Auferstehung

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Achtes Kapitel.



Der Präsident durchblätterte die Akten, stellte einige Fragen an den Gerichtskommissar und den Sekretär und ordnete, nachdem seine Fragen bejaht worden waren, die Vorführung der Angeklagten an.



Sogleich öffnete sich die Thür hinter dem Gitter und zwei Gendarmen in Czapkas, mit gezogenen Säbeln, traten ein. Hinter ihnen her kam zuerst ein Angeklagter, ein rothaariger Mann mit Sommersprossen, und dann zwei Frauen. Der Mann war mit einem für ihn zu weiten und langen Arrestantenschlafrock bekleidet. Als er den Gerichtssaal betrat, hielt er seine Hände mit ausgespreizten Daumen krampfhaft an die Hosennähte gedrückt, um so das Herabhängen der zu langen Ärmel zu verhindern. Er blickte, ohne die Richter und das Publikum anzusehen, aufmerksam auf die Bank, um die er herumging. Nachdem er sie umgangen, ließ er sich vorsichtig auf dem äußersten Ende nieder, um den anderen Platz zu geben. Dann heftete er seine Augen auf den Präsidenten und fing an, die Muskeln seiner Wangen, als ob er etwas flüsterte, zu bewegen.



Nach ihm trat, ebenfalls im Arrestantenschlafrock, ein nicht mehr junges Weib ein. Um den Kopf hatte sie ein Arrestantentuch, das Gesicht war grauweiß, ohne Brauen und Augenwimpern, aber mit geröteten Lidern. Das Weib schien vollständig ruhig zu sein. Als sie zu ihrem Platz hindurchging, hakte der Schlafrock irgendwo ein; sie machte ihn sorgfältig und ohne Eile wieder los und setzte sich nieder.



Die dritte Angeklagte war die Maslowa.



Kaum war sie eingetreten, als sich sofort die Augen aller im Saal anwesenden Männer auf sie richteten und lange konnten sie sich von ihrem weißen Gesicht mit den schwarzen, feuchtglänzenden Augen und von der unter dem Schlafrock hervortretenden üppigen Brust nicht losreißen. Sogar der Gendarm blickte sie, während sie an ihm vorbeiging, unverwandt an und fuhr dann, als sie sich gesetzt hatte, wie über sein Vergehen erschreckend, zusammen, kehrte sich schnell weg und begann auf das vor ihm liegende Fenster zu stieren.



Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten und wandte sich, als die Maslowa Platz genommen, an den Sekretär.



Es begann die gewöhnliche Prozedur: das Aufrufen der Geschworenen, die Verhandlungen wegen der Nichterschienenen, die Belegung derselben mit Pön, die Entscheidung über diejenigen, die um Urlaub baten, und die Kompletierung der Fehlenden durch Ersatzmänner. Darauf legte der Präsident die Lose zusammen und schüttete sie in die Glasvase. Nachdem er seine gestickten Ärmel etwas in die Höhe gezogen hatte, wobei er seine stark behaarten Arme entblößte, begann er die Lose einzeln, mit den Gesten eines Kunststückmachers herauszuholen, aufzurollen und auszurufen. Dann strich er die Ärmel wieder zurück und bat den Geistlichen, die Geschworenen zu vereidigen.



Der Geistliche war ein alter Mann, mit auf gedunsenem, blaßgelben Gesicht, in einem braunen Talar, mit goldenem Brustkreuz und irgend einem kleinen, an der Seite angehefteten Orden. Langsam unter dem Talar seine geschwollenen Beine bewegend, schritt er zu dem Betpult, das unter dem Heiligenbilde stand.



Die Geschworenen erhoben sich und drängten ebenfalls zu dem Betpult hin.



