Von der Erde zum Mond

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Von der Erde zum Mond
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VON DER

ERDE

ZUM

MOND

JULES VERNE

MIT DEN ILLUSTRATIONEN DER ORIGINALAUSGABE


Mit den Illustrationen der

französischen Originalausgabe des

Verlages J. Hetzel & Cie.

Nach der deutschen Übersetzung des

A. Hartleben’s Verlages (1874-1911)

der neuen Rechtschreibung angepasst.

Leicht bearbeitet durch den Wunderkammer Verlag.

© 2013 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Hamburg

Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf

elektronischen Systemen, vorbehalten.

All rights reserved.

Titelabbildung: akg-images, Berlin

Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg

ISBN: 978-3-86820-956-3

www.nikol-verlag.de

ERSTES KAPITEL
Der Gun-Club[1]

M

ährend des Bundeskrieges der Vereinigten Staaten bildete sich in Baltmore in Maryland ein neuer Club von großer Bedeutung. Es ist bekannt, wie energisch sich bei diesem Volk von Reedern, Kaufleuten und Mechanikern der militärische Instinkt entwickelte. Einfache Kaufleute brauchten nur in ihrem Comptoir auf und ab zu schreiten, um unversehens Hauptleute, Obristen, Generäle zu werden, ohne die Militärschule in Westpoint absolviert zu haben. Bald standen sie in der ›Kriegskunst‹ ihren Kollegen der Alten Welt nicht nach und verstanden gleich diesen durch das Vergeuden von Kugeln, Millionen und Menschen, Siege zu erringen.

Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganz außerordentlich. Sie bauten Geschütze nicht allein von höchster Vollkommenheit, sondern auch von ungewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unglaublichere Reichweite haben mussten. Im Bezug auf die Schießkunst konnte man den Engländern, Franzosen und Preußen nichts mehr lehren, aber ihre Kanonen, Haubitzen und Mörser waren nur Sackpistolen gegen die fürchterlichen Maschinen der amerikanischen Artillerie.

Das war aber nicht zum Verwundern. Die Yankees, die ersten Mechaniker auf der Welt, waren geborene Ingenieure, wie die Italiener Musiker und die Deutschen Metaphysiker. Es war daher ganz natürlich, dass sich ihre kühne Genialität in ihrer Geschützkunde zu erkennen gab. Daher jene Riesenkanonen, die zwar weit weniger nützten als die Nähmaschinen, doch ebenso viel Staunen und noch mehr Bewunderung erregten. Bekannt wurden von solchen Wunderwerken die Parott, Dahlgreen, Rodman. Die Armstrong, Palliser, Treuille de Beaulieu mussten vor ihren überseeischen Rivalen die Segel streichen.

Daher standen denn auch während des fürchterlichen Kampfes der Nord- und Südstaaten die Artilleristen im allerhöchsten Ansehen. Die Journale der Union priesen ihre Erfindungen mit Enthusiasmus, und es gab keinen armseligen Krämer, keinen einfältigen Buben, der sich nicht den Kopf mit unsinnigen Schussberechnungen zerbrach.

Wenn aber einem Amerikaner eine Idee im Kopfe steckt, so sucht er sich einen zweiten Amerikaner, um sie zu teilen. Sind ihrer Drei, so wählen sie einen Präsidenten und zwei Sekretäre. Vier, so ernennen sie einen Archivisten und das Bureau wird aktiv. Bei Fünfen berufen sie eine Generalversammlung ein und der Club ist fertig. So ging es auch in Baltimore. Einer erfand eine Kanone, verbündete sich mit einem, der sie goss, und einem anderen, der sie bohrte. Aus einer solchen Kerngruppe erwuchs auch der Gun-Club. Einen Monat nach seiner Bildung zählte er 1.833 wirkliche Mitglieder und 30.575 passive.

