann der Edwin Carberry hieß und auf keinem Läusekahn fuhr.
Dennoch versuchten es die Zwillinge noch einmal mit Geduld und Überredungskunst. Sie sagten auch, daß es für alle sehr unangenehm sei, von diesen Blutsaugern befallen zu werden, und Malindi müsse das – bitte sehr – doch einsehen.
„Faßt mich nicht an!“ schrie Malindi gellend.
Er sprang auf die Füße, blitzschnell wie ein Panther, zog sein spitzes Messer und stach damit wild um sich. Dann drehte er sich um seine eigene Achse und senste mit dem Messer durch die Luft.
Philip und Jung Hasard mußten sich ducken, sonst wären sie von dem Messer getroffen worden.
Ziemlich verdutzt blickten sie ihm nach. Der dürre Kerl zeterte und kreischte wie ein Irrer und rannte nach vorn, wobei er jeden mit seinem Messer bedrohte, der ihm den Weg zu versperren drohte.
Stenmark wich verblüfft zurück und konnte einem wild geführten Stich gerade noch ausweichen.
Blacky mußte vor dem rasenden Kerl ebenfalls in Deckung gehen, der jetzt regelrecht Amok lief.
Hasard sah das Drama mit schmalen Augen.
„Das hat nichts mit seiner Religion zu tun“, sagte er hart. „Da steckt etwas anderes dahinter. Fangt den Kerl ein, bevor er noch jemanden umbringt. Der wird ja immer gefährlicher.“
Malindi bewegte sich schnell wie ein Affe. Er ging auf Big Old Shane los und senste mit dem Messer durch seinen Bart. Der grauhaarige Ex-Schmied war so verblüfft, daß er dem rasenden Kerl nur fassungslos nachstarrte.
Jetzt aber begann die Jagd auf Malindi, denn der kriegte es in seinem Wahn fertig und erstach noch ein paar Männer. Er war wie ein Tobsüchtiger, der nur noch Feinde um sich sah, und er geriet fast in einen Blutrausch, als er mit einem wilden Satz Luke Morgan ansprang.
Malindi entwickelte ungeahnte Kräfte und tobte wie ein Berserker über die Decks.
Luke duckte sich, konnte aber nicht verhindern, daß das Messer eine Spur durch seinen Arm zog. Der Stich ritzte gerade seine Haut auf, und da explodierte der jähzornige Luke Morgan.
Er wirbelte herum und feuerte eine brettharte Rechte ab. Seine knochige Faust erwischte Malindi unter dem Kinn, und von da ab war für den Kerl alles gelaufen.
Er blieb abrupt stehen, als sei er gegen einen Mast geprallt, wankte ein bißchen, kriegte glasige Augen und torkelte drei Schritte zurück. Er fiel über eine Gräting an Deck und blieb mit ausgestreckten Armen auf den Planken liegen.
Der Profos schnappte sich den Dürren und paßte auf, nicht in zu enge Berührung mit ihm zu geraten.
„Fesseln!“ befahl Hasard. „Der Kerl ist unberechenbar. Geht kein Risiko ein.“
Das Messer nahm der Kutscher an sich, während der Profos dem wilden Bürschchen eine Leine um den ausgemergelten Körper schlang und ihm die Arme so fesselte, daß er sich nicht mehr bewegen konnte.
Dann setzten sie ihn auf die Gräting, und Mac Pellew brachte mit Bitterleidensmiene eine Kupferschere zum Vorschein.
„Beeil dich bloß“, sagte Carberry, „sonst hauen die Läuse ab, und wir haben sie.“
Mac schnippelte schnell die erste Strähne des langen Haares ab und warf sie über Bord. Dabei zog er ein Gesicht wie ein Clown, dem man einen faulen Fisch ins Maul geschoben hat.
Eine Strähne nach der anderen fiel, und dann kam Malindi ganz plötzlich wieder zu sich und schlug die Augen auf.
Er schrie wie am Spieß, konnte sich aber nicht bewegen, denn was der Profos einmal zusammengeknotet hatte, das hielt bis zum Sankt Nimmerleinstag. Als alles nichts half, spuckte er die Arwenacks an, und der Profos wollte ihm schon ein kleines Hämmerchen verpassen.
