Auferstehung

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Dreizehntes Kapitel

Von der Zeit an sahen sich Nechljudow und Katjuscha drei Jahre lang nicht wieder. Erst als er eben zum Offizier befördert auf dem Wege nach der aktiven Armee zu seinen Tanten einen Abstecher machte, traf er mit Katjuscha wieder zusammen. Jetzt aber war er bereits ein ganz anderer Mensch, wie damals vor drei Jahren, als er dort den Sommer verbrachte.

Damals war er ein ehrlicher, selbstloser Jüngling gewesen, bereit, sich für jede gute Sache aufzuopfern. Jetzt war er ein entarteter, verfeinerter Egoist, der nur seinen Genuß liebte. Damals erschien ihm die Welt Gottes als ein Geheimnis, das er entzückt und freudig zu enträtseln suchte; jetzt war ihm alles in dieser Welt klar und einfach, und bedingt durch die Lebensverhältnisse, in denen er sich befand. Damals war ihm der Verkehr mit der Natur und den Menschen, die vor ihm gelebt, gedacht und gefühlt hatten, mit Philosophen und Dichtern, notwendig und wichtig; jetzt waren es für ihn die menschlichen Einrichtungen und der Verkehr mit den Kameraden. Damals erschien ihm das Weib geheimnisvoll und reizend, ein Wesen, dessen Zauber eben in jenem Geheimnis bestand; jetzt war die Bedeutung des Weibes, eines jeden Weibes außer den eigenen Familienangehörigen und den Frauen der Freunde, eine sehr bestimmte: das Weib war eines der besten Mittel für einen ihm schon bekannten Genuß. Damals brauchte er kein Geld und konnte mit weniger als dem dritten Teile dessen, was er von der Mutter erhielt, auskommen, sogar auf das Gut des Vaters verzichten und es den Bauern schenken; jetzt genügten ihm die tausend fünfhundert Rubel nicht mehr, die ihm die Mutter monatlich gab, und er hatte mit ihr bereits peinliche Geldgespräche. Damals hielt er für sein wirkliches Ich sein geistiges Wesen; jetzt hielt er sein gesundes, rüstiges, animalisches Ich dafür.

Und diese ganze furchtbare Veränderung hatte sich in ihm nur dadurch vollzogen, daß er auf gehört hatte, sich selbst zu glauben und anderen zu glauben begann. Er hatte aber daher auf gehört, sich selbst zu glauben und anderen zu glauben begonnen, weil es zu schwer war zu leben, wenn man sich selbst glaubte. Wenn man sich selbst glaubte, mußte man jede Frage nicht zu Gunsten, sondern fast immer zu Ungunsten seines tierischen, nach leichten Freuden lechzenden Ichs entscheiden. Glaubte man aber anderen, so brauchte man nichts mehr zu entscheiden, alles war schon entschieden und entschieden immer zu Ungunsten des geistigen und zu Gunsten des animalischen Ichs. Und nicht genug, — glaubte er sich selbst, so setzte er sich immer der Verurteilung von Seiten der anderen Leute aus; glaubte er aber anderen, so hatte er den Beifall seiner Umgebung.

Wenn z. B. Nechljudow über Gott, über die Wahrheit, über Reichtum und Armut dachte, las oder sprach, so hielt seine ganze Umgebung dieses für deplaciert und beinahe lächerlich, und die Mutter und die Tante nannten ihn mit gutmütiger Ironie: notre cher philosophe. Wenn er aber Romane las, laxe Anekdoten erzählte, lustige Vaudevilles im französischen Theater besuchte und sie dann lustig wiedererzählte, so lobten und ermunterten ihn alle. Als er es für nötig hielt, seine Bedürfnisse einzuschränken, einen alten Mantel trug und keinen Wein trank, so hielten das alle für ein Sonderlingstreiben und renommistische Originalität. Wenn er aber für die Jagd oder zur Einrichtung eines außergewöhnlich luxuriösen Kabinetts viel Geld ausgab, so lobten alle seinen Geschmack und schenkten ihm noch kostbare Sachen dazu. Als er noch keusch war und es auch bis zur Ehe bleiben wollte, so fürchteten seine Verwandten für seine Gesundheit und sogar seine Mutter war durchaus nicht betrübt sondern eher erfreut, als sie erfuhr, daß er ein ganzer Mann geworden war und seinem Kameraden irgend eine französische Dame abspenstig gemacht hatte. An die Geschichte mit Katjuscha, daran, daß ihm der Gedanke hätte kommen können sie zu heiraten, konnte die Fürstin-Mutter nicht ohne Entsetzen denken.

