Hüben und Drüben

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Hüben und Drüben
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Gesammelte Schriften

von

Friedrich Gerstäcker.

Zweite Serie.

Vierzehnter Band.

Volks- und Familien-Ausgabe.

Hüben und drüben.

Jena,

Hermann Costenoble.

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Unterstützt durch die Richard-Borek-Stiftung und

die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, beide Braunschweig

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. © 2020

Die Gemeinde-Waise.

1.

Der Mutter Tod.

Im Herbst des Jahres 1848 war es, daß nach Osterhagen, einem ziemlich großen Dorf im -sischen, eine Frau mit zwei Kindern übersiedelte, deren Erscheinung im Anfang den guten Leuten, und besonders dem weiblichen Theil der Bevölkerung, außerordentlich reichhaltigen Stoff zur Unterhaltung bot und eine Menge von Combinationen und Vermuthungen hervorrief.

Paß oder Legitimation brauchte damals natürlich Niemand. Jeder ging und kam, wie es ihm gerade gefiel, aber die Frau betrug sich so still und anständig und verfolgte so harmlos ihre Bahn, daß man sie auch wohl hätte zu anderen Zeiten gewähren lassen - und dennoch war manches Räthselhafte in ihrem Betragen.

Sie mochte etwa dreißig Jahre zählen, und ihr kleines Mädchen mochte etwa sieben, der Knabe zwei Jahre alt sein; ihre Kleidung war so einfach als möglich, und das kleine ärmliche Häuschen, das sie sich am äußersten Ende des Ortes miethete, bezeugte ebenfalls, daß ihr keine großen Mittel zu Gebote ständen. Trotzdem verrieth ihr ganzes Wesen, daß sie einst bessere, viel bessere Zeiten gesehen. Auch bildschön mußte sie früher einmal gewesen sein, ja sie war es eigentlich noch, hätte nicht der Gram oder vielleicht eine Krankheit so tiefe Furchen in ihr Antlitz gezogen. Und was für reizende Kinder hatte sie! Aber jedenfalls kam sie aus einem fremden Land, /2/ denn wenn sie selber auch vollkommen gut Deutsch sprach, und ohne Zweifel aus Deutschland stammte, plapperte das kleine Mädchen doch ganz allerliebst Französisch, und setzte dadurch nicht selten ganze Gruppen aufblühender Straßenjungen in unbegrenztes Erstaunen.

Ihr Name war, der eigenen Angabe nach, Frau Edmund, das kleine Mädchen hieß Valerie, der Knabe George. Wenn sie auch etwas Geld mitgebracht haben mußte, wovon sie im Anfang zehrten, so bemühte sie sich doch bald, Arbeit im Orte selber zu erlangen, um ihr Fortkommen in den schweren Zeiten zu erleichtern.

Sie nähte und stickte wunderbar schön, und wenn auch Osterhagen eigentlich nicht der Platz für solche Arbeit war, so wußte sie den Kreis ihrer Kundschaft doch auch bald auf die nicht ferne größere Stadt auszudehnen, wohin sie anfangs selbst Proben ihrer Arbeit brachte, um später durch die Botenfrau mit dem Ort zu verkehren.

Sie selbst zog sich dabei von jedem Umgang mit den Einwohnern Osterhagens zurück, wenn ihr auch Niemand deshalb Stolz vorwerfen konnte; sie war in ihrem ganzen Wesen freundlich, ja weit eher scheu und fast demüthig mit den Leuten, schien sich aber nie wohler zu fühlen als zu Haus, wo sie nur ihren Kindern lebte, und nur Abends, bei schönem Wetter besuchte sie den Kirchhof zu Osterhagen, und zwar dort ein besonderes Grab, von dem aber merkwürdiger Weise Niemand im Orte wußte, wer darunter lag. Es trug auch weder Namen noch Jahreszahl, und einige von den älteren Bewohnern des Dorfes wollten behaupten, es stamme noch aus den Kriegszeiten her.

Allerdings wurde die Fremde oft danach gefragt, aber sie gab immer nur ausweichende Antworten, und da Niemand ein besonderes Interesse an ihr nahm, ließ man sie eben gewähren.

Dabei versäumte sie aber nicht, sich dem Unterricht ihrer Kinder, besonders des Mädchens, auf das Fleißigste zu widmen, und nach kaum einem Jahre sprach auch die kleine Valerie schon vollkommen gut Deutsch und konnte jetzt in die Schule gesandt werden - aber sie blieb nicht lange dort. Die Kin-/3/der verspotteten und neckten sie fortwährend ihrer etwas fremdartigen Aussprache, ihres ganzen, ihnen viel zu zierlichen Benehmens wegen; sie kam fast jeden Mittag weinend nach Haus, und die Mutter beschloß deshalb, den Selbstunterricht im Hause fortzusetzen.

