Nach Amerika! Bd. 1

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Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen großen, wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie scheu, daß ihn niemand gewahre, über den Hof und in die Hintertür des Hauses schlich, und sich leise und geräuschlos die Treppe damit hinaufstahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus derselben Tür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht aus der Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter der Tür stehen, und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht verlassen wollte, vorn zur Haustür hinaus auf die Straße, den Weg nach seiner Wohnung einschlagend.

Zweites Kapitel
Der Rote Drachen.

Der Rote Drachen, ein Wirtshaus, das wegen seines vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerten Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen an der großen Landstraße, die gen Norden führte. Ein freundlicher Talgrund umschloß Haus und Garten, und die dunklen, den Gipfel des nächsten Hanges krönenden Nadelhölzer heben nur noch mehr das freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, die sich über die niedere Abdachung erstreckten und bis scharf heran an den hoch eingefriedeten und sorgfältig in Ordnung gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten.

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der Bach, der am Hause dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte in frischem, jugendlichen Übermut, des Eises Hülle, die ihn so lange gefangen gehalten, oder doch fest und ängstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und die Vögel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten knorrigen Linde, die unfern der Tür stand, und flatterten und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in den dichtversteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß einem das Herz ordentlich aufging über das rege, glückliche Leben. Und wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende Welt, wie leicht und licht zogen weiße, duftige Wolken, Schwänen gleich, durch den Äther hin, farbige, flüchtige Schatten werfend über Wiesen und Feld und die weite Talesflucht, die sich dem Auge in der Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick neue Schätze bot, wohin er fiel.

Ein Frühling in Deutschland ein Frühling im V a t e r l a n d ! Oh, wie sich das Herz mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt! Zwinge die Träne da nicht zurück, die sich Dir, dem Glücklichen, ins Auge drängt – in ihrem Blitzen preist Du den Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort tut, die mit zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt – wie das raschelnde, flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, taugeschmückte Halm und die knospende, duftende Blüte im Tal. Ein Frühling im Vaterland ! – Oh wie schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem bräutlichen Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim ! Und wie sich das Herz der scheuen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm über die Heide fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu Boden warf, und Schnee und Eis vor sich hinjagte über die erstarrende Flur : so öffnet es sich jetzt mit vollem Atemzug wieder dem balsamischen Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid – wie der verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt.

Ein warmer, erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er dem Land getan, hatte er doch die Bewohner des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig teils die nahen grünenden Berge, teils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht nachlassen wollten, Segen auf die Fluren niederzuträufeln. Heute aber hatte sich das geändert; voll und warm glühte die Sonne am Himmelszelt, und hinaus strömten sie in jubelnden Scharen, hinaus ins Freie. Der Rote Drachen vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Öffnung des Tales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte dabei sein reichlich Teil der fröhlichen Schar erhalten, daß die Wirtin mit ihren Kellnern und Mägden nicht Hände genug hatte, zu schaffen und herzurichten, und die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle rundherum von Schmausenden besetzt waren.

Der Rote Drachen sollte übrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen hatte. Der Wirt des Roten Drachen nun, Thuegut Lobsich, dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete, einer seiner ,Ahnen’ habe den Drachen im Einzelkampf erlegt (die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet) und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, erhalten.7

Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich tat wirklich gut auf dem Platz, der im vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirt in einer gut gelegenen Wirtschaft befinden kann. Sein Frau war aber dabei der Nerv des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und während sich Vater Lobsich (wie er sich gern nennen ließ, obgleich er noch jung und rüstig war) am liebsten zu seinen Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und «das Bier kontrollierte», wie er sagte, daß ihm die Burschen kein saures brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im Schweiße ihres Angesichts vor dem Herd, die bestellten Portionen herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Tee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotiert oder einem schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt hatten.

