Island

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Marcel Krueger

Island. Eine Insel und ihre Bücher

Reclam

Für Magnús Gísli Arnarson

1980–2020

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung

Coverabbildung: Jen Leem-Bruggen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961879-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011314-1

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort

  1. Buchverrückt – Islands Liebe zum gedruckten Wort

  2. Berichte aus dem Nordmeer

  3. Wolfszeit

  4. »Breite Spieße werden immer beliebter« – Die isländischen Sagas

  5. Piraten und Prediger

  6. Hundstagekönige

  7. Der Mittelpunkt der Erde

  8. Rot brannte die Flamme

  9. Atomstation

  10. Traumland

  11. Geisterfjord

  Ausklang

  Literaturhinweise

Vorwort

Þar er landið mitt

vafið náttkyrri værð

steypt í stálkaldan ís

Dort ist mein Land

Umhüllt von stiller Nacht

Begraben unter Eis, kalt wie Stahl

Gerður Kristný (*1970)

Reykjavík ist fast wie ausgestorben, und Leifur Eiríksson ignoriert mich. Als ich im Schatten der raketenwerferförmigen Hallgrímskirkja, der größten lutherischen Kirche des Landes, an seiner Statue vorbeigehe, starrt er auf den Horizont im Westen, wo sich jetzt, um zehn Uhr morgens, gerade die Dämmerung lichtet. Vielleicht ist sein Blick auf Grönland gerichtet oder die Flugzeuge, die in diesem Moment mit einer neuen Ladung von Touristen durch den Wind in Richtung Flughafen Keflavík trudeln. Die beiden Raben, die auf Leifurs Schultern sitzen, krächzen mich jedoch laut an, es klingt fast höhnisch. Vielleicht sind sie es nicht gewohnt, einen verkaterten Touristen zu sehen, der keine bunte Outdoorjacke trägt oder einen Selfiestick schwingt. Mein Schädel dröhnt, und wäre nicht die Verabredung mit einem Freund gewesen, ich hätte mein Hotelbett nicht verlassen.

Die einzigen anderen Menschen, die ich auf dem Weg zum Frühstück mit dem isländischen Autor und Sagaforscher Arngrímur Vídalín treffe, sind andere Touristen. Ich höre chinesische, deutsche, französische Wortfetzen auf meinem Weg entlang des Laugavegur, der Prachstraße von Reykjavík. Normalerweise schieben sich hier Touristengruppen und shoppende Isländer aneinander vorbei, und Donnerstag- bis Samstagabend tuckern langsam die SUVs, Jeeps und tiefergelegten Autos der jungen Isländer auf dem Weg zur Rúntur entlang, den traditionellen Kneipentouren in der isländischen Hauptstadt, begleitet vom Geräusch der hochhackigen Schuhe der Gruppen von Isländerinnen, die auf den Bürgersteigen entlangflanieren. Aber die jungen Isländer sind gerade auf dem wackeligen Rückweg von den Hauspartys, zu denen man nach der Sperrstunde um fünf Uhr morgens aufbricht, liegen noch auf den Sofas oder Böden ihrer Gastgeber oder schon in ihren eigenen warmen Betten. Das einzige Geräusch, was ich im Moment hier neben den Gesprächen der Touristen vernehme, ist das Rascheln ihrer Goretex-Jacken und -Hosen. Wie immer sind die Deutschen auf alles vorbereitet, wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Schneesturms in der Altstadt von Reykjavík mit ihren beheizten Gehwegen sehr selten ist. Langsam öffnen die Geschäfte und Cafés und stellen Werbeschilder vor die Fenster, die Papageitaucher-Spielzeuge, Wikinger aus Plastik und Polarlichter- und Eishöhlen-Touren anpreisen. Vieles, was ich an Konsumangeboten auf dem kurzen Stück den Laugavegur entlang sehe, ist auch ein Indiz für das widersprüchliche Islandverständnis der Besucher. Auf der einen Seite lockt die Vorstellung der wilden Vulkaninsel im Nordatlantik, mit fauchenden Geysiren und Vulkanen, die den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegen, mit unwirtlichem und menschenfeindlichem Hochland; und auf der anderen Seite lassen sich viele Touristen jede eigenständige Entdeckung abnehmen und sich alle Informationen in Plastik verpackt schon im Vorfeld der Reise zuschicken. Es ist also kein Wunder, dass Besucher die Natur hier oft unterschätzen und mit zu kleinen Mietwagen in Gebirgsflüssen stecken bleiben, von Strömungen vom Strand gerissen werden und auf Eisschollen abtreiben. Ich komme am ehemals besten Café der Stadt vorbei, dem Tíu Dropar, seit 2016 ein Outdoorladen (natürlich), und muss einen großen Ausfallschritt auf die Straße machen, um der Gruppe asiatischer Touristen auszuweichen, die aus einem Hauseingang kommen und mehr auf die Smartphones am Ende ihrer Selfiesticks fokussiert sind als auf ihre direkte Umwelt. Die Dokumentation des eigenen Ich scheint wichtiger als die Tatsache, dass man sich in einer Stadt befindet, die von den Wikingern gegründet wurde. Ich drücke die Tür des Cafés im Haus daneben auf. Vielleicht wird mit isländischem Kaffee und Rührei meine Laune wieder besser.