Im zweiten Jahre traf die arme Frau ein harter Schlag: der Knabe, ihr kleiner Liebling, erkrankte an der Halsbräune1 und starb nach wenigen Tagen in ihren Armen. Sie war ganz außer sich und lag viele Wochen an einem heftigen Fieber auf ihrem Lager.

Die kaum neunjährige Valerie besorgte in der Zeit im Haus die ganze Wirthschaft und pflegte dabei die Mutter Tag und Nacht. Diese erholte sich auch allerdings wieder, aber der Schlag hatte sie zu furchtbar getroffen, und sie kränkelte von da an sichtlich an einem bösen trockenen Husten, der sie häufig am Arbeiten hinderte.

Mit dem Gelde wurde es dabei immer knapper; anfangs war sie ein paar Mal in der Stadt gewesen und hatte, wie es sich in Osterhagen wenigstens aussprach, dort goldenen Schmuck verkauft - davon lebte sie eine Zeit lang; endlich schien auch das erschöpft, und einzelne ihrer wenigen Habseligkeiten mußten veräußert werden. Einmal erholte sie sich wieder, und ein volles Jahr lang schien es, als ob sie ihre Kräfte vollständig zurückerlangt hätte, aber es kam ein Rückfall, und jetzt ging es mit der armen Frau scharf bergab.

Es war drei Jahre nach dem Tode des kleinen George, daß Valerie in einer Nacht ängstlich an die Thür ihrer Nachbarin, einer armen Wittwe, pochte, und diese um Gottes willen bat, zu ihrer Mutter zu kommen, damit sie selber nach dem Arzt laufen könne.

Die alte Frau ging hinüber und fand eine Sterbende. Der Arzt, ein gewöhnlicher Dorfchirurg, kam, aber menschliche Hülfe konnte hier nichts mehr nützen - er wollte ihr den Geistlichen senden, aber sie hob abwehrend die Hand. Es war nur ein protestantischer Pfarrer im Orte, und sie selber gehörte der katholischen Kirche an. Nur ihr armes Kind

winkte sie noch zu sich heran, legte mit ihren letzten Kräften die Arme um dessen Nacken, küßte es, flüsterte ihm ein leises /4/ „Gott schütze dich, meine arme Valerie“ zu und sank dann tot auf ihr Kissen zurück.

Valerie saß neben ihrem Bett, die Hände im Schoß gefaltet, die großen, tränengefüllten Augen auf die lieben, bleichen Züge geheftet. Die alte Nachbarin hatte der Toten die Augen zugedrückt und war dann fortgegangen, um die Anzeige beim Schulzen zu mchen; der Wundarzt wurde ebenfalls abgefuren, so saß sie stundenlang.

Endlich quälte sie der Hunger; sie hatte gestern den ganzen Tag keinen Bissen über die Lippen gebracht, auch heute morgen noch nicht daran gedacht, irgend welche Nahrung zu sich zu nehmen, auch nichts dafür im Hause. Jetzt verlangte die Natur ihr Recht, und sie stand langsam auf, um sich beim nächsten Bäcker Brot zuholen.

Draußen zogen die Leute zu Markt, das lebte auf der Straße, Fuhrleute knallten wie gewöhnlich mit ihren Peitschen, Kinder lachten und jubelten, ein paar Frauen zankten sich, weil die einer der anderen den Korb umgestoßen hatte, und da drinnen in dem kleinen Haus lag ihre Mutter auf dem Totenbett! Kümmerte sich denn gar niemand darum? Hatte kein Mensch einen Trauerblick für sie? Und ging die Welt, während alles Elend der Erde nur allein über das arme Kind hereingeborchen war, indessen ihren ruhigen, fröhlichen Gang?

Wie in einem schweren Traum schritt sie die Straße hinab, dem Hause des Bäckers zu, legte ihre Kupfermüunze auf den Tisch und bat um ein Brot.

„Sollst du haben“, sagte der Bäcker, der mit aufgestreiften Ärmeln und ganz mit Mehl bestaubt hinter dem Fenster stand, „aber von voriger Woche seid Ihr noch sechs Groschen schuldig, sag‘ deiner Mutter, daß sie’s bald herüberschickt.“

„Meine Mutter ist tot“, hauchte das arme Kind.