Als Nechljudow nach Erreichung der Volljährigkeit jenes kleine Gut, das er vom Vater geerbt hatte, den Bauern schenkte, weil er den Grundbesitz für etwas Unrechtmäßiges hielt, — da versetzte diese Handlungsweise seine Mutter und seine Verwandten in Schrecken und blieb ein ständiges Ziel für alle möglichen Neckereien und Vorwürfe von Seiten der Verwandten. Man er zählte ihm unaufhörlich davon, daß die Bauern, nachdem sie das Land erhalten, nicht nur nicht wohlhabender geworden waren, sondern anfingen zu verarmen, im Dorf drei Schenken errichteten und ganz und gar aufhörten zu arbeiten. Als aber Nechljudow, nachdem er in die Garde eingetreten war, mit seinen hochgestellten Kameraden soviel verlebte und verspielte, daß Jelena Iwanowna ihr Kapital angreifen mußte, war sie darüber kaum betrübt, sondern meinte, daß das natürlich und daß es sogar gut sei, wenn diese Art Impfung in der Jugend und in guter Gesellschaft vorgenommen würde.

Anfangs kämpfte Nechljudow, aber der Kampf war zu schwer, denn alles das, was er nach seinem eigenen Gewissen für gut hielt, hielten die anderen für schlecht, und umgekehrt, was er seinem Gewissen nach für schlecht hielt, hielt seine ganze Umgebung für gut. Und das Ende war, daß Nechljudow sich ergab, aufhörte sich selbst zu glauben, und anderen zu glauben begann. Und in der ersten Zeit war diese Verleugnung seiner selbst ihm unangenehm. Dieses unangenehme Gefühl hielt aber nicht lange an, und sehr bald empfand es Nechljudow, der um dieselbe Zeit zu rauchen und Wein zu trinken anfing, gar nicht mehr, sondern fühlte sogar eine große Erleichterung.

Und Nechljudow gab sich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seiner Natur dieser neuen, von seiner ganzen Umgebung gebilligten Lebensweise hin, und erstickte die innere Stimme, die nach etwas anderem verlangte. Das begann mit der Übersiedelung nach St. Petersburg und erreichte seine Vollendung mit dem Eintritt in den Militärdienst.

Der Militärdienst demoralisiert überhaupt die Menschen. Er veranlaßt sie zum Müßiggang, das heißt zum Aufgeben jeder vernünftigen und nützlichen Thätigkeit. Er entbindet sie von den allgemeinen menschlichen Pflichten und stellt als Ersatz dafür nur die konventionelle Ehre des Regiments, der Uniform und der Fahne hin, nur die unbeschränkte Gewalt über andere Menschen oder sklavische Unterwürfigkeit vor den Vorgesetzten.

Wenn aber zu dieser demoralisierenden Wirkung des Militärdienstes überhaupt, mit seiner Ehre der Uniform und der Fahne, mit seiner Billigung von Gewaltthätigkeit und Totschlag, wenn sich dazu noch die verderbliche Wirkung des Reichtums und des nahen Verkehrs mit der kaiserlichen Familie gesellen, wie das inmitten der Elite-Regimenter der Garde, in welchen nur reiche und vornehme Offiziere dienen, zu geschehen pflegt, dann führt diese Verderbnis bei den Leuten, die ihr verfallen, einen vollständigen Egoismus-Irrsinn her bei. Und in einem solchen Zustand des Egoismus-Irrsinns befand sich Nechljudow, seitdem er in den Militärdienst eingetreten war und den Lebenswandel begonnen hatte, den seine Kameraden führten.