Unerlässliche Bedingung für jedes Mitglied des Clubs war, dass man eine Kanone oder mindestens irgendeine Feuerwaffe erfunden oder zumindest verbessert hatte. Aber offen gesagt, die Erfinder von Fünfzehn-Schuss-Revolvern, von Pivot-Karabinern oder Säbelpistolen genossen kein großes Ansehen. Die Artilleristen behaupteten in jeder Hinsicht den ersten Rang.


»Die Achtung, welche sie genießen«, sagte einmal einer der gescheitesten Redner des Gun-Clubs, »steht im Verhältnis zur Masse ihrer Kanonen, und zwar in direktem Maßstab zum Quadrat der Distanzen, welche ihre Geschosse erreichen.«

Und darüber hinaus verpflanzte sich das newtonsche Gravitationsgesetz in die moralische Welt.

Man kann sich leicht vorstellen, was das erfinderische Genie der Amerikaner in dieser Hinsicht zutage förderte, nachdem der Gun-Club einmal gegründet war. Die Kriegsmaschinen nahmen einen kolossalen Maßstab an und die Geschosse flogen weit über die ihnen gesteckten Ziele hinaus, um harmlose Spaziergänger zu zerreißen. All diese Erfindungen ließen die schüchternen Werkzeuge der europäischen Artillerie weit hinter sich. Man urteile aus folgenden Zahlen.

Einst, ›wenn es gut ging‹, vermochte ein Sechsunddreißigpfünder auf eine Entfernung von dreihundert Fuß sechsunddreißig Pferde von der Seite her zu durchbohren und dazu achtundsechzig Mann. Die Schießkunst lag damals noch in der Wiege. Seitdem hat sie Fortschritte gemacht. Die Rodman-Kanone, die eine Kugel von einer halben Tonne[2] sieben (engl.) Meilen weit schleuderte, hätte leicht hundertundfünfzig Pferde und dreihundert Mann niedergeworfen. Es war im Gun-Club gar die Rede davon, eine förmliche Probe damit anzustellen. Aber ließen es sich die Pferde auch gefallen, das Experiment zu machen, an Menschen fehlte es leider.

Wie dem auch sei, diese Kanonen leisteten Mörderisches, und bei jedem Schuss fielen die Menschen wie die Ähren unter der Sense. Was wollte neben solchen Geschossen die berühmte Kugel zu Coutras bedeuten, welche im Jahre 1587 fünfundzwanzig Mann kampfunfähig machte, und die andere, welche bei Zorndorf 1758 vierzig Mann tötete, und 1742 bei Kesselsdorf die österreichische, die bei jedem Schuss siebzig Feinde niederwarf? Was war dagegen das erstaunliche Geschützfeuer bei Jena und Austerlitz, das die Schlachten entschied? Da gab es während des Bundeskrieges ganz andere Dinge zu schauen! Bei Gettysburg traf ein kegelförmiges Geschoss aus einer gezogenen Kanone dreiundsiebzig Feinde, und beim Übergang über den Potomak beförderte eine Rodmankugel zweihundertfünfzehn Südstaatler in eine ohne Zweifel bessere Welt. So verdient auch ein fürchterlicher Mörser, den J. T. Maston, ein hervorragendes Mitglied und beständiger Sekretär des Gun-Clubs, erfand, erwähnt zu werden. Seine Wirkung war noch mörderischer, denn beim Probieren tötete er dreihundertsiebenunddreißig Personen – freilich beim Explodieren!

Diese Zahlen legen kommentarlos ein beredtes Zeugnis ab. Auch wird man ohne Widerrede die folgende, vom Statistiker Pitkairn aufgestellte Berechnung gelten lassen: dividiert man die Anzahl der durch die Kugeln gefallenen Opfer mit der Zahl der Mitglieder des Gun-Clubs, so ergibt sich, dass auf Rechnung jedes Einzelnen des Letzteren durchschnittlich 2.375 Mann kommen, nebst einem Bruchteil.

Zieht man diese Zahlen in Betracht, so ist es offensichtlich, dass das Trachten dieser gelehrten Gesellschaft vor allem auf Menschenvernichtung und auf Vervollkommnung der Kriegswaffen gerichtet war. Es war ein Verein von Würgengeln, ansonsten aber die besten Menschenkinder der Welt.