„O Du lieber Gott,“ sagte die Frau, die danebenstand, und schlug die Hände zusammen, „sorg dich nicht um die paar Groschen, Schatz, die werden uns auch nicht arm machen.“

„Sie sollen das Geld haben,“ flüsterte das arme Mädchen, drehte sich ab und schritt langsam wieder dem Hause zu.

„He, Franzosenmädchen, Franzosenmädchen!“, riefen ein paar Jungen spottend hinter ihr drein. Sie hörte es wohl gar nicht, nur an dem Wagen einer Hökerin, die Blumen mit zu Markte nehmen wollte, blieb sie noch einmal stehen und kaufte für das wenige Geld, das sie noch bei sich trug, Blumen für die tote Mutter. Dann ging sie still nach Hause. Da aber, wie sie wieder das Zimmer betrat, als ihr in den bleichen, eingesunkenen Zügen der Geliebten der ganze über sie hereingebrochene Jammer in furchtbarer Wahrheit vor die Seele trat, da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Auf das Bett der Mutter flog sie zu, warf sich über die Leiche, die sie krampfhaft mit ihren Armen umschlang, und schluchzte laut.

Dann traten, nach einer Weile, Fremde in das Zimmer, Frauen, die sich hinsetzten und über die Verstorbene in ihrem Beisein sprachen. Ein Mann kam, der gleich die Länge des Körpers maß; auch die „Leichenfrau“ traf ein, und alles wurde so laut und geschäftsmäßig betrieben, daß es das arme Kind, das in den letzten Tagen kaum gewagt hatte, hier zu flüstern, wie mit Messern durch das gequälte Herz stach.

Aber auch das ging vorüber; die fremden Menschen ließen sie wieder mit ihrer toten Mutter allein, und sie behielt jetzt wenigstens Zeit, die mit den Blumen u schmücken und ihr Lager herzurichten. Erst dann kauerte sie sich neben der Geliebten nieder, den Kopf an ihren kalten Arm gelehnt und verzehrte, mit dem Salz ihrer eigenen Tränen, das trockene Stück Brot.

 

Zwei Tage hielt sie bei der Teuren getreue Wacht, am dritten kamen die schwarzen Männer und legten sie in den Sarg.

Draußen war schlechtes Wetter, ein kalter Nordostwind fegte über das flache Land, und der Regen schlug in Strömen herunter, wer hätte da mit „zur Leiche“ gehen sollen. Schmucklos auf dem schwarzen Wagen stand der einfache Sarg, den zwei Pferde zu seiner letzten Ruhestätte führten, und hin/6/ter ihm, einen Blumenstrauß in den Händen, durch Sturm und Unwetter, in dem dünnen Kleid, folgte einsam und allein, wie es von jetzt ab durch das Leben gehen sollte, das arme Kind.

Trotz des schlechten Wetters hatte sich der protestantische Geistliche eingefunden und sprach ein paar freundliche Worte über das Grab der Armen; auch dem Kinde redete er zu und sagte ihm, daß es auf Gott bauen solle, so würde es noch gute Menschen finden, die sich seiner annähmen.

Und dazu der peitschende Regen auf dem erweichten Lehm des Kirchhofs! Die Todtengräber hatten mit Ungeduld das Ende der Rede erwartet, und nur Valerie stand daneben und zitterte vor dem Augenblick, wo der Sarg in die Gruft gesenkt werden mußte.

Der Geistliche gab dazu das Zeichen - hastig gehorchten die Leute, die unter das schützende Dach zurückzukehren wünschten - an den nassen Seilen rutschte er nieder, und Valerie warf ihm ihre Blumen als letzte Liebesgabe nach. Dann schaufelten die Männer das Grab wieder zu; der Geistliche stieg in den schon seiner harrenden Wagen - und nur Valerie, das Herz zum Brechen voll, ihre dünnen Kleider vollständig durchnäßt, suchte, wie sie gekommen, mit schweren Schritten ihre öde Heimath wieder auf.

Dann kam eine bittere, wehe Zeit für sie - der Verkauf der ärmlichen Hinterlassenschaft, um die bei Doctor wie Apotheker aufgelaufenen Schulden, das Begräbniß und noch manche andere Kleinigkeiten zu decken. Es mußte fast Alles verkauft werden, und zugleich drängte sich dem Ortsvorstand die Frage auf, was nun mit dem Kinde selber werden solle, da man dies doch nicht allein in der leeren Wohnung lassen konnte.