Aber Mac Pellew war schneller. Er hatte einen Rasierpinsel neben sich liegen, der voller Schmierseife war.
Den stopfte er Malindi ungerührt in die brüllende Futterluke, und danach war der Inder still und friedlich und nuckelte an dem Pinsel herum. Nur an seinen wildrollenden Augen war zu erkennen, daß ihm diese Art Nuckel absolut nicht schmeckte.
Als die letzte Strähne gefallen war, schimmerte die Kopfhaut seltsam dunkelblau und unnormal.
Mac rieb den Kopf mit Seife ein, nahm das Messer und schabte die letzten Stoppeln weg.
Die Gesichter der Arwenacks wurden immer länger und verblüffter, als Mac mit Wasser nachspülte und die Platte danach blitzblank war.
Fassungslos starrten sie auf ein kleines Meisterwerk, das jetzt auf dem kahlen Schädel prangte. Sie umstanden Malindi im Halbkreis und konnten es nicht fassen.
Auf der Kopfhaut befand sich eine Karte, sauber und exakt eintätowiert für alle Zeiten. Sie zeigte, so nahm Hasard jedenfalls an, einen Teil der Insel Ceylons, die hinter der Kimm an Steuerbord lag.
„Das sieht wie eine Tempelanlage aus“, sagte der Seewolf verblüfft. „Es kann natürlich auch eine Schatzkarte sein.“
„Eine lebende Schatzkarte, das ist es!“ sagte Old Donegal heiser. „Jetzt verstehe ich auch, warum sich der Kerl so seltsam benommen hat. Na klar, jemand hat ihm diese Karte auf den Schädel tätowiert, und dann sind die Haare wieder nachgewachsen.“
„Zweifellos sind zwei Tempel zu erkennen“, sagte auch Dan O’Flynn staunend. „Das erklärt natürlich manches.“
„Und das erklärt auch, daß er uns angelogen hat“, sagte Hasard. „Seine Geschichte stimmt vorn und hinten nicht. Aber das ist nicht unsere Angelegenheit.“
Die Zwillinge fragten Malindi aus, doch der schwieg tödlich beleidigt und völlig verstockt. Er starrte sie nur haßerfüllt an.
„Sollen wir ihn losbinden?“ fragte der Profos.
„Nur, wenn er verspricht, keine Dummheiten zu begehen“, sagte Hasard. „Selbst dann solltet ihr ihn nicht mehr aus den Augen lassen, bis wir in Tuticorin sind.“
„Bin froh, wenn wir den Burschen wieder von Bord haben“, sagte Ben. „Der bringt alles durcheinander.“
Old Donegal zeigte großes Interesse an der Karte und schlug vor, zusammen mit Malindi nach dem vermeintlichen Schatz zu suchen, um ihn zu heben.
Doch bei Hasard stieß er damit auf taube Ohren.
„Kein Interesse, Donegal. Der Kerl soll sich mit seiner Schatzkarte zum Teufel scheren. Er scheint irgendeiner religiösen Sekte anzugehören, einer Sekte von Fanatikern, mit der ich nun wirklich nichts zu tun haben will.“
Sie banden Malindi los, der sich finster umsah und sie mit giftigen Blicken musterte.
„Wenn du wieder anfängst zu spinnen“, sagte Dan, „dann landest du in der Vorpiek, mein Freund, bei völliger Dunkelheit. Oder wir werfen dich einfach über Bord.“
Malindi gab wiederum keine Antwort, aber er benahm sich von da an etwas friedlicher, wenn auch der Haß nicht aus seinen Augen verschwand.
Schließlich erbarmte sich der Profos und gab ihm eine Mütze, damit er seine „Schatzkarte“ bedecken konnte.
Malindi zog sich in seinen Schmollwinkel zurück und kauerte sich unter die Nagelbank des Großmastes.
Der Profos brachte ihm Wasser und goß aus einer Kruke roten Wein in eine Muck.
Malindi schnüffelte erst am Wasser, dann am Wein und entschied sich schließlich für den Rotwein. Gierig trank er die Muck leer und hielt sie dem Profos wieder zum Nachfüllen hin.