»Ich bitte«, sagte der Geistliche, mit der dicken Hand an seinem Brustkreuz rührend, und wartete, bis alle Geschworenen herangetreten waren. Dieser Geistliche bekleidete sein Priesteramt schon seit sechs und vierzig Jahren und wollte nach drei Jahren sein Jubiläum feiern, wie es der Domprobst neulich gefeiert. Im Bezirksgericht aber diente er seit Eröffnung der neuen Gerichte und war sehr stolz darauf, daß er bereits so und so viele Tausende vereidigt hatte. Auch daß er, trotz seines vorgerückten Alters fortfuhr, zum Wohle der Kirche, des Staates und seiner Familie, der er außer einem Hause ein Kapital von dreißig tausend Rubel hinterlassen konnte, zu arbeiten, er füllte ihn mit Genugthuung. Daß aber seine Arbeit im Gericht, die darin bestand, die Leute auf das Evangelium, in welchem der Eid ausdrücklich verboten war, schwören zu lassen, eine schlechte Arbeit war, war ihm niemals in den Sinn gekommen. Und diese Beschäftigung fiel ihm nicht nur nicht schwer, sondern war ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, die ihm zu mancher angenehmen Bekanntschaft verhalf. Jetzt eben hatte er mit Vergnügen die Bekanntschaft des berühmten Advokaten gemacht, der ihm dadurch, daß er für den einen Prozeß der alten Dame mit den großen Blumen zehntausend Rubel erhalten hatte, ganz besonderen Respekt einflößte.



Als alle Geschworenen zum Podium herauf gestiegen waren, neigte der Geistliche seinen fast kahlen grauen Kopf auf die Seite, steckte ihn durch die fettige Öffnung des Epitrachilions, ordnete sein spärliches Haar und wandte sich an die Geschworenen:



»Erheben Sie die rechte Hand und thun Sie die Finger so zusammen«, sagte er langsam mit greisenhafter Stimme, indem er seine dicke, mit einem Grübchen über jedem Finger versehene Hand erhob und die Finger wie zu einer Prise zusammenlegte.



»Jetzt sprechen Sie mir nach«, sagte er und begann:



»Ich verspreche und schwöre bei Gott dem All mächtigen, vor seinem heiligen Evangelium und dem lebenspendenden Kreuze des Herrn, daß ich in der Sache, in der ich . . . « Nach jeder Phrase ließ er eine kleine Pause eintreten. »Lassen Sie Ihre Hand nicht sinken, halten Sie sie so«, wandte er sich an einen jungen Mann, der lässig seine Hand hatte herabfallen lassen, . . . »daß ich in der Sache, in der ich . . . «



Der repräsentable Herr mit dem Backenbart, der Oberst, der Kaufmann und andere hielten ihre Hände mit den zusammengelegten Fingern so, wie es der Geistliche verlangte, und thaten dieses demonstrativ und energisch, während andere die Hände nur ungern und in einer unbestimmten Höhe hielten. Einige wiederholten die Worte zu laut, wie mit einem provocierenden Ausdruck, der gleichsam sagte: ich werde aber doch und doch sprechen; während andere nur flüsterten, hinter dem Geistlichen zurückblieben und dann, wie erschrocken, das Versäumte zur Unzeit nachzuholen suchten. Einige wieder hielten ihre Prise fest, ganz fest, als fürchteten sie etwas fallen zu lassen, mit herausfordernder Geste in die Höhe, während andere ihre Finger aufmachten und dann wieder zusammenthaten. Nach der Vereidigung forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Die Geschworenen erhoben sich und drängten zum Beratungszimmer, wo sie fast alle sofort ihre Cigaretten herausholten und zu rauchen begannen. Jemand schlug zum Obmann den repräsentablen Herrn vor und alle stimmten sofort zu, warfen die Cigarettenstummel beiseite und kehrten in den Saal zurück. Der er wählte Obmann teilte dem Präsidenten seine Ernennung mit und die Geschworenen ließen sich wieder, gegenseitig über ihre Füße stolpernd, auf die in zwei Reihen stehenden hochlehnigen Stühle nieder.



Alles ging ohne Unterbrechung, rasch und mit einer gewissen Feierlichkeit vor sich, und diese Gesetzmäßigkeit, Folgerichtigkeit und Feierlichkeit bereitete offenbar den Teilnehmern Vergnügen, indem sie sie in der Überzeugung bestärkte, daß sie eine wichtige öffentliche Handlung vollzögen. Dieses Gefühl empfand auch Nechljudow.



Sobald sich die Geschworenen gesetzt hatten, wandte sich der Präsident mit einer Rede an sie, in welcher er ihnen ihre Rechte, ihre Pflichten und ihre Verantwortlichkeit auseinandersetzte. Während er sprach, wechselte er beständig seine Pose: bald stützte er sich auf die linke, bald auf die rechte Hand, bald auf die Rücklehne, bald auf die Armlehnen des Stuhles; bald glättete er die Ränder des Papieres, bald betrachtete er das Papiermesser, bald die Bleifeder.



Ihre Rechte bestanden, seinen Worten nach, darin, daß sie durch ihn an die Angeklagten Fragen stellen konnten, daß sie Bleifeder und Papier bei sich haben und die corpora delicti besichtigen durften.