Der Süden als Himmelsrichtung hat mich nie angesprochen. Ich habe immer die gegenüberliegende Seite des Kompasses bevorzugt, aber lange konnte ich nicht wirklich sagen, warum. Sicher nicht, weil ich familiäre Bindungen dazu habe – im Gegenteil. Ich komme aus der kleinen Stadt Solingen im Westen Deutschlands, die nächste Küste 200 Kilometer und die nächsten Berge über 300 Kilometer entfernt. Und doch, seit ich als kleines Kind Geschichten erzählt bekam und dann später selbst las, inspirierte mich keine Himmelsrichtung so sehr wie der Norden. Ich war Stubenhocker und Bücherwurm und verschlang (und tue es immer noch) mit Vorliebe Geschichten über Regen, der hart auf Moore prasselt, über Schiffe in Not und scharfe Klippen in kochendem Meer, über Männer mit Schwertern, die durch dunkle Wälder stapfen, und heulende Schneestürme, die Schnee auf große Holzhallen häufen, während drinnen Feuer lodern und Männer und Frauen lachen und reichlich dunkles, starkes Bier schlucken. Ich bewunderte und verschlang alle Bücher, die ich bekommen konnte und die auch nur im Entferntesten etwas mit dem Norden zu tun haben. So wuchs ich mit den irischen Elfenmärchen der Gebrüder Grimm auf, in der Gemeinschaft des Tolkien’schen Rings und auf Ursula K. Le Guins (1929–2018) Winterplanet (1974). Wo im Norden diese Geschichten stattfanden, ob auf unserem Planeten oder sonst wo, spielte keine Rolle – Hauptsache, es war kalt und stürmisch. Ich liebte irische Folklore genauso wie Geschichten über Thor und Loki oder die Geschichte von Alan Breck Stewart und David Balfour, die Robert Louis Stevenson (1850–1894) in Die Entführung erzählte – und eine ZDF-Weihnachtsserie namens Nonni und Manni (1988).

Die Sonne des Südens scheint mir fast ein falsches Versprechen zu sein, als streichelte dir jemand über den Kopf, wiegte dich mit Weißwein bei singenden Zikaden in Sicherheit und erzählte dir in der Abenddämmerung am Strand, dass alles gut enden wird. Aber das ist eine Lüge. Die globale Erwärmung macht den Winter im Norden noch extremer: Die Stürme, Überschwemmungen und der Schnee kommen immer früher, und eines Tages fahren wir alle in die Grube. Die Menschen im Norden wussten das schon immer und werden jedes Jahr aufs Neue daran erinnert, wenn die ersten Stürme des Winters Fährüberfahrten unmöglich machen und die Straßen gesperrt werden müssen. All das sind Gründe für meine Nordland-Faszination. Ich bin allerdings kein schroffer Naturliebhaber: Während ich im Herbst und Winter gerne wandere, liebe ich hinterher einen offenen Kamin und schäumendes Bier in der Kneipe umso mehr. Für mich ging es immer um die Reise in den Norden selbst und darum, an einem Ort zu sein, der meine Faszination immer wieder nährt, in der Realität und auf dem Papier. Vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass mich meine Faszination für die Bücher des Nordens, als ich älter wurde, relativ schnell nach Island führte. Und wie ich feststellte, war ich nicht der einzige Bewohner südlicher Gefilde, der vom harschen Vulkaneiland der Wikinger, seiner einzigartigen Literatur und seiner Geschichte inspiriert wurde.