Carberry verkniff sich das Grinsen und blieb ganz ernst. Der Rotwein schien dem Kerl zu schmecken, und er schluckte schnell hintereinander drei weitere Mucks leer.
„Du mußt nicht denken, daß ich das uneigennützig tue, mein Freund“, sagte der Profos in seiner englischen Muttersprache, die Malindi nicht verstand. „Nein, mein Freundchen, ganz gewiß nicht. Deine Karte haben wir schon gesehen, jetzt interessiert mich noch, was in dem Lederbeutel ist. Aber das zeigst du ja nicht freiwillig, was, wie?“
Malindi blickte ihn trübe an und kapierte kein Wort. Nur den Beutel mit der heiligen Reliquie hielt er fest an seinen Körper gepreßt.
Nach einer Weile wurde er immer schläfriger. Seine Augen wurden klein und müde, und schließlich nippelte er ab und kippte zur Seite. Ein letztes Mal sah er den Profos dümmlich grinsend an.
Malindi lag jetzt auf den Planken und schnarchte leise. Von seiner Umgebung nahm er nichts mehr wahr, auch merkte er nicht, daß ihm Carberry vorsichtig den Lederbeutel abnahm.
Die Arwenacks platzten fast vor Neugier, und Smoky bot wieder mal Wetten an, weil das seine Leidenschaft war. Er tippte immer noch auf Gold und Perlen.
Sie umstanden den grinsenden Profos, der sich wieder mal reichlich Zeit ließ und sehr umständlich das Garn entknotete, mit dem der Lederbeutel verschlossen war.
„Nun trödel nicht so“, sagte Smoky ungeduldig. „Der Kerl muß das doch schließlich nicht merken, oder?“
„Der pennt auch in den nächsten Stunden noch, keine Sorge, der verträgt überhaupt nichts.“
Der Beutel war jetzt endlich offen, und der Profos riskierte den ersten Blick.
Schon an seinem Gesicht sahen die anderen, daß etwas nicht stimmte und der Beutel weder Perlen noch Goldstücke enthielt.
Der Profos klaubte mit langem Gesicht einen Stoffetzen heraus, in den etwas eingewickelt war.
„Eine taubeneigroße Perle“, sagte Smoky hastig.
Aber sie verschätzten sich alle, als der Profos endlich den Stoffetzen aufwickelte.
Jeder starrte jeden an, und dann blickten sie wieder auf das Ding, das der Profos in der Hand hielt.
„Ein Backenzahn“, sagte der Kutscher. „Ein stinknormaler Backenzahn. Ein bißchen groß zwar, aber wirklich nur ein Zahn.“
Carberry schüttelte völlig verblüfft den Kopf.
„Der Kerl muß total bescheuert sein. Und daraus macht er so ein Geheimnis? Der spinnt doch, der seltsame Kauz. Das muß eine verrückte Marotte von ihm sein.“
Die Enttäuschung war groß. Niemand verstand das, auch der Seewolf nicht. Nur Mac Pellew glaubte, eine Erklärung gefunden zu haben.
„Sicher kennt der Kerl einen Feldscher, der ihm das Beißerchen wieder einsetzt und festleimt“, sagte er. „Viele Zähne hat er ja nicht mehr im Maul, und da ist er auf jeden angewiesen.“
Aber die Theorie stellte auch niemanden zufrieden.
Sie wickelten den Zahn in den Stoffetzen und packten ihn in den Beutel, den sie dem schnarchenden Malindi wieder umhängten.
Sollte er mit seinem Backenzahn glücklich werden. Es interessierte sie nicht mehr.
Morgen würden sie Tuticorin anlaufen und den Kerl endlich los sein …
ENDE
1.
Unter vollen Segeln lief die Schebecke der Seewölfe auf Nordkurs. Der Wind wehte aus Südosten und trieb eine sanfte, gleichmäßige Dünung dem Land entgegen, das sich palmenbestanden, aber ohne nennenswerte Erhebungen an Backbord erstreckte.