Man kannte keine andere Arbeit, als in einer vorzüglich sitzenden Uniform, in Helm und Waffen, — alles das nicht selbst, sondern von anderen Leuten gefertigt, geputzt und dargereicht —, auf einem schönen, ebenfalls von anderen Leuten gepflegten und zugerittenen Pferde zum Exerzieren oder zur Parade zu reiten, dort mit seinesgleichen zu galoppieren, die Säbel zu schwingen, zu schießen und in diesem allen auch andere Menschen zu unterrichten. Eine andere Beschäftigung gab es nicht, und die höchstgestellten Persönlichkeiten, jung und alt, der Zar und seine Vertrauten billigten nicht nur diese Beschäftigung, sondern ermunterten zu derselben noch durch Lob und Danksagung.

Außerdem hielt man es für gut und wichtig, in den Offizierskasinos und in den teuersten Restaurants Zusammenkünfte zu veranstalten, wo man das aus unsichtbaren Quellen fließende Geld veraß und vertrank, worauf Theater, Bälle und Frauen folgten, und dann wieder das Reiten, Säbel schwingen, und wieder Geldverschleudern, und Wein und Karten und Frauen.

Ein solches Leben wirkt auf das Militär ganz besonders verderblich, weil ein Nichtmilitär, wenn er dieses Leben führt, nicht umhin kann, sich in der Tiefe seiner Seele dessen zu schämen. Die Militärs aber glauben, daß es so sein müsse, prahlen damit und sind stolz darauf, besonders in Kriegszeiten, wie es auch mit Nechljudow, der nach der Kriegserklärung an die Türkei in den Militärdienst eintrat, der Fall war.

»Wir sind bereit, unser Leben im Kriege zu opfern, und daher ist eine solche sorglose, lustige Lebensweise nicht nur verzeihlich, sondern auch für uns notwendig. So leben wir denn drauf los.«

So dachte Nechljudow, wenn auch nicht ganz klar, in dieser Periode seines Lebens.

Nechljudow feierte in dieser Periode den Triumph der Befreiung von allen sittlichen Fesseln, mit denen er sich früher belastet hatte, und befand sich ohne Aufhören in einem chronischen Zustand des Egoismus-Irrsinns.

In so einem Zustand befand er sich auch, als er nach Verlauf dreier Jahre bei den Tanten wieder einkehrte.

Vierzehntes Kapitel.

Nechljudow besuchte die Tanten, weil ihr Gut auf dem Wege zu seinem bereits vor ausgegangenen Regiment lag, und weil sie ihn sehr darum gebeten hatten; hauptsächlich aber um Katjuscha wiederzusehen. Vielleicht befand sich schon in der Tiefe seiner Seele jene schlimme Absicht in Bezug auf Katjuscha, die ihm der jetzt entfesselte animalische Mensch einflüsterte. Jedoch kam ihm diese Absicht nicht zum Bewußtsein. Er wollte nur einfach den Ort, wo es ihm so wohl gewesen war, und die komischen aber lieben und gutmütigen Tanten, die ihn stets unmerklich für ihn selbst mit der Atmosphäre der Liebe und Bewunderung umgeben hatten, wieder aufsuchen. Auch die liebe Katjuscha, an die ihn so angenehme Erinnerungen fesselten, wollte er wiedersehen.

 

Er kam bei den Tanten Ende März an, am Charfreitag, bei schlechtestem Wege, unter strömendem Regen, durchnäßt und erfroren, aber rüstig und angeregt, wie er sich zu der Zeit immer fühlte. »Ob sie noch da ist?« dachte er, als er in den bekannten, von einer Ziegelmauer umgebenen altertümlichen Gutshof, an den vom Dach herabgerutschten Schneehaufen vorbei einfuhr. Er hatte erwartet, daß sie auf das Geklingel seiner Schellen herauslaufen würde. Aber auf der Leutetreppe standen nur zwei barfüßige, aufgeschürzte Weiber mit Eimern, die offenbar Dielen scheuerten. Auch auf der Paradetreppe war sie nicht zu sehen; nur der Diener Tichon kam heraus, mit einer vorgebundenen Schürze, augenscheinlich ebenfalls mit dem Aufräumen beschäftigt. Im Vorzimmer erschien Sofja Iwanowna im seidenen Kleide und Haube.