Ihre Pflicht bestand darin, daß sie nicht zu Unrecht, sondern gerecht urteilen sollten.



Ihre Verantwortlichkeit endlich zeigte sich darin, daß sie, im Falle der Verletzung des Amtsgeheimnisses und der Konspiration mit Nichtgeschworenen, einer Strafe unterlagen.



Alle hörten in ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit zu. Der Kaufmann, der um sich herum einen Alkoholdunst verbreitete und ein geräuschvolles Aufstoßen zu unterdrücken suchte, nickte zu jedem Satze beifällig mit dem Kopf.








Neuntes Kapitel.



Nachdem der Präsident seine Rede beendet hatte, wandte er sich den Angeklagten zu.



»Simon Kartinkin, stehen Sie auf«, sagte er. Simon sprang nervös auf. Die Muskeln seiner Wangen begannen sich noch heftiger zu bewegen.



»Ihr Name?«



»Simon Petrow Kartinkin«, klapperte er schnell die offenbar vorbereitete Antwort herunter.



»Ihr Stand?«



»Bauer.«



»Welches Gouvernement, welcher Kreis?«



»Das Tulasche Gouvernement, der Krapiwensche Kreis, die Kupjanskische Gemeinde, das Borkische Kirchdorf.«



»Wie alt sind Sie?«



»Im vierunddreißigsten, geboren tausendacht hundert . . .



»Welcher Konfession?«



»Wir sind russisch, rechtgläubig.«



»Verheiratet?«



»Zu Befehl, nein.«



»Womit beschäftigen Sie sich?«



»Wir waren auf dem Korridor in »Hotel Mauritanien« beschäftigt.«



»Vorbestraft?«



»Niemals war ich vor Gericht, denn da wir früher lebten . . . «



»Also nicht vorbestraft?«



»Gott beschütze, nie.«



»Haben Sie die Kopie der Anklageschrift er halten?«



»Jawohl.«



»Setzen Sie sich. Jewfimia Iwanowa Botschkowa«, wandte sich der Präsident an die folgende Angeklagte.

 



Aber Simon blieb stehen und verdeckte die Jewfimia.



»Kartinkin, setzen Sie sich.«



Kartinkin blieb immer noch stehen.



»Kartinkin, setzen Sie sich!«



Aber Kartinkin stand immer noch und setzte sich erst dann, als der herbeigelaufene Gerichtskommissar, mit zur Seite gebeugtem Kopf und unnatürlich aufgerissenen Augen ihm in tragischem Flüsterton zuraunte: sitzen, sitzen!



Kartinkin setzte sich eben so hastig, wie er auf gestanden war und begann, seinen Schlafrock zu ziehend, wieder lautlos die Wangen zu bewegen.



»Ihr Name?« wandte sich der Präsident mit einem Seufzer der Ermüdung zu der zweiten Angeklagten, ohne sie anzusehen und irgend etwas in dem vor ihm liegenden Papier aufsuchend. Die Beschäftigung war dem Präsidenten eine so gewohnte, daß er, zur Beschleunigung des Verfahrens, zwei Sachen zugleich machen konnte.



Die Botschkowa war drei und vierzig Jahre alt, Stand — Kleinbürgerin aus Kolomna, Beruf — Stubenmädchen in dem nämlichen »Hotel Mauritanien.« Angeklagt und in Untersuchung war sie früher nicht gewesen, die Kopie der Anklageschrift hatte sie erhalten. Ihre Antworten brachte die Botschkowa außerordentlich keck heraus und mit einer Betonung, als wollte sie jeder Antwort hin zusetzen: »jawohl Jewfimia, und Botschkowa, die Kopie hab ich erhalten, bin stolz darauf und werde niemandem erlauben, sich über mich lustig zu machen.«



Die Botschkowa setzte sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten, sofort hin, sobald alle an sie gerichteten Fragen erledigt waren.



»Ihr Name?« wandte sich der Präsident an die dritte Angeklagte. »Man muß aufstehen«, fügte er weich und freundlich hinzu, als er bemerkte, daß die Maslowa sitzen geblieben war.



Die Maslowa erhob sich schnell und sah, mit vorgestreckter Brust und dem Ausdruck der Bereitwilligkeit, ohne zu antworten, dem Präsidenten, lächelnd, mit den etwas schielenden schwarzen Augen gerade ins Gesicht.