Eine Zeitlang begleiteten Fischerboote den schnellen Dreimaster. Ihre Segel hoben sich nur undeutlich gegen die Wolken und die im Sonnenschein gleißende türkisfarbene See ab. Sie verloren sich an der Kimm, als die Schebecke Tuticorin anlief.
Eine flache, mit Bänken und Riffen besetzte Bucht öffnete sich vor den Seewölfen, und Türme und Kuppeln schimmerten vom Westufer herüber. Philip Hasard Killigrew sah durchs Spektiv eine weit geschwungene Mole, Kais und hölzerne Stege, an denen Schiffe aller Größen vertäut lagen. Es handelte sich nur um einheimische Fahrzeuge: Pattamars, Maschwas und zwei der hochseetüchtigen Sambuken, die vor allem von Händlern gesegelt wurden.
Hasard ließ das Großsegel wegnehmen. Die Abdrift der Schebecke nach Steuerbord wurde daraufhin deutlicher, doch als die Peilung zur Mole auszuwandern begann, legte Piet Straaten Gegenruder.
„Starke Strömung nach Nordwest!“ meldete Stenmark, der vom Bug aus lotete. „Der auflaufende Gezeitenstrom unterstützt die Drift. Geschwindigkeit knapp zwei Knoten.“
Der Seewolf nickte stumm und widmete sich wieder dem Land. Ben Brighton, der Erste Offizier, hatte das Kommando übernommen.
Nördlich von Tuticorin verlief die Küste bogenförmig weiter und blieb niedrig und palmenbestanden. Aus den Karten war ersichtlich, daß die vorgelagerte breite Küstenbank zahlreiche Untiefen aufwies, darüber hinaus viele kleine Inseln.
„Siebeneinhalb Faden!“ rief Stenmark.
„Kurs halten!“
Ein hufeisenförmiges Riff verriet sich lediglich durch schwache Gischt. Die Flut verbarg zur Zeit die Felsen, die bei Niedrigwasser wohl dicht unter der Oberfläche lagen.
„Fünf Faden!“
Der Meeresboden stieg an. An Backbord war vorübergehend Grund zu sehen; ein Heer roter Seesterne wanderte dem Riff entgegen.
Dann wirkte das Wasser wieder trübe und spiegelte nur die Sonne und die rasch dahinziehenden Schönwetterwolken. Die Tiefe blieb konstant bei viereinhalb Faden. Ben Brighton vermied dennoch jedes Risiko, indem er frühzeitig auch das Besansegel auftuchen ließ. Nur mehr unter der Fock laufend, näherte sich die Schebecke der Hafenmole.
Inzwischen war man an Land auf den fremden Dreimaster mit den Lateinersegeln aufmerksam geworden. Händler, Fischer und eine lärmende Kinderschar warteten darauf, daß das große Schiff anlegte.
Malindi Rama wurde sich bewußt, daß nicht nur er ein Geheimnis verbarg. Die Engländer waren Piraten oder Räuber: um zu erkennen, daß die goldenen Skulpturen von indischen Goldschmieden angefertigt worden waren, bedurfte es keines besonders wachen Verstandes.
Malindis linke Hand verkrampfte sich um den Lederbeutel, den er an einer dünnen Kordel um den Hals trug. Vorübergehend schloß er die Augen und genoß das Gefühl, einen Schatz in der Hand zu halten, der wertvoller war als Gold und Silber. Die Arwenacks hatten zwar herausgefunden, daß in dem Beutel ein Backenzahn lag, aber sie wußten nicht, was für eine Bedeutung er hatte.
Das Geräusch sich nähernder Schritte ließ den Singhalesen zusammenzucken. Blitzschnell zog er das Schott zu. Gerade noch rechtzeitig, ehe einer der Engländer über den Niedergang abenterte.
„Was tust du hier?“ fragte der Mann in einem Hindu-Dialekt, wie er weit im Norden des Landes gesprochen wurde. Malindi kannte den helläugigen und hellhaarigen Mahn – nicht zuletzt, weil er und die Söhne des Kapitäns die einzigen waren, die sich einigermaßen mit ihm verständigen konnten.
„Nichts“, erwiderte Malindi Rama mit einem Schulterzucken.