»Das ist nett, daß du gekommen bist!« sagte Sofja Iwanowna, und küßte ihn; »Maschenjka ist nicht ganz wohl, in der Kirche etwas müde geworden. Wir haben das heilige Abendmahl genommen.«

»Ich gratuliere, Tante Sonja«, sagte Nechljudow, Sofja Iwanownas Hände küssend, »verzeihen Sie, ich habe Sie naß gemacht.«

»Geh’ auf dein Zimmer. Du bist ganz naß. Und einen Schnurrbart hast du schon. Katjuscha! Katjuscha! Schnell für ihn Kaffee.«

»Gleich!« antwortete aus dem Korridor eine bekannte, liebliche Stimme. Und Nechljudows Herz Krampfte sich freudig zusammen: »Hier!« Es war ihm, als guckte die Sonne hinter den Wolken hervor und fröhlich begab er sich mit Tichon in sein altes Zimmer, um sich umzukleiden.

Nechljudow wollte Tichon in Betreff Katjuschas ausfragen: — Was sie mache? Wie es ihr gehe? Ob sie sich nicht verheirate? Aber Tichon war so ehrerbietig und zugleich streng, bestand so fest darauf, daß er ihm selbst das Wasser aus der Kanne auf die Hände gießen müsse, daß sich Nechljudow nicht entschließen konnte, ihn nach Katjuscha zu fragen, sondern sich nur nach seinen Enkeln, nach dem alten Hengst und nach dem Hofhund Polkan erkundigte. Alle waren gesund und am Leben, nur Polkan war im vorigen Jahr an der Tollwut verendet.

Als er alles Nasse abgeworfen hatte und sich eben auszuziehen begann, hörte er schnelle Schritte und an die Thür wurde geklopft. Nechljudow erkannte die Schritte und das Klopfen. So pflegte nur sie zu gehen und zu klopfen.

Er warf sich den nassen Mantel um und trat an die Thür. — »Herein!«

Es war sie, Katjuscha. Immer dieselbe, nur noch reizender als früher. Die lächelnden, naiven, unmerklich schielenden Augen schauten wie früher, von unten herauf. Wie früher trug sie eine saubere weiße Schürze. Sie brachte von den Tanten ein eben aus der Papierhülle genommenes Stück duftender Seife und zwei Handtücher: ein großes russisches und ein zottiges. Die noch unberührte Seife mit den aufgedruckten Buchstaben, die Handtücher und sie selbst — alles war gleich sauber, frisch, unberührt und angenehm. Ihre lieblichen, festen, roten Lippen kräuselten sich bei seinem Anblick wie früher in überquellender Freude.

»Willkommen, Dmitrij Iwanowitsch!« brachte sie mit Mühe hervor und errötete.

»Guten Tag! Wie geht es Dir . . . Wie geht es Ihnen?« er wußte nicht, ob er zu ihr Du oder Sie sagen sollte, und wurde ebenfalls rot.

»Gott sei Dank . . . Hier schicken Ihnen die Tanten Ihre Lieblings- die Rosenseife«, sagte sie, die Seife auf den Tisch legend, und hing die Handtücher über die Stuhllehne.

»Wir haben unsere eigene Seife«, sagte Tichon, der die Selbständigkeit des Gastes wahren wollte, und wies stolz auf das silberfunkelnde Necessaire Nechljudows, in welchem sich eine Unzahl Flacons, Bürsten, Vixatoirs, Parfums und aller erdenklichen Toilettengegenstände befand.