»Wie nennen Sie sich?«



»Man nannte mich Ljubowj«, sagte sie schnell.



Nechljudow betrachtete unterdessen mit aufgesetztem Pincenez die einzelnen Angeklagten, je nach dem sie aufgerufen wurden. — »Nicht möglich«, dachte er, ohne von der Angeklagten die Augen zu wenden.



»Wie kann sie denn Ljubowj heißen«, dachte er, als er ihre Antwort hörte.



Der Präsident wollte weiter fragen, aber das Mitglied in der Brille unterbrach ihn und raunte ihm etwas mißmutig zu. Der Präsident nickte zustimmend mit dem Kopf und wandte sich wieder an die Angeklagte.



»Wieso denn Ljubowj?« sagte er. »Sie sind hier anders eingetragen.«



Die Angeklagte schwieg.



»Ich frage Sie, wie Ihr wirklicher Name ist?«



»Wie getauft?« fragte das finstere Mitglied.



»Früher hieß ich Katharina.«



»Es ist nicht möglich«, fuhr Nechljudow fort sich einzureden. Trotzdem aber wußte er jetzt ohne alle Zweifel, daß sie es war, dasselbe Mädchen, Ziehkind und Stubenmagd, in welches er eine Zeit lang verliebt, richtig verliebt gewesen, es dann in einem wahnsinnigen Taumel verführt und verlassen hatte. Später hatte er niemals mehr an sie gedacht, weil die Erinnerung daran zu qualvoll war, ihn zu deutlich überführte und ihm zeigte, daß er, der so stolz auf seine Anständigkeit und Korrektheit war, diesem Weibe gegenüber sich nicht nur unkorrekt, sondern geradezu niederträchtig und gemein benommen hatte.



Ja, sie war es. Er sah jetzt deutlich jene exzeptionelle, geheimnisvolle Besonderheit, die den einen Menschen vom andern unterscheidet, ihn zu etwas Apartem, Einzigem, Unwiederholbarem macht. Trotz der unnatürlichen Blässe und Fülle des Gesichts befand sich jene aparte, liebe Besonderheit in dem Gesicht, in den Lippen, in den etwas schielenden Augen und namentlich in diesem naiven, lächelnden Blick und in dem Ausdruck der Bereitwilligkeit, der nicht nur im Gesicht, sondern auch in der ganzen Figur lag.



»So hätten Sie gleich sagen sollen«, sagte wieder ganz besonders weich der Präsident. »Ihr Vatername?«



»Ich bin — eine Uneheliche«, stammelte die Maslowa.



»Doch, wie nannte man Sie nach dem Taufvater?«



»Michajlowa.«



»Und was konnte sie verbrochen haben?« fuhr unterdes Nechljudow, schwer atmend, zu denken fort.



»Wie ist Ihr Familienname, Ihr Zuname?« fragte der Präsident weiter.



»Nach der Mutter wurde ich Maslowa genannt.«



»Ihr Stand?



»Kleinbürgerin.«



»Rechtgläubig?«



»Rechtgläubig.«



»Ihr Beruf? Womit beschäftigten Sie sich?«



Die Maslowa schwieg.



»Womit beschäftigten Sie sich?« wiederholte der Präsident.



»Ich war in der Anstalt«, sagte sie.



»In welcher Anstalt?« fragte streng das Mitglied mit der Brille.



»Sie wissen es ja selbst«, sagte die Maslowa lächelnd und begann, nachdem sie einen schnellen Blick um sich geworfen, wieder den Präsident gerade anzusehen.



Es lag etwas so Ungewöhnliches in ihrem Gesichtsausdruck, etwas so Fürchterliches und Trauriges in der Bedeutung ihrer Worte, ihres Lächelns und des schnellen Blickes, mit dem sie dabei den ganzen Saal überschaut hatte, daß der Präsident seine Augen senkte und im Saal auf einen Augenblick tiefe Stille entstand. Diese Stille wurde nur durch das Gelächter irgend eines der Zuschauer unterbrochen. Ein anderer fing an zu zischen. Der Präsident erhob das Haupt und fuhr fort zu fragen.



»In Untersuchung und vorbestraft waren Sie nicht?«



»Nein«, antwortete die Maslowa leise mit einem Seufzer.



»Haben Sie die Kopie der Anklageschrift er halten?«



»Jawohl.«



»Setzen Sie sich«, sagte der Präsident.