Jetzt wurde, freilich etwas spät, nachgeforscht, woher die Familie stamme, und wo sie also ihr Heimathsrecht habe, aber die darum befragte Kleine wußte nichts, als daß sie bei ihrer damaligen Uebersiedelung weit bis zu dieser Stelle hergekommen wären. Papiere fanden sich gar nicht, und Valerie gestand ganz offen, daß sie, kurz vor der Mutter Tod, ein Kästchen voll Briefe habe im Ofen verbrennen müssen. /7/ Jedenfalls hatte die Sterbende Alles vernichten lassen, was Licht über Valerie's Herkunft geben mochte. Weshalb das geschehen war, wußte natürlich Niemand zu sagen; aber daß es in Osterhagen augenblicklich die schlimmste Auslegung erfuhr, läßt sich denken - der andere Fall wäre gegen Menschennatur gewesen. Es verstand sich von selbst, daß sie oder ihre nächsten Verwandten irgend ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben mußten, wonach der Name „Edmund" auch ein angenommener war - und das letztere fand allerdings darin eine Art von Bestätigung, daß der Gerichtsbeamte in dem letzten, noch gebliebenen Betttuch das mit einer Krone versehene Zeichen V.de.F. fand, über welches das Kind natürlich keine Aufklärung geben konnte.

Der jetzige Ortsvorstand erklärte freilich, und zwar während dieser Untersuchung und in Gegenwart des Kindes, daß sein Vorgänger im Amt vollständig gewissenlos gehandelt habe, eine solche vagabondirende Familie in der Gemeinde zuzulassen und dieser dadurch eine Last aufzubürden; aber die Sache wäre einmal geschehen und nicht mehr zu ändern, und jetzt könnten sie sehen, wo sie das Kind unterbrächten.

Valerie saß, während das Alles verhandelt wurde und die fremden Menschen über das Eigenthum ihrer Mutter nach Gutdünken verfügten, still und lautlos in der Ecke des Zimmers und starrte mit ihren großen, dunkeln Augen die Männer an. Sie weinte nicht - kein Wort der Klage kam über ihre Lippen, keins des Vorwurfs oder der Bitte, ihr dies oder das zu erhalten, was ihr vielleicht als Andenken theuer gewesen wäre. Das Furchtbarste, was hatte geschehen können, war geschehen, und alles Andere schien sie nicht mehr zu kümmern - nicht einmal, daß man sie, als Alles ausgeräumt worden, im Abenddunkel allein in der leeren Wohnung zurückließ, und nur der alten Nachbarin verdankte sie's, daß die Leute nicht auch noch den Strohsack und eine alte Decke mitnahmen - sie hätte sonst nicht einmal einen Platz gehabt, wohin sie ihr müdes Köpfchen legen konnte.

Allerdings beabsichtigte man nicht, sie ihrem Schicksal vollständig zu überlassen; das wäre nicht angegangen, da sie noch nicht einmal confirmirt war; aber heut Abend wenigstens /8/ konnte nichts mehr in der Sache geschehen; morgen früh in der „Gemeinde-Sitzung" mußte das erst entschieden werden, und die Waise indessen in der alten Wohnung bleiben. Die Leute handelten dadurch auch nicht gerade herzlos mit der Verlassenen; der Geistliche selber hätte sie gern zu sich in's Haus genommen, aber das beherbergte fünf eigene Kinder und eine arme alte Verwandte, und bei seinem geringen Gehalt wußte er selber oft nicht, wie er sich ehrlich und anständig durchbringen sollte, er durfte sich keine solche neue Verpflichtung aufladen - schon der eigenen Kinder wegen.

Auch die Frau des Bäckers hätte es vielleicht möglich gemacht, wenn sie nicht gerade eines verstorbenen Bruders Kind, auch ein Mädchen in Valerie's Alter, zu sich genommen. Was sollte sie mit zweien anfangen, und ihr Mann wollte auch nichts davon wissen. Der Ortsvorstand beschloß allerdings, einige der wohlhabendsten Familien im Orte darum zu ersuchen, das Kind zu erziehen, d. h. in Arbeit zu nehmen; Niemand schien aber gewillt, eine solche „Verantwortlichkeit" zu übernehmen, denn wer wußte denn, wie sich die Fremde anließ, und ob nicht durch sie gerade Streit und Unfriede in der Familie entstand.