»Sagen Sie der Tante, daß ich danke. — Wie froh ich bin, wieder hier zu sein«, sagte Nechljudow. Und er fühlte, wie es ihm auf dem Herzen ebenso hell und heiter wurde, wie in früheren Zeiten.

Sie lächelte auf seine Worte und ging hinaus.

Die Tanten, die Nechljudow immer lieb gehabt hatten, empfingen ihn noch freundlicher als gewöhnlich. Dmitrij fuhr auf den Kriegsschauplatz, wo er verwundet, getötet werden konnte. Das rührte die Tanten.

Nechljudow hatte seine Reise so eingerichtet, daß er nur vierundzwanzig Stunden bleiben sollte. Aber nachdem er Katjuscha gesehen, entschloß er sich, das Osterfest, das in zwei Tagen war, bei den Tanten zu feiern und telegraphierte seinem Freunde und Kameraden Schönbock, mit dem er in Odessa zusammen treffen sollte, daß auch er kommen möge.

Vom ersten Tage an, sobald er Katjuscha gesehen hatte, erwachten in ihm die alten Gefühle für sie. Ebenso wie früher konnte er ihre weiße Schürze nicht ohne Erregung sehen, nicht ohne Jubel ihre Stimme, ihr Lachen, ihren Gang hören, nicht ohne Rührung ihr in die wie nasse Beeren glänzenden schwarzen Augen sehen, — besonders wenn sie lächelte. Am meisten aber verwirrte ihn ihr Erröten, das sich bei jeder Begegnung ein stellte. Er fühlte, daß er verliebt war, aber nicht so wie damals, als diese Liebe für ihn ein Geheimnis war, welches er sich selbst nicht gestehen wollte, nicht wie damals, als er noch glaubte, daß man nur ein Mal lieben könne. Jetzt war er mit vollem Bewußtsein verliebt und freute sich dessen. Und obwohl er es sich nicht gestehen wollte, so fühlte er doch, worin diese Liebe bestand und wozu sie führen konnte.

In Nechljudow waren, wie in allen Leuten, zwei Menschen. Der eine, geistige, strebte nur nach dem Heil, das auch anderen zum Heile gereicht; und der andere, der animalische Mensch, nur nach dem eigenen Heil, bereit, diesem das Wohl der ganzen Menschheit zum Opfer zu bringen. In dieser Periode des Egoismus-Irrsinns, der durch das Petersburger Militärleben hervorgerufen war, dominierte in ihm der animalische Mensch, während der geistige Mensch fast erdrückt war. Aber als er Katjuscha wieder sah und von neuem das zu fühlen begann, was er ihr gegenüber früher empfunden hatte, da erhob der geistige Mensch das Haupt und begann sein Recht zu fordern. Und ohne Unterlaß ging während dieser zwei Tage vor Ostern in Nechljudow ein unbewußter innerer Kampf vor sich.

In der Tiefe seiner Seele wußte er, daß er jetzt fahren müßte und keinen Grund hatte, bei den Tanten länger zu bleiben. Er wußte, daß dabei nichts Gutes herauskommen konnte. Es war ihm aber so heiter und angenehm zu Mute, daß er sich das alles nicht sagte, sondern dablieb.

Am Sonnabend Abend vor dem Heiligen Osterfeste kam der Priester mit dem Diakon und dem Vorsänger, um die Frühmesse zu lesen. Der Weg von der drei Werst entfernten Kirche, erzählte er, sei so schlecht gewesen, daß man mit dem Schlitten durch die Pfützen kaum durchgekommen sei.

Nechljudow hörte mit den Tanten und dem Gesinde die Frühmesse, während er unaufhörlich nach Katjuscha hinsah, die in der Thür stand und das Rauchfaß besorgte. Dann küßte er der Sitte gemäß drei Mal den Priester und die Tanten, und wollte sich schon zu Bette legen, als er auf dem Korridor die Vorbereitungen des alten Stubenmädchens vernahm, das mit Katjuscha in die Kirche wollte, um dort die Osterbrok und Paschakuchen weihen zu lassen.,Ich will auch hin’, dachte er.