Die Angeklagte hob ihren Rock hinten mit der Bewegung auf, mit welcher geputzte Frauen ihre Schleppe zurückzuschlagen pflegen, und setzte sich, die kleinen Hände in den Ärmeln des Schlafrocks bergend, die Augen unverwandt auf den Präsidenten gerichtet.



Es folgte die Überzählung und Abführung der Zeugen, die Verhandlung bezüglich des medizinischen Sachverständigen und seine Vorladung in den Gerichtssaal. Dann stand der Sekretär auf und begann die Verlesung der Anklageschrift. Er las vernehmlich und laut, aber so schnell, daß seine Stimme, die die Laute L. und R. fehlerhaft aussprach, in ein ununterbrochenes, einschläferndes Getöne zusammenfloß.



Die Richter stützten sich bald auf die eine, bald auf die andere Armlehne, bald auf den Tisch, bald auf die Rücklehne, bald schlossen sie die Augen, bald öffneten sie sie und warfen sich flüsternde Bemerkungen zu. Ein Gendarm hielt mehrere Mal einen beginnenden Gähnkrampf zurück.



Unter den Angeklagten bewegte Kartinkin unaufhörlich seine Wangenmuskeln, während die Botschkowa sich aufrecht und vollständig ruhig hielt, und nur von Zeit zu Zeit sich den Kopf unterm Tuch mit dem Finger kratzte.



Die Maslowa saß bald unbeweglich, dem vorlesenden Sekretär unverwandt zuhörend, bald fuhr sie auf und schien etwas einwenden zu wollen; dann wieder wurde sie rot und seufzte schwer auf, änderte die Lage der Hände, blickte umher, um ihre Augen von neuem auf den Vorleser zu heften.



Nechljudow saß in der ersten Reihe auf seinem hohen Stuhle und blickte, ohne daß Pincenez abzunehmen, auf die Maslowa. In seiner Seele ging eine komplizierte und qualvolle Arbeit vor sich.








Zehntes Kapitel.



Die Anklageschrift lautete: »Am 17. Januar des Jahres 188 . verstarb im Hotel »Mauritanien« plötzlich der angereiste Kurganskische Kaufmann 2. Gilde Ferapont Emeljanowitsch Smeljkow.«



»Der Polizeiarzt des 4. Bezirks stellte fest, daß der Tod durch Herzschlag erfolgt sei, hervorgerufen durch übermäßigen Genuß alkoholischer Getränke.«



»Der Leichnam Smeljkows wurde der Erde übergeben.«



»Nach Verlauf einiger Tage brachte der aus St. Petersburg zurückgekehrte Landsmann und Freund des verstorbenen Smeljkow, der Kaufmann Timochin, zur Anzeige, daß er auf Grund der Umstände, unter welchen der Tod Smeljkows erfolgt sei, den Verdacht hege, daß man seinen Freund zum Zwecke der Beraubung vergiftet habe.«



»Dieser Verdacht fand eine Bestätigung durch folgende Ergebnisse der eingeleiteten Voruntersuchung:



1. Kurz vor seinem Tode erhielt Smeljkow an der Bank dreitausend achthundert Rubel Silber. Während dessen wurden bei der zwecks Sicherstellung des Nachlasses des Verstorbenen angestellten protokollarischen Aufnahme in barem Gelde nur dreihundert und zwölf Rubel auch sechzehn Kopeken vorgefunden.



2. Den ganzen vorhergehenden Tag und die ganze Nacht vor seinem Tode verbrachte Smeljkow in Gesellschaft eines Ljubka genannten Mädchens (der Jekaterina Maslowa), zum Teil bei ihr, zum Teil in dem Hotel »Mauritanien«, wohin auch, in seinem Auftrage zwar, jedoch in seiner Abwesenheit, die vorgenannte Jekaterina Maslowa von ihrem Hause aus hinfuhr, um für den Smeljkow Geld zu holen, welches sie seinem Koffer entnahm, nachdem sie denselben mit dem ihr vom Eigentümer übergebenen Schlüssel geöffnet, und zwar in Gegenwart der im Hotel »Mauritanien« Bediensteten: Jewfimia Botschkowa und Simon Kartinkin. In dem Koffer Smeljkows sahen die seiner Eröffnung durch die Maslowa und nachherigen Verschließung durch ebendieselbe beiwohnenden vorgenannten Botschkowa und Kartinkin mehrere Pakete von Hundertrubelscheinen.