Böse Zungen meinten nicht selten, Frau Lobsich sei der ,einzige Mann im Hause’ und Thuegut dürfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wäre. Böse Zungen erwähnten dann aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so große Ursache sie dabei oft hatte ärgerlich zu sein, und die Ursache dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie allein mit ihrem Mann war, und so gern gab sie ihm in allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war das Muster einer Hausfrau und, was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin dabei; ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen Blatte.

Heute hatte sich nun eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar so freundlich gelegenen Garten des Roten Drachen eingefunden, und dicht vor der Tür desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon hatte stützen müssen, um nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, das heißt alter Kunden und quasi Stammgästen von i h m, denn er selbst kam selten irgendwo anders hin, und wer also sein Bekannter b l e i b e n wollte, mußte i h n eben besuchen.

Zu diesen gehörte besonders Jakob Kellmann, ein Kürschner und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar8 Ledermann von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, doch mit nicht unangenehmen, gutmütigen Gesichtszügen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch miteinander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am liebsten zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und die Reihen seiner Gäste, um zu sehen, ob alle ordentlich bedient würden und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer Ohrfeige als warnendes Beispiel abstrafte. Er mußte an irgendjemand seinen Ärger auslassen, daß er nicht bei seinem Bier konnte sitzen bleiben.

«Ist doch ein prachtvolles Wetter heute», sagte Kellmann, der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glase getan und nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild hinausschaute, das sich, von der warmen Nachmittags-sonne beschienen, in all’ seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer vor ihnen aufrollte, «und es wächst und gedeiht alles draußen so schön und steht so prächtig – merkwürdig dabei, daß alles so teuer bleibt und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen und steigen.»

«Ja, das weiß Gott», seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt vor sich nieder. «Und wenn das noch eine Weile so fort geht, können wir alle miteinander verhungern oder davonlaufen.»

«Nun, I h r habt gut reden», sagte Kellmann, «Ihr bekommt vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach einrichten - E u e r Geld muß Euch werden, wenn der Erste jedes Monats kommt; unsereins hängt aber allein von den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauf niemand einen Pelz. Holz müssen sie doch haben, und daran kann sich nachher die ganze Familie wärmen.»

 

«Ihr redet, wie Ihr’s versteht», brummte der Aktuar. «Unser Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor Augen sehen. Ich habe fünfhundert Taler Gehalt, und Frau und Kind und Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet gehen, denn vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht mehr und machte das alles möglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brot, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz alles, was wir nun einmal zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fünfhundert Taler b l e i b e n. Vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brot für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht zehn bekomme – aber m e i n e fünfhundert Taler b l e i b e n. Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins – schon voriges Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, das heißt für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, aber für dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn will wieder zehn Taler mehr haben und k a n n’s ihm nicht geben. I h r Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn wenn das Brot teurer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Eure Ware, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede neue Taxe macht im keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, daß er weniger ißt, bis er ins l e t z t e Loch geworfen wird, um zum ersten Mal von seinen irdischen Strapazen, ohne Furcht vor rasch ablaufenden Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.»

«Ach geht mit Euren erbärmlichen Lamentationen an solch’ freundlichem Tag», fiel ihm der Wirt hier in die Rede, der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile unruhig mit dem Kopf geschüttelt hatte. «Das Reden macht’s nicht besser, und Stöhnen und Seufzen hilft auch nichts – Kopf oben, das ist die Hauptsache; das andere macht sich von selber. – Aber hallo», unterbrach er sich plötzlich, von seinem Sitz aufstehend und die Straße hinunterzeigend, die in das weite Tal führte. «Was kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?» Und in der Tat wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen Wägelchen sichtbar.

«Das sind Auswanderer!» rief Jakob Kellermann, von seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend. «Seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal Platz werden!»