Da man zur Kirche weder mit dem Schlitten noch mit dem Wagen konnte, so befahl Nechljudow, der bei den Tanten wie zu Hause war, den alten Hengst zu satteln und zog, statt zu Bette zu gehen, seine glänzende Uniform mit den enganliegenden Reithosen an. Dann warf er sich den Mantel um und ritt auf dem alten, fett und schwer gewordenen Hengst in der Dunkelheit durch Pfützen und Schnee zur Kirche.

Fünfzehntes Kapitel.

Fürs ganze Leben blieb ihm diese Frühmesse eine der hellsten und greifbarsten Erinnerungen.

Als er in der schwarzen, nur stellenweise durch den weißen Schnee erhellten Finsternis, auf dem mit den Ohren spinnenden Hengst in den illuminierten Kirchenhof einritt, hatte der Gottesdienst schon begonnen.

Die Bauern brachten ihn, als sie in ihm den Neffen Marja Iwanownas erkannten, zu einer trockenen Stelle, wo er absteigen konnte, und geleiteten ihn zur Kirche, die von einer festlichen Menge erfüllt war.

Auf der rechten Seite standen die Bauern: die Alten in hausgewebten Kaftans, Bastschuhen und sauberen weißen Fußlappen, die Jungen in neuen Tuchkaftans, mit grellfarbigen Gürteln und in Stiefeln. Links standen die Frauen in roten Seidentüchern, sammtenen Jacken mit grellroten Ärmeln, in blauen, grünen, roten, bunten Röcken und in eisenbeschlagenen Schuhen.

Hinter ihnen standen bescheidene alte Mütterchen mit Weißen Kopftüchern, altertümlichen Jacken und Röcken, zum Teil in Bastschuhen. Den Platz zwischen diesen beiden Gruppen nahmen aufgeputzte Kinder mit von Öl glänzenden Köpfen ein. Die Bauern bekreuzten und verneigten sich, das Haar aus der Stirne schüttelnd. Die Frauen, besonders die alten, die ihre verblichenen Augen unverwandt auf ein von Kerzen hell beleuchtetes Heiligenbild gerichtet hielten, drückten die zusammengelegten Finger fest an das Kopftuch, dann an die Schultern und an den Bauch, beugten flüsternd den Oberkörper vorn über oder ließen sich auf die Kniee nieder. Die Kinder, die den Erwachsenen nachahmten, beteten eifrig, wenn man sie ansah. Die goldene Ikonostaswand, die das Allerheiligste vom Tempel trennte, erstrahlte im Lichterglanz, der von den kleinen Wachskerzen ausging, die je eine goldbandumwundene umgaben. Der Kronleuchter war mit Kerzen besetzt, von den Seitenchören ertönten die heitersten Weisen der freiwilligen Sänger, brüllende Bässe und feine, hohe Knabenstimmen.

Nechljudow ging nach vorne durch. In der Mitte stand die Aristokratie: ein Gutsbesitzer mit seiner Frau und einem Knaben im Matrosenkostüm, der Landpolizeimeister, ein Telegraphenbeamter, ein Kaufmann in steifen Stülpstiefeln, der Dorfälteste mit einer Medaille. Rechts vom Aufgang zur Königspforte, hinter der Gutsbesitzersfrau, stand Matrjona Pawlowna im schillernden lila Kleide mit weißem Shawl, und Katjuscha in einem weißen, am Busen gefalteten Kleidchen mit einem hellblauen Gürtel und einer roten Schleife im schwarzen Haar.

Alles war festlich, feierlich, heiter und schön; die Priester in Gewändern von Silberbrokat mit gestickten goldenen Kreuzen, der Diakon und die Vorsänger in festlichen gold- und silbergestickten Chorröcken, die aufgeputzten freiwilligen Sänger mit reichgeöltem Haupthaar, die heiteren Tanzweisen der Festgesänge, die immer wiederkehrende Segnung des Volkes durch die Geistlichen mit den blumenumwundenen dreiarmigen Leuchtern und der immer von neuem erschallende Ruf: »Christ ist erstanden!« »Christ ist erstanden!« Alles das war schön, aber am schönsten war Katjuscha, im weißen Kleidchen mit dem hellblauen Gürtel und der roten Schleife im schwarzen Haar und den vor Entzücken glänzen den Augen.