So blieb dem Vorstand denn nichts übrig, als sie in das Gemeinde-Armenhaus - ein kleines steinernes Gebäude, das nicht weit vom Kirchhof stand - einzuquartieren. Von dort aus konnte sie noch bis zu ihrer Confirmation die Schule besuchen und nachher in Dienst genommen werden. Indessen war man dann auch im Stande, Nachforschungen über ihre Abkunft anzustellen, wenn dieselben auch nur wenig Erfolg versprachen. Wußte man doch nicht einmal, nach welcher Richtung, nach welchem Lande man sich deshalb wenden solle; und war sie gar wirklich aus Frankreich herüber gekommen, wie man allgemein glaubte, so ließen sich dafür nicht mehr die geringsten Beweise bringen - Frankreich hätte sie deshalb auch nie wieder angenommen und versorgt. /9/

2.

Das Gemeinde-Haus.

Valerie hatte, so lange ihre Mutter lebte, nie das Bedürfniß gefühlt, sich an irgend jemand Andern anzuschließen, und deshalb auch mit Kindern ihres Alters wenig oder gar keinen Verkehr gehabt. Diese spotteten ja auch nur über ihre Sprache und ihr ganzes fremdartiges Wesen, und herzlich gegen sie war keins von allen gewesen. Was brauchte sie auch Fremde - ihre Mutter galt ihr Alles auf der Welt, und sie sehnte sich nicht hinaus zu den Menschen!

Jetzt plötzlich war ihr Alles mit einem Schlag genommen, und sie selber nur auf die angewiesen, von denen sie sich früher zurückgezogen, ja von denen sie zurückgestoßen worden, und wie unglücklich sie sich dabei fühlte, läßt sich denken. Aber sie klagte weder, noch weinte sie. Als ob sie im Unglück ergraut wäre, so packte sie das Wenige, was ihr noch geblieben, zusammen und verließ das Haus - das einzige, das sie als Heimath kannte, um in das Gemeinde-Haus überzusiedeln. Dort lebte eine arme alte Frau in der einen Stube, der sie zugetheilt wurde, und die zugleich die Aufsicht über sie führen sollte, worauf diese auch sehr gern eingegangen war, da sie das Kind als Aufwartung recht gut gebrauchen konnte.

Das Gemeinde-Haus stand, wie gesagt, nicht weit vom Kirchhof und war insofern eins der stattlichsten Gebäude im Dorfe, da es ganz neu und massiv aus Sandstein aufgeführt und mit Ziegeln gedeckt worden; öde genug sah es freilich noch aus, denn kein Baum oder Strauch befand sich auf wohl vierzig Schritt im Umkreis; nur rother, lehmiger Boden, bei Regenwetter fast unnahbar. Dicht hinter dem Haus hatte der kleine Ort auch einen Brunnen graben lassen, aber das herausgeworfene Erdreich lag noch in hohen Haufen rings umher und machte den Platz dadurch nur noch wilder und trostloser.

Und das Innere? - Das ganze Haus bestand aus sechs Zimmern, einem Erker oder Mansardstübchen und einer Küche. /10/ Bewohnt war es nur zur Hälfte von drei Parteien: jener alten Frau, der Wittwe eines emeritirten Schullehrers; einem alten wüsten Burschen, der seit etwa dreißig Jahren auf Märkten und Messen mit einer Drehorgel und Mordgeschichten herumgezogen war und jetzt, da er nicht mehr fort konnte, an seine Gemeinde zurückgeliefert wurde, und einem blinden Schuhmacher, der eigentlich in ein Irrenhaus gehört hätte, denn er hielt sich für den König David und sang fortwährend Psalmen. Das aber ärgerte den alten Bänkelsänger, und so wie der Schuhmacher drüben in seiner Stube einen Psalm begann, fiel er mit einer seiner alten Mord- und Räubergeschichten ein, so daß diese Zwei zusammen tagtäglich ein ohrzerreißendes Concert lieferten.

Drei von den Zimmern standen öde und leer, so daß es im Winter eigentlich nie warm wurde; aber auch selbst die bewohnten Zimmer besaßen nur das Allernothwendigste von Hausgeräth - ein Bett mit Strohsack und wollener Decke, einen rohen Stuhl und eine wie mit der Axt zugehauene Commode. Die Oefen waren ziemlich gut, aber von außen zu heizen, und das Kochgeschirr in der Küche, mit ein paar blechernen Tellern und Löffeln, zum gemeinschaftlichen Gebrauch für alle Insassen.