„Wir laufen in Tuticorin ein. Ich dachte, dein Platz wäre jetzt an Deck.“
„Natürlich.“ Der Singhalese fuhr sich mit der flachen Hand über den kahlgeschorenen Kopf, auf dem eine Karte Ceylons eintätowiert war. Einige Arwenacks glaubten sogar, eine stilisierte Tempelanlage zu erkennen – daß sie mit der Vermutung genau ins Schwarze trafen, behielt Malindi Rama aber wohlweislich für sich.
Die Engländer hatten seine Lockenpracht abgeschnitten, weil es in ihnen von Läusen gewimmelt hatte. Ihm waren die Plagegeister jedoch hundertmal lieber gewesen als der haarlose Zustand. Immerhin mußte er befürchten, daß die singhalesischen Bewohner von Tuticorin vom Frevel im Tempel von Kandy wußten und beim Anblick der Karte die richtigen Schlüsse zogen.
Die Schebecke holte über und legte sich in den Wind, um entweder vor Anker zu gehen oder zu vertäuen. Die leichte Krängung genügte, das Schott des Laderaums aufschwingen zu lassen. Malindi Rama erkannte zu spät, daß er mit dem Dolch das Schloß beschädigt hatte.
Dan O’Flynn, der noch auf dem untersten Tritt des Niedergangs stand, zog überrascht die Brauen hoch. Sein Blick streifte die Schatzkisten und wanderte zu Malindi zurück.
„Willst du uns bestehlen, obwohl wir dich von der Insel gerettet haben?“ fragte er.
Vorübergehend war unter der Wasserlinie ein dumpfes, hohles Gluckern zu vernehmen, Holz schrammte gegen Holz, dann klangen Stimmen auf. Die Schebecke legte an einem Steg an.
Malindi Ramas Gedanken überschlugen sich.
Dan O’Flynns Haltung hatte sich versteift, weil er den Kerl nun als gemeinen Dieb sah.
Andererseits spielte das für Malindi keine Rolle mehr. Ihm war nur daran gelegen, Tuticorin unbeschadet zu erreichen, wo er sicher sehen sehnsüchtig von einer Handvoll Männer und Frauen erwartet wurde, die ebenso dachten und handelten wie er. Die kleine Gemeinschaft der Verschwörer würde in großer Sorge sein, denn niemand wußte, daß sein Boot in der Brandung einer Insel gekentert war und er nur mit Mühe und Not den Strand erreicht hatte.
„Warum antwortest du nicht?“ fragte Dan O’Flynn.
Malindi warf sich herum und floh. Die Furcht, daß alles vergeblich gewesen sein könnte, hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht mehr los. Er achtete nicht darauf, was der Engländer rief, er registrierte nur, daß ihm der Mann mit einigem Abstand folgte.
Die Engländer hatten ihn nach Tuticorin gebracht, mehr durfte er nicht von ihnen erwarten. Malindi wußte, daß es zum Bug hin noch einen Niedergang an Deck gab. Er vertraute darauf, daß ihm der heilige Zahn Buddhas Glück brachte. Daß sein Verfolger offenbar glaubte, ihn einholen zu können, ohne die Mannschaft zusammenzurufen, rechnete er dazu.
Die Unterkunft der Engländer! Auf einer der Kojen lag eine bunte Wollmütze. Daneben eine Pistole. Malindi Rama zögerte nicht. Er riß die Waffe hoch und richtete sie auf Dan O’Flynn, der nur noch wenige Schritte hinter ihm war.
„Bleib stehen!“ stieß er keuchend hervor.
Malindi wußte, wie man eine Steinschloßpistole handhabte. Mit einer einzigen schnellen Bewegung spannte er den Hahn.
Dan O’Flynn verharrte abrupt.
„Was soll der Unsinn, Malindi? Wenn du auf mich schießt, wirst du die Schebecke nicht lebend verlassen.“
Ohne Dan O’Flynn aus den Augen zu lassen oder gar die Richtung des Pistolenlaufs zu verändern, griff Malindi nach der Wollmütze, Sie erschien ihm zumindest fürs erste geeignet, seinen kahlen Schädel zu bedecken. Später, sobald er bei Freunden in Sicherheit war, hatte er Zeit, einen Turban zu winden.