Das erste Mal besuchte ich Island 2010. Damals war ich mehr am Island der Gegenwart interessiert, an der faszinierenden Musikszene, von der so bekannte Künstler wie Björk (*1965) oder Sigur Rós nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellen. Auf Island existiert wenig Schubladendenken zwischen den Kunstsparten, es gibt kaum Scheuklappen, und hier sind Autoren auch Musiker, Dichter bildende Künstler und Verleger oder andersherum. Die Insel ist ein veritabler Spielplatz der Künste, wenn auch mit denselben Problemen, die freiberufliche Künstler weltweit haben, wie z. B. geringe Honorare, überteuerte Mieten für Studios und Ateliers.

 

Die isländische Sprache: Eine Einführung

Das heutige Isländisch geht auf das Altisländische zurück, das ab dem 11. Jahrhundert auf der Insel gesprochen wurde und sich aus dem Altnorwegischen entwickelt hatte, der ursprünglichen Sprache der ersten Siedler aus Festlandskandinavien. Durch die geografische Isolation Islands hat sich die Sprache in den letzten tausend Jahren allerdings kaum verändert, was es Isländern heute ermöglicht, mittelalterliche Texte wie die der Sagas im Original zu lesen. So sind die Sagas auch für heutige isländische Leser unmittelbar zugänglich, und die Gegenwartsliteratur bezieht sich immer wieder auf die Themen, Figuren und Orte, die zum ersten Mal in den Sagas auftauchen. Das isländische Alphabet ist dem deutschen sehr ähnlich und besteht aus 32 Buchstaben, von denen nur wenige entweder nicht im Deutschen vorkommen oder nur im Isländischen verwendet werden. Die drei wichtigsten Sonderzeichen sind þ, æ und ð. Þ/þ wird wie ein hartes englisches »th« (z. B. in thunder) ausgesprochen, Æ/æ wie »ai«, und Ð/ð wie ein weiches englisches »th« (z. B. in that). Namen und Begriffe wirken zunächst recht seltsam, erschließen sich aber leicht, da viele Begriffe den deutschen ähnlich sind, zum Beispiel dalur ›Tal‹, fjörður ›Fjord‹, Þorp ›Dorf / kleine Ortschaft‹.

Kleine Namenskunde

In Island kennt man keine Familiennamen in unserem Sinne, sondern es werden sogenannte Patronyme (bzw. Matronyme) verwendet: In der Regel wird an die Genitivform des Vornamens des Vaters (seltener auch an die Genitivform des Vornamens der Mutter) ein son (›Sohn‹) oder dottir (›Tochter‹) angehängt. Verwurzelt in der nordgermanischen und skandinavischen Sprachgeschichte, enthält der Nachname in der isländischen Sprache eine kurze Beschreibung der Herkunft, und das gilt bis heute. Die meisten Neugeborenen erhalten in Island den Namen des Vaters oder der Mutter als Nachnamen. Die wenigen Familiennamen, die es heute in Island gibt, stammen von Vorfahren ausländischer Herkunft. Seit 2019 gibt es übrigens ein Gesetz, das festlegt, dass Namen keinem Geschlecht mehr zugeordnet werden können – Männer führen also auch ein -dottir im »Nachnamen«. Ich folge dem isländischen Sprachgebrauch und beziehe mich, auch bei Autoren aus anderen Ländern, im Anschluss an die erste Nennung meist nur auf den Vornamen.

Ich bin prinzipiell sehr skeptisch gegenüber Reisebüchern, die einen real existierenden Ort auf dieser Welt als tatsächlichen Sehnsuchtsort vorstellen, als Ort, an dem »alles möglich« ist oder der »immer so ist, wie man sich fühlt«. Jedes Buch, das einem Leser erzählt, es gebe hier etwas Besseres, und man müsste nur hinfahren, um es zu finden, lügt buchstäblich wie gedruckt. Man wird ein anderes, faszinierendes Land vorfinden, aber sicher nicht die Lösung der Probleme, die man zu Hause gelassen hat. Und man tut besser daran, die Bücher von hier aufzuschlagen als Hochglanzbroschüren aus dem Reisebüro.