Nechljudow fühlte ohne sich umzublicken, daß sie ihn sah. Er hatte es bemerkt, als er nahe an ihr vorbei zum Altar gegangen war. Er hatte ihr nichts zu sagen, aber er ersann sich etwas und sagte im Vorbeigehen:

»Tante sagte, daß sie das Ostermahl nach der Spätmesse einnehmen will . . . «

Das junge Blut übergoß wie immer bei seinem Anblick ihr ganzes liebes Gesicht und ihre schwarzen, lachenden Augen schauten naiv zu ihm auf.

»Ich weiß . . . « antwortete sie lächelnd.

In diesem Augenblick drängte sich gerade der Vorsänger mit einer kupfernen Kaffeekanne durch das Volk und streifte Katjuscha, als er ohne sie anzusehen an ihr vorbeiging, mit dem Saume seines Chorrockes. Der Vorsänger hatte Katjuscha offenbar darum gestreift, weil er aus Ehrerbietung Nechljudow umgehen wollte. Aber Nechljudow er schien es unbegreiflich, wie dieser Vorsänger es nicht wissen konnte, daß ja alles das, was hier und überhaupt auf der ganzen Welt existierte, nur Katjuschas wegen da war, und das man alles in der Welt eher vernachlässigen könnte, als sie, die doch der Mittelpunkt von allem war. Für sie erglänzte das Gold am Ikonostas, für sie erstrahlten alle die Kerzen, ihr allein galten die fröhlichen Weisen: »Die Ostern des Herrn, freuet euch, ihr Menschen!«

Alles Gute, was in der Welt war, war ihretwegen da. Und Katjuscha selbst begriff, wie ihm schien, daß alles nur um ihretwillen da war. So schien es Nechljudow, wenn er seine Blicke über ihre zarte Figur im weißen gefältelten Kleidchen und über ihr freudig-aufmerksames Gesicht gleiten ließ. An dem Ausdrucke dieses Gesichts sah er, daß dasselbe, was in seiner Seele sang, auch ihre Seele ertönen machte.

 

Zwischen der Früh- und Spätmesse ging Nechljudow aus der Kirche. Das Volk trat vor ihm auseinander und grüßte. Die einen erkannten ihn, die anderen fragten: »Wer ist das?« In der Vor halle blieb er stehen. Die Bettler umringten ihn; er verteilte das Kleingeld, das er in der Börse hatte und stieg die Stufen der Treppe hinunter.

Es war bereits so hell geworden, daß man sehen konnte, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Volk ließ sich auf den Gräbern um die Kirche herum nieder. Katjuscha war noch in der Kirche, und Nechljudow blieb stehen, um sie zu erwarten.

Die Leute strömten noch immer aus der Kirche. Mit den schweren Stiefeln traten sie geräuschvoll auf die Fliesen, stiegen die Treppe hinunter und zerstreuten sich aus dem Kirchhofe.

Ein hochbetagter Greis mit zitterndem Kopfe, der Konditor Marja Iwanownas, hielt Nechljudow an und küßte ihn, während seine Frau, eine Alte mit runzeligem Halse unter dem seidenen Kopftuche, ein gelbes, mit Safran gefärbtes Ei hervorholte und es Nechljudow überreichte. Auch ein junger muskulöser Bauer im neuen Rock mit grünem Gürtel trat lächelnd heran.

»Christ ist erstanden!« sagte er mit lachenden Augen, und küßte Nechljudow, ihn mit seinem krausen Bärtchen kitzelnd, dreimal mit den festen, frischen Lippen mitten auf den Mund.