«Na, nu ist wieder der Frieden beim Henker!» rief aber der Apotheker mürrisch. «Hier, Lobsich, setzt Euch auf Euren Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr, Kellmann, laßt das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen – unzufriedene Bande, die es ist, und die es nirgends gut genug kriegen kann, wo ihr nicht das Konfekt auf goldenen Tellern präsentiert wird. Na, kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht – Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren ziehen, daß Ihr am hellen, lichten Tag die Sterne zu sehen bekommt.»

«Nein, was für ein Zug!» rief aber Kellmann, die langsam näher kommende Schar mit unverkennbarem Interesse betrachtend. «Die armen Teufel!»

«Hört, Kellmann», rief aber Schollfeld ärgerlich, «jetzt tretet mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch ‘was sehen kann, und setzt Euch wieder; ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und tut, als ob Euch so etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.»

Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter die Nase sagte: «Ich mag nicht mehr in dir leben und weiß einen Platz, wo’s besser ist.» Das d a c h t e n sich nämlich die ,Tölpel’, wie er sie nannte, aber sie w u ß t e n es nicht – gar nichts wußten sie, und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; Hunderte von Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten konnte.9

Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen, um Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten, um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals trocken machte.

Die ersten Wagen passierten still vorbei; die Führer warfen einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem kühlen, funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern blieben mehrere Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartentür stehen, und während ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten, in ihrer bestaubten, schmutzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen herübersehenden Gruppen hineinzugehen, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Tal öffnete, durch das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehen und schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem Schlag so vor ihnen ins Leben sprang.

«Heiland der Welt, Lisbeth!» rief ein etwa sechzehnjähriges Mädchen der vielleicht zwei Jahre älteren Schwester zu. «Dort drüben liegt Holstetten und von da ist’s nur noch neun Stunden nach Haus – dahinter kann ich den weißen Weg durch’s schwarze Nadelholz sehen, der hinüberführt nach Krisheim.»

«Ja, Marie», antwortete das Mädchen, und während sie sprach, liefen ihr die großen, hellen Zähren an den bleichen Wangen nieder, «gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher… »

Sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll, und sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und weinend da, die schönen tränenüberströmten Züge den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimat, die sie wohl nie im Leben wiederschauen sollten, zugekehrt.

«Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie es versprochen?» brach die Jüngste endlich wieder mit leiser, kaum hörbarer Stimme das Schweigen.

«Sie hat’s ja versprochen», flüsterte fast ebenso leise die Schwester zurück. «Aber - - - so lieb wird sie’s doch nicht haben wie wir.»

«Komm, Lisbeth», sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei anzusehen, der Schwester Hand, «wir wollen gehen – die Wagen sind schon ein Stück voraus.»

Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimat zu, und schritten dann schweigend Hand in Hand ihre weite, unbekannte Bahn den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte.

«He, Marie, Lisbeth!» rief sie der Vater an, der eben an der Tür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte. «Wollt Ihr einmal trinken, Kinder?»

«Ich danke, Vater», sagte Marie zurück, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben, «wir sind nicht durstig.»

«Woher des Wegs, Ihr Leute?» wandte sich jetzt Kellmann, der trotz Schollfelds ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen.

«Aus Hessen», sagte der Mann ruhig und tat einen langen, durstigen Zug aus dem mit dem trefflichen Bier gefüllten schäumenden Glas.

«Und wohin?»

«Nach Amerika.»

«Hm – ist ein weiter Weg – ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?» sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend betrachtend.

Der Bauer, dessen Blick indes auch an dem fernen Punkt gehangen, wo seine frühere Heimat lag, ließ das Auge einen Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiderte dann leise und kopfschüttelnd:

«Schlecht? – Lieber Gott, wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen. Der liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.»

«Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen, die in Amerika herumfliegen?» mischte sich hier der Apotheker ins Gespräch, der nicht umhin konnte, dem ,Auswanderer’, wie er sich ausdrückte, ,einen Hieb zu versetzen’. – «Habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?»

Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick ruhig von der Seite an, bezahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwidern oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht gehört hätte, wandte er sich und folgte mit einem «Grüß Euch Gott, Ihr Herren!» seinen vorangegangenen Töchtern.