Aber wenn ich auch statt einer bunten eine schwarze Outdoorjacke tragen mag, bin ich doch nur Besucher in Island, einer der vielen Touristen; und genauso wie viele andere wegen einer Sache hier: dem Perspektivwechsel. Am Tag zuvor bin ich mit dem Bus in das Viertel Seltjarnarnes gefahren und den Küstenweg entlang zur Spitze der dortigen Halbinsel und zum Leuchtturm auf der Insel Grótta gelaufen. Die isländische Künstlerin Ólöf Nordal hat hier eine Basaltskulptur namens Kvika geschaffen, ein Heißwasser-Fußbad, das ich benutzen wollte, um mit meinen Füßen im wärmenden Thermalwasser in der eisigen Kälte zu sitzen und auf die Bucht und den schneebedeckten Berg Esja dahinter zu schauen. Ich ging an den Felsen an der Küste entlang, während Raben auf den Straßenlaternen am Wegesrand saßen. Die Sonne ging schnell unter, aber das Licht über Reykjavík und den Bergen hatte die Klarheit, die nur die Wintersonne hier oben im Norden hat. Als ich am Fußbad ankam, war es von einem großen Nordmann mit langen blonden Haaren besetzt, der sich vollständig in das kleine Bad gequetscht hatte, sein nackter Oberkörper und die Beine ragten in die Kälte und nur sein Bauch und sein Hintern waren mit dem heißen Wasser bedeckt. Die verpasste Gelegenheit für mein Fußbad machte mir nichts aus, und ich beobachtete stattdessen die Raben, die über dem Wasser spielten, an diesem außergewöhnlichen Ort nahe dem Polarkreis, und freute mich schon auf den Einkauf in meinem Lieblingsbuchladen Mál og Menning auf dem Rückweg, um mir neue Bücher für die Zeit zu besorgen, in der ich nicht auf der Insel sein konnte.

Dieses Buch basiert auf Literatur aus oder über Island, und das jeweilige Thema jedes Kapitels wird ergänzt mit Zitaten und Hinweisen auf weiterführende Bücher zu dem Thema. Dies ist kein typisches Landesporträt, sondern ich befasse mich mit der Literatur und der Buchverrücktheit der Isländer in der Vergangenheit und Gegenwart; bereits zuhauf behandelte Islandreisethemen wie heiße Quellen oder ausgefallene Speisen lasse ich bewusst aus. Die Auswahl der hier erwähnten und zitierten Werke, insbesondere der von zeitgenössischen Schriftstellern, ist höchst subjektiv. Auch nenne ich viele isländische Schriftstellerinnen, die von hoher Wichtigkeit für die Literatur des Landes waren und sind, aber deren Werke leider (noch) nicht in deutscher Übersetzung vorliegen. Wo möglich, sind Auszüge ihrer Werke direkt aus dem Isländischen oder aus dem Englischen übersetzt. Ich verwende für einen besseren Lesefluss das generische Maskulinum, das stellt aber dezidiert keine Vernachlässigung weiblicher Stimmen dar. Dieses Buch ist eine Sammlung von Geschichten von und über die Menschen, die in oder wegen Island die Feder aufs Papier gesetzt oder das Textdokument auf dem Rechner geöffnet haben. Dementsprechend finden sich hier Märchen, Sagas, Folklore, Gedichte, engagierte Literatur, True Crime, Kurzgeschichten und Romane, ohne dass eines dieser Genres bevorzugt würde. Es gibt jedoch tatsächlich einen hohen Anteil an Gedichten in diesem Buch, was einfach der Tatsache geschuldet ist, dass Lyrik in der Vergangenheit und Gegenwart der isländischen Literatur eine weitaus wichtigere Rolle spielt als in der deutschsprachigen. Das liegt zum einen daran, dass fast alle Isländer, auch solche, die sich nicht als Dichter sehen, bis heute täglich kleine Alltagsgedichte und Reime verfassen, und zum anderen daran, dass die Schlüsselszenen aus isländischen Literaturklassikern wie den Sagas in Versform vorliegen und den Isländern von klein auf vermittelt werden.

Ich versuche mit diesem Buch einen schmackhaften Eindruck von der außergewöhnlichen und vielseitigen Literatur dieser einzigartigen qualmenden Insel im Nordatlantik zu vermitteln, der hoffentlich dazu führt, dass noch mehr Menschen es sich mit einem Islandbuch im Sessel bequem machen. Neueinsteiger in die Literatur der Insel finden hier viele Anregungen aus den letzten tausend Jahren, und ich hoffe, dass auch Islandfreunde und -kenner sich von den vielen Querverweisen zwischen Autoren und Materialien unterhalten lassen und vielleicht noch etwas Neues entdecken. Dies also ist ein Buch über Bücher, um einen Ort zu ehren, in dem das geschriebene Wort geschätzt wird wie nirgendwo sonst.