„Gib mir die Waffe!“
Dan O’Flynn mußte verrückt sein. Oder lebensmüde. Oder sogar beides zusammen. Jedenfalls schritt er, die Rechte fordernd ausgestreckt, weiter auf Malindi zu.
Der Singhalese wich zurück, bis er die nächste Koje hinter sich spürte.
Gleichzeitig riß er den Abzug der Pistole durch. Aber nichts geschah. Lediglich ein helles Klicken war zu vernehmen.
Der Hellhaarige lachte spöttisch. Er mußte gewußt haben, daß die Waffe nicht geladen war.
Eine Verwünschung auf den Lippen, schleuderte ihm Malindi die Pistole entgegen. Abermals warf er sich herum, sprang über die Koje, hinweg und lief, wie von Furien gehetzt, zum Niedergang.
Einige Mannen waren noch damit beschäftigt, das Vorsegel aufzutuchen, andere belegten die Leinen und brachten die Stelling aus. Bis sie den Singhalesen bemerkten, hatte sich Malindi schon auf die Backbordverschanzung geschwungen und war ins Hafenwasser gesprungen. Alles ging so schnell, daß keiner Gelegenheit fand, ihn zurückzuhalten.
Malindi Rama hatte die Lungen kräftig voll Luft gepumpt. Er war kein sehr guter Schwimmer, aber im Moment wollte er nur von der Schebecke und den Leuten fort, die sich auf dem Steg versammelt hatten und das Schiff begafften.
Mit Armen und Beinen um sich schlagend, gelangte er wieder an die Oberfläche. Das Salzwasser brannte in seinen Augen, trotzdem schaffte er es, sich zu orientieren. Daß ihm die Arwenacks nicht folgten, erschien ihm wie ein kleines Wunder.
Keine zehn Yards entfernt, an einem menschenleeren Steg vertäut, dümpelten Boote. Malindi schaffte es, einen der morschen Kähne zu erreichen und sich hineinzuziehen. Innen stand das Wasser fast eine Handbreite hoch. Wahrscheinlich achtete deshalb niemand auf die Boote.
Der Singhalese löste die Halteleine und griff nach den Riemen. Er pullte, als sei alle Welt hinter ihm her.
Philip Hasard Killigrew hatte nicht erwartet, daß Tuticorin über eine eigene Stadtwache verfügte! Eine fünfköpfige Truppe Uniformierter betrat den Steg, als die ersten Leinen belegt wurden.
Die Männer trugen bunte, grellfarbene Kurtás, das waren lange, über der Hose getragene Hemden ohne durchgehende Knopfreihe, und bis zu den Waden reichende Wickelhosen. Einheitlich waren lediglich die blutroten Turbane, die Riemensandalen und ihre Bewaffnung aus Krummdolch und Säbel, beides in kunstvoll ziselierten Scheiden steckend, sowie je einer altertümlichen Flinte, die vermutlich, nur der Dekoration diente.
Hasard konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, daß jemand mit einem solchen Schießprügel – sofern die Pulverladung überhaupt zündete – tatsächlich zu treffen verstand.
Mit unbewegten Gesichtern bauten sich die Soldaten vor der Schebecke auf, als wollten sie allzu Neugierige von dem fremden Schiff fernhalten oder die Engländer hindern, an Land zu gehen.
„Eine eindrucksvolle Demonstration“, murrte der Profos. „Die Kerle wirken fürchterlich respekteinflößend.“ Er grinste breit und schob sein Rammkinn angriffslustig vor.
„Ed“, sagte der Seewolf, „halte dich zurück!“
Carberrys Grinsen blieb abwartend. „Aye, Sir!“ erwiderte er. „Wir sind schließlich friedliebende Menschen.“
Die Inder präsentierten ihre Luntenschloßflinten. Dabei wurde ersichtlich, daß sie glimmende Lunten neben den Schäften hielten.
Unaufgefordert traten die Zwillinge zu ihrem Vater ans achtere Schanzkleid.