Da hinein kam Valerie - dort sollte sie ihre Jugend verbringen, und als sie zuerst die Schwelle überschritt, war es ihr, als ob sie zum Tode geführt würde. Aber auch hier kam kein Laut über ihre Lippen, keine Thräne mehr in ihr Auge; still und geduldig ließ sie Alles mit sich geschehen, denn sie hatte ja keinen eigenen Willen, und wie ihr der Ortsvorstand bemerkte, mußte sie der Gemeinde noch dankbar dafür sein, daß diese sich einer solchen, eigentlich gar nicht hierher gehörenden Last angenommen hätte. Er schien auch wirklich eine Art Dank dafür zu erwarten, aber Valerie erwiderte keine Silbe. Schweigend folgte sie ihm in das öde Zimmer zu der alten Frau; schweigend, nur mit einem schüchternen Gruß, legte sie ihr kleines Bündel ab, und kauerte sich dann, beide Ellbogen mit ihren zarten Händen fassend, in der Ecke auf den Boden nieder.

Die alte Frau ließ sie anfangs gewähren und betrachtete /11/ sie nur manchmal kopfschüttelnd; es mochte ihr selber wunderbar vorkommen, ein so zartes Wesen als Genossin im Armenhaus zu erhalten. Aber ihre eigene Bequemlichkeit ging ihr doch zuletzt über jede etwa zu nehmende Rücksicht, und sie sagte nach einer Weile:

„Wie heißt Du, Kind?"

„Valerie," erwiderte das junge Mädchen scheu, und die Alte schüttelte ganz erstaunt wieder den Kopf.

„Wer hat nur je in aller Welt davon gehört, daß Eltern ein Kind Falleri getauft hätten? Falleri fallera singen die Kerle draußen, wenn sie 'was im Kopfe haben; das muß ein komischer Pfarrer gewesen sein, der den Namen in sein Kirchenbuch geschrieben hat. - Aber das schadet nichts, Kind," setzte sie beruhigend hinzu, „er klingt wenigstens lustig, und 'was Lustiges können wir in dem Elend hier gebrauchen, Schatz, das weiß der allmächtige Gott."

Valerie sah scheu zu ihr hinüber; die Alte nickte so heftig und unheimlich mit dem Kopf und sah dabei so stier vor sich hin, daß sie sich ordentlich vor ihr zu fürchten begann; aber die Frau Kunze - wie sie mit Namen hieß - war nur einmal wieder in ihre alten Erinnerungen hinein gerathen, in ihre Jugendjahre, wo sie auch bei fremden Leuten gedient, dann mit dem Schullehrer des Dorfes ein Verhältniß angesponnen, der sie zuletzt hatte heirathen müssen, dann die ganze Jammerzeit ihrer Ehe hindurch in Noth und Kummer hinlebend mit fünf Kindern, die sie alle, eins nach dem andern, begraben mußte, zuletzt mit dem Bescheid des Oberconsistoriums, der ihren Mann noch in seiner besten Lebenszeit emeritirte; dann das Elend nachher und zuletzt der Tod des Gatten, der sie, mit ihrer Pension von achtzehn Thalern jährlich, auf das Gemeinde-Armenhaus anwies, als letzte Zuflucht. Wenn sie das Alles aber bedachte, kam ihr immer der wunderliche Gedanke, wie es denn möglich sei, daß der liebe Gott Menschen auf die Erde setzen könne, denen er auch nicht ein einziges Jahr, ja keinen Tag, keine Stunde des Glückes gebe und die ihr Dasein in Jammer und Leid bis zum Grabe fortschleppen müßten, und daß sie dabei nicht freundlich aussehen konnte, ließ sich denken. /

 

12/ Aber das Grübeln allein half ihr nichts; das hatte sie das ganze Jahr hindurch alle und alle Tage, und die halben Nächte dazu; es wurde Zeit, daß sie etwas zu essen bekamen, und sie sagte deshalb:

„Komm, Kind, das nützt Alles nichts - das Grübeln bringt uns nicht weiter, und der Kopf wird Einem nur schwer und das Herz auch. - Sieh dich ein bischen in der Küche um - ich zeige Dir, wo Alles steht, und mach' Feuer an, daß wir wenigstens ein paar Kartoffeln bekommen - weiter giebt's nichts, außer Sonntags, da kriegen wir Fleisch - oder manchmal auch keins, wenn es Hirsebrei setzt. Du wirst so jetzt für die Küche sorgen müssen, denn meine alten Knochen wollen nicht mehr recht fort, und es wird auch wohl Zeit, daß ich mich zur Ruhe setze, denn eine Hülfe im Haus hat's mir noch nie abgeworfen. So alt ich bin, ich habe nur immer mir selber und anderen Menschen helfen müssen."