Mein besonderer Dank gilt den scharfen Augen von Eymelt Sehmer und Ólafur Örn Arnarson, ohne die dieses Buch wieder einmal ein grausames Durcheinander deutscher, englischer und isländischer Schreibweisen von Orten und Menschen geblieben wäre; Kai Müller, ohne den ich diese Insel niemals entdeckt hätte und dessen Blick durch die Linse seiner Kamera mir oft dann weiter den Weg weist, wenn mir die Worte fehlen. Und ohne die Unterstützung und textliche Hilfe meiner Frau Anne Mager wäre auch dieses Buch, wie so viele andere, nie fertiggestellt worden.

Dundalk, April 2021

1. Buchverrückt – Islands Liebe zum gedruckten Wort

Blindur er Bóklaus Maður.

Blind wie ein buchloser Mann.

Isländisches Sprichwort

Wenn man sich nur ein wenig mit Island beschäftigt, kommt man nicht umhin festzustellen, welch großen Stellenwert Bücher und Literatur für die Isländer, ihre Identität und Geschichte einnehmen. Vielleicht sind diese auf Island wichtiger als in jedem anderen Land der Welt, was sich auch in den vielen verrückten Bräuchen und Alleinstellungsmerkmalen des isländischen Buchmarkts zeigt.

Island ist das am dünnsten besiedelte Land Europas und eines der kleinsten Sprachgebiete der Welt mit nur knapp 360 000 Einwohnern und rund 50 000 Sprechern außerhalb des Landes. Und doch werden in Island mehr Bücher pro Kopf produziert als in den meisten anderen Ländern der Welt. Nach Angaben des Internationalen Verlegerverbandes IPA liegt Island bei den Bucherscheinungen pro Kopf an weltweit zweiter Stelle hinter Großbritannien, und jedes Jahr erscheinen rund 1600 neue Bücher. Die durchschnittliche Auflage von Belletristiktiteln beträgt 800 Exemplare – was auf dem kleinen isländischen Markt ungefähr dem Zehnfachen in den USA entspräche. Vielleicht auch gerade, weil Amazon hierhin nur mit Extrakosten liefert, gibt es auf Island noch 83 Buchhandlungen, eine pro 4300 Einwohner (in Deutschland eine pro 14 000 Einwohner), und mehr als 90 Prozent der Isländer lesen laut einer Studie von 2013 mindestens ein Buch im Jahr, mehr als die Hälfte sogar mehr als acht. Dank Halldór Laxness (1902–1998), der 1955 als bisher einziger isländischer Schriftsteller mit dem Literaturnobelpreis gekrönt wurde, sind die Isländer das Volk mit der höchsten Nobelpreisträgerdichte pro Einwohner. Und sehr stolz auf Halldór, dessen Haus Gljúfrasteinn heute als Museum dient.

Es geht aber nicht nur um das Lesen an sich: Literatur ist in Island einer der wichtigsten Teile des öffentlichen Lebens. Bücher sind überall zu finden: auf Tischen in Cafés und Bars, in den Tankstellen im ganzen Land und den Tante-Emma-Läden in den kleinsten Dörfern, sie sind Gesprächsthema beim Friseur und in der Kneipe. Und späht man von der Straße in isländische Wohnzimmer, erblickt man: Bücherregal um Bücherregal. Isländische Autoren sind wichtige Personen nicht nur auf den Seiten des Feuilletons, sondern häufig auch bedeutendere Sprecher und Aktivisten als die Politiker der Insel selbst: Während der sogenannten Búsáhaldabyltingin (›Kochtopfrevolution‹) und dem Protest gegen die isländische Regierung und den Finanzcrash 2008 waren vor allem Autoren und Künstler die Sprachrohre der Protestbewegung. Auf der ganzen Insel finden sich Denkmäler und Gedenktafeln nicht nur für wichtige Autoren, sondern für Bücher und Gedichte selbst, häufig an den Orten, an denen diese spielen. Und wenn man sich dem Museum in der Kleinstadt Höfn im Süden der Insel nähert, das dem Schriftsteller Þórbergur Þórðarson (1888–1974) gewidmet ist, was sieht man dann schon von weitem? Eine lange Reihe von drei Meter großen Buchrücken, die die Fassade des Museums bilden.