„Erklärt den Leuten, daß wir in friedlicher Absicht hier sind“, verlangte der Seewolf. „Wir wollen Vorräte einkaufen.“
Philip junior deutete eine Verbeugung an, wobei er mit der flachen Hand nacheinander seine Stirn, die Lippen und den Brustkorb berührte.
„Der Kapitän und die Mannschaft der Schebecke grüßen euch, die ihr begnadet seid, Handel zu führen und Reisenden alle die Dinge zu verkaufen, deren sie bedürfen.“
Das war zu dick aufgetragen, aber im allgemeinen wirkungsvoll. Bei den Soldaten und den auf den Steg nachdrängenden Neugierigen lösten die Worte jedoch kaum eine Reaktion aus.
„Sie verstehen dich nicht, Bruderherz“, sagte Jung Hasard. „Wahrscheinlich ist ihr Dialekt vom Singhalesischen beeinflußt. Sag einfach: Hier sind wir, Freunde.“
Bevor Philip den Vorschlag in die Tat umsetzen konnte, wandte sich der Anführer der Soldaten dem Achterdeck zu. „Senhor Capitán“ – er sprach ein halbwegs verständliches Portugiesisch – „willkommen in Tuticorin. Unsere Stadt ist auch Ihre Stadt, unsere Händler sind ehrliche Leute.“
Hasard nickte dankbar. Er antwortete ebenfalls auf Portugiesisch, stellte sich selbst vor und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, die Proviantlast der Schebecke könne mit frischen Nahrungsmitteln gefüllt werden.
„Wir bezahlen gut“, sagte er.
„Dann hält Tuticorin für Sie bereit, was Ihr Herz begehrt.“ Der Anführer der Soldaten senkte endlich die Flinte und gab seinen Männern Befehl, ebenfalls die Waffen abzusetzen. Die Lunten wurden aber noch nicht gelöscht.
Der Inder bemerkte Hasards spöttischen Gesichtsausdruck.
„Ich hoffe, Senhor, Sie verstehen unsere Vorsichtsmaßnahmen. Leider ist mir die Flagge unbekannt, unter der Sie segeln.“
„Ebenso wie mir Ihr Name“, erwiderte der Seewolf.
Der Mann bedachte ihn mit einem forschenden Blick, dem er mühelos standhielt. Danach zeigte er ein anerkennendes Lächeln. Ihm imponierte Hasards offene Art.
„Ich bin Chandra Bose, Hauptmann der Stadtwache.“
Der Seewolf deutete zu der im Wind flatternden Flagge am Besanmast.
„Das sind die Farben Englands.“
Der Inder zog die Stirn in Falten. „Inglés“, wiederholte er nachdenklich. „Ich habe von dem fernen Land gehört. Stimmt es wirklich, daß eine Frau über England regiert?“
Schon der Gedanke daran war ihm sichtlich unangenehm, was aber wenig verwunderte, bedachte man, daß Indiens Frauen ohne Bildung aufwuchsen und in der Mehrheit ihr Leben mit schwersten Arbeiten verbrachten, von rühmlichen Ausnahmen natürlich abgesehen.
Dennoch sagte der Seewolf: „Unsere Lissy ist eine besondere Frau, am besten einer Maharani vergleichbar, nur ist ihr Reichtum größer und …“
Er wurde unterbrochen, weil in diesem Moment Malindi Rama wie ein Mehlsack außenbords sprang und Dan O’Flynn das Achterdeck betrat, um Bericht zu erstatten. Zwei Männer der Stadtwache, die das Geschehen verfolgt hatten, redeten auf ihren Hauptmann ein.
Chandra Boses Miene verfinsterte sich. Er zielte mit seiner Flinte auf den Seewolf und klemmte die noch glimmende Lunte fest.
„Sie haben Inder an Bord?“ fragte er mißtrauisch. „Warum haben Sie das verschwiegen, Senhor?“
„Niemand hat danach gefragt. Außerdem hielt ich es für unwichtig.“
Der Hauptmann rief seinen Soldaten einen Befehl zu. Daraufhin gingen sie über die Stelling an Bord und postierten sich, daß sie alle Decks überblicken konnten.