Ferner muss man erwähnen, dass es diese Yankees von erprobter Tapferkeit nicht beim Reden bewenden ließen, sondern persönlich für ihre Ideen eintraten. Man zählte unter ihnen Offiziere jeden Grades vom Lieutenant bis zum General, Militärpersonen jeden Alters, Anfänger im Kriegsdienst und an der Lafette ergraute Männer. Manche fielen auf dem Schlachtfeld und ihre Namen wurden ins Ehrenbuch des Gun-Clubs eingetragen, und von denen, welche davonkamen, trugen die meisten Zeichen ihres unzweifelhaften Heldentums an sich: Krücken, hölzerne Beine, künstliche Arme, Haken statt der Hände, Kinnbacken aus Kautschuk, Schädel aus Silber, Nasen aus Platin, nichts mangelte in der Sammlung, und der obgedachte Pitkairn berechnete ebenfalls, dass im Gun-Club nicht ganz ein Arm auf vier Personen kam und nur zwei Beine auf sechs.

Aber diese wackeren Artilleristen machten sich nicht so viel daraus, und sie waren mit Recht stolz darauf, wenn die Kriegsberichterstattung über eine Schlacht zehnmal mehr Opfer anführte als Geschosse abgefeuert worden waren.

Eines Tages jedoch – an einem traurigen, bedauerlichen Tag – unterzeichneten die Überlebenden den Frieden. Der Geschützdonner hörte allmählich auf, die Mörser verstummten. Die Haubitzen wurden für lange Zeit unschädlich gemacht und die Kanonen kehrten gesenkten Hauptes in die Arsenale zurück. Die Kugeln wurden in den Zeughäusern aufgeschichtet, die blutigen Erinnerungen versiegten, die Baumwollstauden sprossen üppig auf den reich gedüngten Feldern. Mit den Trauerkleidern wurde auch der Schmerz abgelegt und der Gun-Club versank in vollständige Untätigkeit.

»Trostlos«, sagte eines Abends der tapfere Tom Hunter, während seine hölzernen Beine am Kamin verkohlten: »Nichts mehr zu tun. Nichts mehr zu hoffen! Welch langweiliges Leben! O goldene Zeit, da uns einst jeden Morgen lustiger Kanonendonner weckte!«


»Die Zeit ist dahin«, pflichtete der muntere Bilsby bei. »Das war eine Lust! Man erfand seinen Mörser, und war er gegossen, so probierte man ihn am Feind aus. Dann begab man sich wieder ins Lager mit einer Belobigung Shermans oder einem Handschlag Mac-Clellans! Aber nun sind die Generale wieder in ihren Comptoirs und versenden harmlose Baumwollballen! Ja, wahrhaftig, die Artillerie hat in Amerika keine Zukunft mehr!«

 

»Ja, Bilsby«, verkündete Obrist Blomsberry. »Das sind grausame Täuschungen! Eines Tages kehrt man seinen friedlichen Gewohnheiten den Rücken zu, übt sich in den Waffen, zieht von Baltimore aus ins Feld, tritt da als Held auf, und zwei, drei Jahre später muss man die Früchte seiner Strapazen wieder abgeben und in leidiger Untätigkeit einschlafen.«

»Und kein Krieg in Aussicht«, sagte darauf der berühmte J. T. Maston und kratzte dabei mit seinem eisernen Haken seinen Guttapercha-Schädel. »Kein Wölkchen am Himmel, und das zu einer Zeit, da in der Artilleriewissenschaft noch so viel zu tun wäre! Da habe ich diesen Morgen einen Musterriss fertig gemacht, samt Plan, Durchschnitt und Aufriss, für einen Mörser, der die Gesetze des Krieges verändern könnte!«

»Wirklich?«, fragte Tom Hunter, und dabei fiel ihm unwillkürlich der letzte Versuch des ehrenwerten J. T. Maston ein.