Wenn im November der Wind in der Bucht von Reykjavík jault, die Wellen aufpeitscht und gleichzeitig der Schneeregen gegen die Fenster klatscht, kommt auch eine andere Wetterfront auf Island zu, eine aus gedruckten Büchern. Der größte Teil der hier verlegten Bücher erscheint erst im Spätherbst, und kurz vorher wird der Bókatíðindi veröffentlicht: ein dicker Katalog, der an alle Haushalte verteilt wird und sämtliche Neuerscheinungen aller Genres auflistet. Kurz darauf folgt dann die jólabókaflóð, die Weihnachtsbücherflut – vor allem der Tradition geschuldet, zu Weihnachten Bücher zu verschenken. Laut isländischem Verlegerverband verschenken 70 Prozent der Menschen hier mindestens ein Buch zu Weihnachten. Dieser Brauch geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück, als Importbeschränkungen Bücher zum beliebtesten Weihnachtsgeschenk machten. Papier wurde im Gegensatz zu anderen Rohstoffen nicht rationiert, aber der Markt war klein, und die Verleger glaubten nicht, dass sie das ganze Jahr über Bücher verkaufen konnten, dementsprechend wurden neue Bücher gezielt in den Wochen vor Weihnachten veröffentlicht. Diese Strategie wird bis heute beibehalten, und die Buchhandlungen werden zu dieser Zeit regelrecht überflutet. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in Reykjavík und anderswo im Land die Zeit von Anfang Oktober bis Weihnachten in erheblichem Maße den Büchern gewidmet ist: Verlage bringen neue Bücher in großer Zahl heraus, Buchhandlungen, Bibliotheken, Cafés und Schulen fördern sie auf verschiedene Weise, und die Öffentlichkeit strömt zu Veranstaltungen und Lesungen mit Schriftstellern, die sogar als Verkäufer in Buchhandlungen auftreten. Am Tag vor Weihnachten, dem Hauptkampftag der jólabókaflóð, haben die meisten Buchhandlungen bis 23 Uhr geöffnet, die Buchhändler stehen verkleidet hinter der Theke, und ein großer Teil der Isländer kauft an diesem Tag die neuen Bücher. Einige Leute kaufen sich sogar selbst ein neues Buch zu Weihnachten, falls sie das Buch, das sie sich gewünscht haben, nicht bekommen sollten. Einer der Höhepunkte des isländischen Weihnachtsfests ist es bei vielen, gleich nach dem gemeinsamen Abendessen im Familienkreis mit dem Lesen eines neuen Buchs zu beginnen.

 

Die Menschen in Island waren schon immer begeistert vom Geschichtenerzählen. Die Entdecker Islands und die ersten Siedler aus Norwegen im 9. und 10. Jahrhundert brachten ihre Geschichten von Odin, Freya und Loki mit auf die Insel und gaben die Erfahrungen der sogenannten Landnahme, der Besiedlung Islands, in den nächsten Jahrhunderten mündlich weiter – sie waren von Anfang an exzellente Geschichtenerzähler und Sprachkünstler. Den Isländern und ihrer Liebe zum Fabulieren und Geschichtenerzählen verdankt die Welt die einzigen schriftlichen Quellen über die nordische Götterwelt: Im 13. Jahrhundert entstanden sowohl die Lieder-Edda, eine Sammlung von Götter- und Heldenliedern, die mit den Siedlern auf die Insel gekommen waren, und die Prosa-Edda des wichtigsten isländischen Autors Snorri Sturluson (1179–1241), die nicht nur die mittlerweile weltweit bekannten Geschichten der Abenteuer von Odin, Thor und Loki enthält, sondern auch eine Einführung in die Kunst der Skaldendichtung (s. Kap. 3). Zur selben Zeit wie die Eddas entstand aus der mündlichen Überlieferung der Landnahme und der Skaldendichtung, in der heidnische mit christlichen Elementen vermischt wurden, auch das Grundgerüst der isländischen Literatur bis heute: die mittelalterlichen Sagas (s. Kap. 4). Vom irischen Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney (1939–2013) als »Poesie des Nordatlantik« bezeichnet, sind die Sagas (nicht Sagen) eine faszinierende Sammlung von Helden-, Abenteuer- und Familiengeschichten, die zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert aufgeschrieben wurden und neben den Mythen der nordischen Götterwelt auch die Gründungsgeschichte des Staates Island erzählen. Hier finden sich die Namen der ersten Siedler und ihre Familiendramen und Konflikte, Geschichten von Wikingerfahrten und Gedichte, die von Königen und Herrschern mit goldenen Armreifen prämiert wurden, werden wiedergegeben, und die Landschaft Islands erhält ihre Ortsnamen. Es gibt wenige andere Länder, in denen ein Korpus mittelalterlicher Literatur auf nationaler Ebene den Menschen so am Herzen liegt wie die Sagas den Isländern. Sie gelten zu Recht als kulturstiftendes Erbe; es gibt keine derart kleine Nation, die einen solchen Schatz mittelalterlicher Texte besitzt, der sich seinen Lesern heute so leicht erschließt. Aber auch nach dem Ende der Saga-Hochzeit im 14. Jahrhundert und den darauffolgenden Jahrhunderten, in denen die Insel unter dänischer Kolonialherrschaft ein vernachlässigter und trostloser Ort am Rand der Welt und eines der ärmsten Länder Europas war, blieb das geschriebene Wort der wichtigste Aspekt der isländischen Kultur. Städte im mitteleuropäischen Sinne gab es kaum, und das kulturelle Angebot war gering. Mit einer bedeutenden Ausnahme: der Literatur. In vielen Gehöften im ganzen Land wurde Ende des 18. und Anfang der 19. Jahrhunderts der alte Brauch des húslestur (›Hauslesen‹) praktiziert, bei dem sich alle Haushaltsmitglieder am Abend nach dem Essen in der Baðstofa (›Wohnzimmer, Schlafraum und Werkstatt in einem‹) versammelten. Die Hausarbeiten wurden erledigt, während der Mann des Hauses laut aus der Bibel, den isländischen Sagas oder dem Bauernkalender vorlas, um seine Familie und die Knechte und Mägde zu unterhalten. Während der langen kalten und dunklen Wintermonate gab es oft wenig anderes zu tun, und die Menschen suchten nach etwas, um die Dunkelheit vergessen zu machen. Und was könnte dazu besser geeignet sein, als die alten Geschichten der Helden nachzuerzählen oder neue zu erfinden?