«Holzkopf», brummte der Apotheker hinter ihm drein, nur noch mehr gereizt über diese anscheinende Mißachtung. «Dem Volk ist zu wohl hier», setzte er dann, mit einem kräftigen Zug aus seinem Glase, hinzu. «Der Art Leute fühlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen gehalten werden.»

«Guten Abend miteinander», sagte in diesem Augenblick ein anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand, zu dem Tische trat, auf dem in einem schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus zum Anzünden der Zigarre stand. «Wenn’s erlaubt ist, möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.»

«Mit Vergnügen», sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzündend und hinreichend.

«Danke schön », nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm in schnellen, kurzen Zügen ausblasend.

«Und wo geht die Reise hin?» frug Ledermann den Rauchenden.

«Da hinüber», sagte dieser, immer noch scharf ziehend, indes er mit dem linken zurückgebogenen Daumen über die linke Achsel wies. «Über’s große Wasser!»

«Habt Ihr dort schon einen Platz?» frug der Aktuar.

«Ja», sagte der Mann freundlich. «Mein Bruder hat mir geschrieben aus dem Wisconsin10 heraus; da soll’s gut sein.»

«Und geht Ihr alle dorthin?» frug ihn Kellmann.

«Die meisten von uns, ja; eine Partie will aber auch hinüber in’s Missouri, da ist’s wärmer.»

«Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?»

«Ja meistens – e i n Schneider ist dabei und der Schmied aus dem Dorfe, und der Herr Pastor ist schon voraus.»

«Der Pastor geht auch mit11?» frug Kellmann schnell.

«Ahem», nickte der Mann. «Der ist aber mit der Post gefahren; doch er hat gesagt, er wolle sehen, daß wir alle auf e i n Schiff kämen. Danke schön, Ihr Herren, adje.»

«Glückliche Reise!» rief ihm Kellmann nach.

«Danke», nickte der Mann noch einmal zurück, «können’s brauchen», und schloß sich den übrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Tür des Wirtshauses passierten.

Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie dies jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimat entgegenstrebten. Hier und da waren auch ein paar kräftige junge Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines, leichtes Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel die weite Straße entlang zu ziehen. – Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff aufheben, und ein paar Taler sollten doch auch noch übrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge geschützt waren. Den glänzenden Schilderungen, die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange. Von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden, ihre jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar zu viele angewachsen, mit jedem Jahr mehr, wie sie sich auch plagten und quälten, und schlechter k o n n t e es dort drüben nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost, den sie mit sich trugen die lange, heiße Straße entlang, mit einer kleinen Hoffnung möglicher Besserung vielleicht, und sie drückten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und küßten sie und flüsterten ihnen leise und heimlich zu, daß sie nicht mehr schreien sollten, denn sie gingen nach A m e r i k a , und da würde schon alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt.

 

Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen Fähigkeit und Kraft hob sie dabei über manches hinweg, das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. Wer bei einer langen Wanderung v o r a n g e h t und für den Weg zu d e n k e n hat, wird nie so müde als der, der ihm folgt, nur für sich denken läßt und hinterdrein zieht. Viele von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten – was sollte es ,da drüben’ nicht alles zu schießen geben!12 – Manche auch nachgemachte bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus Bayern und Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfahren, blau und weiß, und grün und weiß, in ihrem Hutband stecken, die meisten aber schienen keine solche Erinnerung an die Heimat mitnehmen zu wollen.

Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Tür seines Gartens getreten, und sich jetzt kopfschüttelnd zurück zu seinem Tisch wendend, brummte er vor sich hin:

«’s ist mir doch ‘was Unbedeutendes». Es war dies eine seiner stehenden Redensarten, die in der Tat unbegrenztes Erstaunen ausdrücken sollte. «Was die Leute dies Frühjahr wieder zu ziehen anfangen; Tag für Tag geht das so fort, Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack und Pack, mit Weib und Kind – und alles fort, alles fort, und man merkt nicht einmal, von w o sie fort sind.»