Die Alte murmelte noch immerfort einzelne Worte vor sich hin, stand aber doch jetzt selber auf, um dem Kind seinen neuen Wirkungskreis zu zeigen und die bisher gethane Arbeit auf dessen Schultern zu legen.

Valerie folgte ihr willenlos in die Küche und begriff bald die Behandlung des sehr einfachen Kochherdes, versprach auch, das Geschirr immer hübsch rein und sauber zu halten, was die alte Frau, wie sie selber eingestand, in der letzten Zeit etwas vernachlässigt hatte. Du lieber Gott, „es ging eben nicht mehr recht, und man konnte es nicht verlangen".

Der blinde Schuster war indessen auch schon ungeduldig geworden, machte seine Stubenthür auf und fluchte - obgleich er sonst nur immer Psalmen sang - auf gotteslästerliche Weise heraus, was denn das wäre, ob nicht bald Feuer angemacht würde, und sie heute etwa gar nichts zu essen haben sollten.

Valerie erschrak - der Mann sah gar so böse und so entsetzlich schmutzig und widerlich häßlich aus; aber heute noch unter der Anleitung der Alten ging sie willig an die Arbeit, holte Wasser, zündete Feuer an, wusch das von der letzten Mahlzeit noch stehen gebliebene Geschirr auf und prüfte die aufgesetzten Kartoffeln mit der Gabel, bis sie weich und gar /13/

waren. Dann wurde in der Küche auf dem Küchentisch gegessen, und der blinde Schuhmacher wie der alte Bänkelsänger trafen dort, nach gemeinschaftlichem Uebereinkommen, Mittags zusammen - weniger freilich der Unterhaltung wegen, als um sich gegenseitig zu zanken, wonach dann Jeder, unter den gemeinsten Schimpfworten, sein eigenes Nest wieder aufsuchte.

Unter solcher Gesellschaft verlebte jetzt das arme Kind seine Zeit, und wie es im Anfang vor Ekel über den ihm überall entgegenstarrenden Schmutz kaum essen konnte, und sich mit seinem Teller Kartoffeln scheu und zitternd vor den rohen Worten der Streitenden in eine Ecke zurückzog, fühlte es sich nur dann wohl, wenn es von Niemand beachtet wurde, und seine Arbeit, der es sich ja so gerne unterzog, ungestört verrichten konnte.

Glücklicher Weise schrieben die Gesetze vor, daß ihre „Erziehung" nicht vernachlässigt werden durfte - sie mußte die Schule besuchen, und mit welchem Eifer würde sie gelernt haben, wenn ihre Mitschülerinnen nur ein klein wenig freundlicher gegen sie gewesen wären! Aber sie wurde geneckt und verspottet, wo das nur heimlich geschehen konnte, und wagte nicht einmal sich zu beklagen, aus Furcht, die schon so rohen Kinder nur noch mehr zu reizen.

Der alte Geistliche nahm sich freilich ihrer an und würde das auch nicht gelitten haben, wenn er es eben erfahren hätte; der Schulmeister aber, eins jener gedrückten Wesen, der mit einem Gehalt, bei dem er fast verhungern mußte, täglich sieben Stunden Unterricht geben sollte, sah es nicht, oder wollte es nicht sehen. Er hatte gerade Aerger genug mit der Bande auf eigene Faust, und gedachte nicht, sich noch in Privatsachen zu mischen. Ueberdies gehörten ja auch die ungezogensten Bälge gerade den reichsten Bauern im Orte an, und mit denen mochte er es ohnehin nicht verderben - der Dirne aus dem Armenhaus wegen.

Das war eine furchtbare Zeit für das arme Kind, ein stärkerer Charakter, als ihn Valerie besaß, hätte dazu gehört, sie unbeeinflußt von ihren bösen Wirkungen zu ertragen.

Wie hatte ihre selige Mutter für sie gesorgt, um ihren Geist und Körper auszubilden, wie auf Reinlichkeit gesehen, /14/ und selber Alles in ihrem kleinen, wenn auch noch so ärmlichen Haus so sauber gehalten, daß das Ganze wie ein Puppenstübchen aussah - und wie anders, wie furchtbar anders war das jetzt geworden!

Was vermochte der alte mürrische Schullehrer sie noch zu lehren, was selbst das jetzt zwölfjährige Kind nicht schon wußte! Was lag ihm auch daran, ob seine Schüler und Schülerinnen etwas lernten - er hielt eben seine Stunden, käute die alten, schon tausendmal gebrauchten Phrasen und Formen wieder und dankte Gott, wenn es Sonnabend Mittag war.