Während Nechljudow sich mit dem jungen Manne, von dem ein besonderer, angenehmer Bauernduft ausströmte, küßte und von ihm ein dunkelbraunes Ei in Empfang nahm, zeigte sich das schillernde Kleid Matrjona Pawlownas und das liebe schwarze Köpfchen mit der röten Schleife.

Sie hatte ihn sofort über die Köpfe der Menge hinweg erblickt und er sah, wie ihr Antlitz erstrahlte.

Sie trat mit Matrjona Pawlowna auf die Treppe heraus und blieb stehen, um den Bettlern ein Almosen zu reichen. Ein Bettler mit einem roten verheilten Schorf anstatt der Nase trat an sie heran. Katjuscha holte irgend etwas aus ihrem Tuch hervor, reichte es ihm hin und näherte sich ihm, um ihn ohne jeden Abscheu, mit denselben strahlenden Augen dreimal zu küssen. Und während sie sich mit dem Bettler küßte, begegneten ihre Augen dem Blicke Nechljudows. Es war, als fragte sie ihn: »Ist’s so gut? thu ich recht so?«

»Ja, ja, Geliebte, es ist alles gut, alles schön, und ich liebe dich!«

Sie kamen die Treppe herab und er ging auf sie zu. Er wollte sich nicht mit ihr küssen, nur näher wollte er ihr sein.

»Christ ist erstanden!« sagte Matrjona Pawlowna lächelnd, in einem Tone, der sagen sollte, daß heute alle gleich seien. Und ihr Tuch zu einem Knäuel zusammenballend, wischte sie sich den Mund und bot ihm ihre Lippen.

»Wahrlich!« antwortete Nechljudow und küßte sie. Er sah sich nach Katjuscha um. Sie errötete und ging sogleich auf ihn zu.

»Christ ist erstanden, Dmitrij Iwanowitsch!«

»Wahrlich erstanden«, sagte er. Sie küßten einander zweimal und hielten dann inne, als überlegten sie, ob es noch einmal nötig sei. Und als hätten sie sich für die Bejahung dieser Frage entschieden, küßten sie sich zum dritten Mal und lächelten beide.

»Geh’n Sie nicht zum Geistlichen?« fragte Nechljudow.

»Nein, Dmitrij Iwanowitsch, wir bleiben hier etwas sitzen«, antwortete Katjuscha. Dabei holte sie mit voller Brust schwer Atem, als hätte sie eben eine freudige Arbeit vollbracht, und sah ihm mit ihren unterwürfigen, jungfräulichen, liebenden, kaum schielenden Augen ins Gesicht.

In der Liebe zwischen Mann und Frau giebt es immer einen Augenblick, wo diese Liebe ihren Zenith erreicht, wo sie noch nichts Zielbewußtes, nichts Verstandesmäßiges, nichts Sinnliches an sich hat. Einen solchen Augenblick bedeutete für Nechljudow diese heilige Osternacht. Wenn Nechljudow jetzt an Katjuscha dachte, so verdunkelte dieser Augenblick alle anderen Lagen, in denen er sie gesehen hatte. Das schwarze, glatte, glänzende Köpfchen, das weiße gefältelte Kleid, das ihre schlanke Gestalt und den zarten Busen umspannte, das Rot der Wangen, die zärtlichen strahlend schwarzen Augen, und jene beiden markantesten Züge ihres ganzen Wesens: die reine, jungfräuliche Liebe nicht nur zu ihm, nein, zu allen und zu allem, und nicht nur zu allem Guten, was es in der Welt gab, sondern auch zu dem Bettler, den sie geküßt hatte.

Er wußte, daß in ihr diese Liebe war, weil er dieselbe in sich selbst in jener Nacht und an jenem Morgen empfunden hatte, und daß er in dieser Liebe mit ihr in Eins zusammenfloß.

O, wenn es doch bei dem Gefühl dieser Nacht geblieben wäre! »Ja, jene ganze schreckliche That geschah erst nach dieser heiligen Osternacht!« dachte er jetzt, als er am Fenster im Zimmer der Geschworenen saß.

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