Das Land weist eine außergewöhnlich hohe Alphabetisierungsrate auf (rund 99 Prozent). Ungefähr jeder zehnte Isländer veröffentlicht ein Buch, das ist der weltweit höchste Anteil an Schriftstellern in der Gesamtbevölkerung. Das führt zu mitunter kuriosen Konstellationen, wie die Schriftstellerin Kristín Eiríksdóttir (*1981) in einem BBC-Interview von 2013 verdeutlicht: »Stehen wir miteinander in Konkurrenz? Ja, zumal ich mit meiner Mutter und meinem Partner zusammenlebe, die ebenfalls beide Vollzeit-Autoren sind. Aber wir versuchen, in abwechselnden Jahren zu veröffentlichen, damit wir nicht zu sehr miteinander konkurrieren.« Das zeigt, dass die Isländer einen wesentlich direkteren und demokratischeren Zugang zum Prozess des Schreibens, dem Medium Buch und dem Verlagswesen haben, als dies in vielen anderen Gesellschaften der Fall ist. Autoren hier kommen nicht von Homer und Cervantes und wohnen im Elfenbeinturm, sondern häufig nur drei Häuser weiter. Die Gegenwartsautoren kennen sich fast alle untereinander, weil die meisten in Reykjavík wohnen und man sich ständig über den Weg läuft. Der isländische Literaturbetrieb ist von gemeinsamen Lesungen, Kollektiven und genereller Zusammenarbeit geprägt – der Austausch unter den Schriftstellern läuft wesentlich einfacher als in anderen Ländern. Schriftsteller arbeiten viel mit Musikern und Filmemachern zusammen, einfach weil man sich untereinander persönlich bereits kennt sowie die Arbeit und Spezialgebiete des anderen schätzt. Die isländischen Künstler sind »Macher« im weitesten Sinne und oft impulsiv in ihrer Zusammenarbeit: Viele Kollektive, Dichtergruppen oder Projekträume finden ihren Ursprung nicht in Förderanträgen oder den Planungen des Kulturamts, sondern auf Partys, in der Eckkneipe oder in koffeinhaltigen Diskussionen im örtlichen Buchladen. Und grundsätzlich ist die Chance hoch, dass begeisterte Krimileser ihre Lieblingsautorin morgens beim Bäcker oder abends in der Kneipe treffen.

Die meisten zeitgenössischen Autoren leben heute wie erwähnt in Reykjavík, und nicht nur deswegen ist die isländische Hauptstadt ein Literaturparadies. Reykjavík ist das Zentrum des größten urbanen Raums auf Island mit 200 000 Einwohnern und von herausragender Bedeutung für das gesamte kulturelle Leben des Landes. Die nördlichste Hauptstadt der Welt beherbergt alle wichtigen Kulturinstitutionen, verfügt über eine blühende Kunstszene und ist als kreative Stadt mit vielen Festivals und Events global bekannt. Vor allem seit dem Finanzcrash von 2008 haben sich Island und seine Hauptstadt als eines der wichtigsten Touristenziele weltweit neu erfunden, dementsprechend gibt es hier ein breites Angebot für Buchfans.