3. Nachdem Smeljkow zusammen mit der Ljubka in das Hotel »Mauritanien« zurückgekehrt war, gab diese auf Anraten des Korridorbedienten Kartinkin dem Smeljkow ein Glas Kognak zu trinken, in welches sie ein vom letztgenannten Kartinkin erhaltenes weißes Pulver hineingeschüttet hatte.



4. Am anderen Morgen verkaufte die Ljubka (Jekaterina Maslowa) ihrer Wirtin, der Zeugin Rosanowa, den Brillantring des Smeljkow, welchen sie angeblich von diesem zum Geschenk erhalten haben wollte.



5. Das Korridormädchen des Hotels »Mauritanien«, Jewfimia Botschkowa, machte auf ihre laufende Rechnung in der örtlichen Kommerzbank eine Einzahlung von tausendachthundert Rubel Silber.«



»Durch die gerichtsärztliche Totenschau, Obduktion und chemische Analyse der Eingeweide des Smeljkow wurde festgestellt, daß sich in dem Organismus des Verstorbenen zweifellos Gift befinde, welcher Umstand die Schlußfolgerung gestatte, daß der Tod Smeljkows durch Vergiftung herbei geführt sei.«



»Die vor die Anklage gestellten mehrgenannten Maslowa, Botschkowa und Kartinkin bekannten sich nicht für schuldig und erklärten:



Die Maslowa, daß sie in der That von Smeljkow in das Hotel »Mauritanien« geschickt worden war, um dem Kaufmann Geld zu holen. Daß sie dort, nachdem sie mit dem ihr vom Kaufmann übergebenen Schlüssel den Koffer geöffnet, demselben, wie es ihr gesagt worden war, vierzig Rubel Silber, aber nicht mehr Geld entnommen hätte, welches die Botschkowa und Kartinkin, die bei dem ganzen Vorgang zugegen gewesen wären, bezeugen könnten. Ferner sagte sie aus, daß sie, als sie zum zweiten Mal in das Hotel kam, dem Smeljkow auf Veranlassung Kartinkins wirklich irgend ein weißes Pulver in Kognak zu trinken gab. Sie that dieses in der Meinung, es handele sich um ein Schlafpulver, damit der Kaufmann einschliefe und sie früher nach Hause gehen könnte. Den Ring habe ihr Smeljkow selbst geschenkt, nachdem er sie geprügelt und sie von ihm weggehen wollte.«



»Jewfimia Botschkowa sagte aus, daß sie von dem verschwundenen Gelde nichts wisse und das Zimmer des Kaufmanns nicht betreten hätte. Dort habe die Ljubka allein gewirtschaftet, und wenn von dem Kaufmann etwas geraubt sei, so könne das nur die Ljubka gethan haben, als sie mit den Schlüsseln des Kaufmanns das Geld holte . . . «



An dieser Stelle der Vorlesung zuckte die Maslowa zusammen, öffnete den Mund und wandte sich nach der Botschkowa um.



»Als aber der Jewfimia Botschkowa ihr auf tausend achthundert Rubel Silber lautender Bankschein vorgelegt wurde«, fuhr der Sekretär zu lesen fort, »und sie gefragt wurde, woher sie so viel Geld habe, sagte sie aus, daß sie sich dasselbe im Laufe von zwölf Jahren zusammen mit Simon Kartinkin, den sie heiraten wollte, verdient hätte.«



»Simon Kartinkin gestand seinerseits bei der ersten Vernehmung, daß er zusammen mit der Botschkowa, auf Veranlassung der mit dem Schlüssel in das Hotel gekommenen Maslowa, das Geld geraubt und es mit den beiden Frauen geteilt habe . . . «



Bei diesen Worten fuhr die Maslowa wieder zusammen, wurde dunkelrot, sprang sogar auf und begann zu sprechen. Aber der Gerichtskommissar hieß sie schweigen.

 



»Endlich«, fuhr der Sekretär im Lesen fort, »gestand Kartinkin auch, daß er der Maslowa Pulver zur Einschläferung des Kaufmanns gebracht habe. In seiner zweiten Vernehmung leugnete der Angeklagte dagegen, an dem Raub des Geldes teilgenommen und der Maslowa irgend welches Pulver gegeben zu haben; an allem sei die Maslowa allein schuld. Bezüglich des von der Botschkowa bei der Bank eingezahlten Geldes aber sagte er übereinstimmend mit der Botschkowa aus, daß sie das Geld sich zusammen, während ihrer zwölf jährigen Dienstzeit im Hotel, von den Trinkgeldern der Herrschaften ersp

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