«Doch, doch», sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend. «Doch, doch, Lobsich; o b man’s wohl merkt! – Geht einmal da über die Berge hinüber und seht Euch in den Dörfern um ; da steht manches alte, halbzerfallene l e e r e Haus, an das irgendeine Familie da drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das niemand anders mehr Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge b e s s e r e , ebenfalls leer, in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick, solch ein leeres Haus, und ich seh’s nicht gern13

«Und was für G e l d tragen sie außer Land», fiel der Apotheker hier ein, der indes, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhin konnte, auch noch ein Wort mit drein zu werfen. «Was sie nicht mit hinübernehmen können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und zu uns kommt nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das erst einmal erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich g e z w u n g e n und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen werden. Geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, bis uns hier weiter gar nichts übrig bleibt, als mitzugehen, wenn wir nicht eben in dem verödeten Land allein sitzen wollen, unseren Acker selber zu bauen. Hol’ sie der Teufel! Wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem anderen untauglich macht. Ackern und düngen müssen sie drüben doch auch, und weshalb können sie das nicht ebenso gut h i e r ? – Nein, Gott bewahre, die paar Taler, die sie sich h i e r erspart haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an Experimente und reinen Übermut, und nachher sitzen sie erst recht da. Dort drüben k ö n n e n sie nichts mehr sparen, und m ü s s e n schon drüben bleiben, wenn sie auch wieder herüber möchten. Die paar, die sich doch noch ein paar Taler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die Brücke mutwillig hinter sich abgebrochen und sitzen nun auf der wohlriechenden Heide ohne Unterfutter. Jesus, Maria und Josef, es muß ein ordentlicher Jammer drüben sein!»

«Na, so arg doch wohl noch nicht, Schollfeld», sagte Kellmann kopfschüttelnd, «man hört doch nun auch so manches von da drüben, was nicht gar so schlecht klingt, und wo sich’s schon aushalten ließe, wenn man – wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut tun müßte oder wollte.»

«Nicht so arg?» rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ, auf Amerika zu schimpfen. «Nicht so arg? Da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen und m u ß die Sache verstehen, denn er ist einer von den wenigen, die drüben g e w e s e n und glücklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer, in der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres ,glücklichen Amerika’ hat – das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur einmal.»

«Hören Sie, lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal ‘was sagen», erwiderte ihm Kellmann ruhig. «Dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schönen Artikel schreibt, ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das Wenigste zu sagen, eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, und den in Amerika niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum Arbeiten und nicht imstande etwas anderes zu tun, wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, und wie ein aus einer Tür geworfener Mops stellt er sich jetzt draußen hin, wo sich niemand die Mühe gibt, ihn zu stören, und schimpft und kläfft. Ich will Amerika eben nicht in allem verteidigen, aber was d e r gerade darüber sagt, würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Kot herbei, und rollt sie zusammen, eine Kugel zu machen, in die er sein Ei legt – pfui über den Burschen14

«Na, jetzt freut mich aber mein Leben», rief Herr Schollfeld erstaunt aus. «Erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld tragen.»

«Ich s c h i m p f e nicht auf Amerika», sagte Kellmann ruhig, «ich kann nur nicht leiden, wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht und gegen alle seine Nachteile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher, sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen; die armen Leute, die nachher hinübergehen und es anders finden, sind dann zu sehr enttäuscht und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, aus einem Extrem ins andere – aber s o taugt’s nichts.»

«Guten Abend selbander», sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.

«Hallo, Mathes, wie geht’s?» rief Kellmann, die gebotene herzlich schüttelnd. «Wetter noch einmal, Mann, wo habt Ihr jetzt, gerade in der Saatzeit, gesteckt, daß Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen?»

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