Geistig erhielt Valerie deshalb von diesem Lehrer gar keine Hülfe und Unterstützung, und körperlich ging sie in ihrer wüsten Umgebung täglich mehr zu Grunde.

Wohl sträubte sie sich lange dagegen; die Lehre, das gute Beispiel ihrer wackern Mutter wurzelten noch zu fest in ihrem Herzen, und sie versuchte fast das Uebermenschliche, sich über dem Schlamm zu halten, der sie von allen Seiten umgab - aber lieber Gott, es war ja doch nur ein Kind, das geleitet sein wollte; es fehlte ihr ja noch der freie feste Wille der Erwachsenen, und wie eine alte Eiche starr und eisern gegen den Sturm die Wurzeln in den Boden krallt, so biegt sich der junge Schößling seiner Gewalt und behält die Neigung, die er ihm gezeigt.

So gab sich auch Valerie mehr und mehr dem bösen Einfluß hin, der auf sie einwirkte; was half ihr auch alles dagegen Ansträuben, sie konnte sich ihm ja doch nicht mehr entziehen. Anfangs, ja, suchte sie sich noch die Sauberkeit zu erhalten, in der sie ihre verstorbene Mutter erzogen; sie wusch und besserte an ihrem Kleidchen, an ihrer Wäsche aus, wo ihr nur ein Augenblick Zeit blieb; als aber der Winter mit Eis, Schnee und bitterer Kälte hereinbrach, und ihr kein eigenes Plätzchen blieb, an dem sie sich aufhalten konnte, fing sie ebenfalls an, gleichgültig gegen sich selber zu werden; trieb sie doch schon der bittere Frost hinter den Ofen, da ihr die dünnen Kleider keinen Schutz gegen die Kälte gewährten.

Auch Morgens scheute sie sich aufzustehen und Feuer anzuzünden, bis sie die Alte von ihrem ärmlichen Lager jagte; dann natürlich konnte sie sich ihr Haar nicht machen, band die /15/ vollen, aber wirren Locken nur flüchtig in einen Knoten zusammen und ging an ihre Arbeit. Auch ihr Kleid war so fadenscheinig geworden, daß Ausbessern gar nichts mehr half; es zeigte dabei überall Spuren von Fett und anderen Flecken; kurz, sie begann zu verwildern, und Niemand war, der sie gewarnt und ermahnt hätte - nicht einmal der Schullehrer, dessen erste Pflicht es gewesen wäre.

Begegnete ihr der Geistliche dann einmal in einem solchen Aufzug, so blieb er wohl kopfschüttelnd vor ihr stehen und schalt sie ihres unordentlichen, schmutzigen Aussehens wegen, aber der alte Mann hatte auch andere Dinge im Kopf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Daheim lagen ihm zwei Kinder schwer krank am Nervenfieber fast den ganzen Winter hindurch, und das lastete ihm mit einem solchen Druck auf dem Herzen, daß er seiner nächsten Umgebung kaum mehr als einen flüchtigen Blick widmen konnte.

So verging der Winter, und der Sommer kam wieder, aber keine bessere Zeit für das arme Kind, dem die Gesellschaft in dem öden Gemeinde-Haus immer entsetzlicher wurde. Der alte Bänkelsänger trank. Wo er das Geld dazu herbekam, wußte Niemand; aber er hatte fortwährend wenigstens einige kleine Münzen, und wenn ihn Jemand darum frug, behauptete er immer lachend, er wisse einen verborgenen Schatz im nächsten Berge, aus dem er sich hole, was er brauche. Manchmal war er allerdings zwei bis drei Tage fort, Niemand wußte wohin, und wenn ihn der Ortsvorstand dann zur Rede setzen wollte, und ihn frug, wo er sich ohne Legitimation im Lande umhergetrieben, lachte er jedesmal und behauptete, er habe oben in den Hügeln Kräuter gegen seinen bösen Husten gesucht - brachte auch in der That jedesmal einen ganzen Arm voll Pflanzen mit, die er aber, allem Anschein nach, irgendwo auf's Gerathewohl ausgerissen hatte, denn der Dorfbader, der die Sache verstehen mußte, erklärte sie sämmtlich für werthlos in der Medicin, und der alte Lüdrian benutzte sie auch nie weiter, sondern warf sie nur in eine Ecke, wo sie ein paar Tage lagen und welkten, und dann von Valerie hinausgetragen wurden.

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