Buchhandlungen haben in Island einen großen Stellenwert im öffentlichen Leben. Während die meisten Geschäfte um 19 Uhr schließen, haben die Buchhandlungen hier eine Ausnahmegenehmigung und sind unter der Woche stets bis 22 Uhr geöffnet. Buchhandlungen auf Island waren, wie die Tante-Emma-Läden in Deutschland, immer schon Orte der Begegnung und des gesellschaftlichen Lebens, an denen man in Ruhe einen Schwatz halten und die Nachbarn treffen konnte. Und schon lange bevor Hybridläden in New York und Berlin en vogue waren, konnte man in isländischen Buchhandlungen einen Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen. Stellvertretend für diese gemütliche Atmosphäre ist die in einem alten Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebrachte Buchhandlung IÐA Zimsen in Downtown Reykjavík. Gerade im Winter ein perfekter Ort, um eine Stunde mit einem Kaffee und einem Buch zwischen Lichterketten und Kerzen zu sitzen, wenn draußen der Schnee gegen die Scheiben klatscht. Oder auch mit einem geistreichen Getränk – Zimsen verkauft sogar Bier und Wein. In fast allen Buchhandlungen Islands aber gibt es kleine Cafés mit Wohnzimmeratmosphäre, und der Duft von frischem Kaffee und Kuchen passt perfekt zu den Büchern und lädt zum Verweilen und Lesen ein. Auf der Haupteinkaufsstraße Laugavegur befand sich bis Ende 2020 Mál og Menning, die bekannteste Buchhandlung von Reykjavík, die nach 80 Jahren im Geschäft leider der Coronapandemie zum Opfer fiel. 1937 wurde in diesem Haus auch der gleichnamige unabhängige Verlag gegründet, der die Erstausgaben vieler berühmter isländischer Schriftsteller veröffentlichte, zum Beispiel Þórbergur Þórðarson, Svava Jakobsdóttir (1930–2004), Þórarinn Eldjárn (*1949) und Einar Kárason (*1955). Nach dem Finanzcrash 2008 wurde der Verlag zu einer Tochtergesellschaft von Forlagið, dem heute größten Verlag Islands. Noch älter (und größer) als Mál og Menning ist die Filiale der einzigen isländischen Buchhandelskette Eymundsson an der Skólavörðustígur, der Straße, die in Richtung Hallgrímskirkja führt, Islands größter Kirche. Die Buchhandlung wurde 1872 von Sigfús Eymundsson (1837–1911), einem Fotografen und Buchbinder, gegründet. Sigfús war der erste isländische Geschäftsmann, der Schreibmaschinen und Safes importierte, und auch der erste Fotograf, der Postkarten mit seinen eigenen Fotos veröffentlichte und in seinem Geschäft verkaufte. Heute gibt es 15 Filialen mit fast 200 Angestellten in ganz Island, selbst in abgelegenen Orten wie der Hauptstadt der Westfjorde Ísafjörður mit ihren 3000 Einwohnern oder dem kleinen Ort Húsavík an der Nordküste. Die Läden bleiben selbst im Winter bei minus zehn Grad Celsius und zwei Meter Schnee vor der Eingangstür geöffnet und versorgen die Bewohner weiter mit Büchern. Die Lieferungen neuer Bücher erfolgen im Winter übrigens häufig mit dem Flugzeug oder sogar dem Schiff von Reykjavík aus – auf den neuesten Krimi muss man als Leser also manchmal durchaus länger warten. In Reykjavík gibt es insgesamt acht Filialen von Eymundsson, und die in einem Neubau an der Skólavörðustígur hat natürlich auch ein kleines Café. Isländische Buchhändler sehen sich übrigens nicht in erster Linie als Gastronomen, die neben Speisen und Getränken auch Bücher verkaufen, vielmehr gibt es in Island schon länger ein erweitertes Verständnis von Buchhandlungen als wichtigem Treffpunkt ohne Konsumzwang – kein Wunder in einem Land, in dem selbst die abgelegenste Tankstelle schon seit den Anfangstagen des Kalten Kriegs kostenlosen Kaffee anbietet. Es gibt aber auch Buchläden ohne Kaffee wie das Antiquariat Bókavarðan, kurz Bókin genannt, wo sich Tausende alte Bücher und vergilbte Zeitungen bis fast an die Decke stapeln und das der Lieblingsort des amerikanischen Schachweltmeisters Bobby Fischer (1943–2008) war, der auf Island im Exil lebte.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»