»Ja, wirklich«, entgegnete dieser. »Aber wozu nun so viele Studien und das Überwinden so vieler Schwierigkeiten? Ist das nicht verlorene Mühe? Die Bevölkerung der Neuen Welt scheint entschlossen zu sein, nun in Frieden zu leben und unsere Kriegstribüne hat bereits Katastrophen als Folge des Bevölkerungswachstums vorausgesagt!«

»Indessen, Maston«, fuhr Obrist Blomsberry fort, »gibt es in Europa immer noch Kriege um das Prinzip der Nationalitäten!«

»Na und?«

»Na und? Da könnte man vielleicht einen Versuch machen. Und wenn man unsere Dienste annähme?«

»Was meinen Sie? Ballistik zugunsten von Ausländern?«

»Besser, als gar nichts damit treiben«, entgegnete der Obrist.

»Allerdings!«, sagte J. T. Maston. »Es wäre wohl besser, aber an so einen Ausweg darf man nicht einmal denken.«

»Und weshalb nicht?«, fragte der Obrist.

»Weil man in der Alten Welt in Fragen der Soldatenlaufbahn Vorstellungen hat, die unseren amerikanischen Gewohnheiten schnurstracks zuwiderlaufen. Die Leute dort meinen, man könne nicht kommandierender General werden, wenn man nicht zuvor Unterlieutenant gewesen ist, was dasselbe wäre, als wenn man nicht verstehe, eine Kanone auszurichten, wenn man sie nicht selbst gegossen hat! Nun ist aber selbstverständlich ...«

»Lächerlich!«, erklärte Tom Hunter, während er mit einem Bowie-Messer Kerben in die Arme seines Lehnsessels schnitt. »Und weil dem so ist, so bleibt uns nichts übrig, als Tabak anzupflanzen oder Tran zu sieden!«

»Wie?«, rief J. T Maston mit laut hallender Stimme. »Wir sollen unsere letzten Lebensjahre nicht auf die Vervollkommnung der Feuerwaffen verwenden? Es sollte sich keine Gelegenheit mehr ergeben, unsere Geschosse auszuprobieren? Der Blitz von unseren Kanonen sollte nicht mehr die Luft erhellen? Es sollte sich keine internationale Streitfrage ergeben, die Anlass dazu gäbe, einer überseeischen Macht den Krieg zu erklären? Sollten nicht die Franzosen eins unserer Dampfboote im Meer versenken und die Engländer sollten nicht entgegen den Grundsätzen des Völkerrechts etliche unserer Landsleute hängen?«

»Nein, Maston«, entgegnete Obrist Blomsberry, »dieses Glück wird uns nicht werden! Nein! Kein einziger dieser Fälle wird eintreten, und geschähe es, so würden wir ihn nicht ausnutzen! Das amerikanische Selbstgefühl schwindet von Tag zu Tag und wir werden zu Weibern!«

»Ja, wir versinken!«, erwiderte Bilsby.

»Und man zwingt uns in die Knie!«, entgegnete Tom Hunter.

»Dies alles ist nur allzu wahr«, erwiderte J. T Maston mit erneuter Heftigkeit. »Es lassen sich tausende von Gründen finden, um sich zu schlagen, aber man schlägt sich nicht! Man will Arme und Beine schonen, und das zugunsten von Leuten, die nichts damit anzufangen wissen! Und denken Sie, man braucht einen Grund zum Krieg nicht so weit herzuholen: Hat nicht Nord-Amerika einst den Engländern gehört?«

»Allerdings!«, bestätigte Tom Hunter, während er mit seiner Krücke das Feuer schürte.

»Also dann!«, fuhr J. T Maston fort. »Warum sollte nicht England einmal an die Reihe kommen den Amerikanern zu gehören?«

»Das wäre nur recht und billig«, erwiderte Obrist Blomsberry lebhaft.

»Machen Sie diesen Vorschlag einmal dem Präsidenten der Vereinigten Staaten«, rief J. T Maston, »und Sie werden sehen, wie er Sie empfangen wird!«

»Gewiss wohl schlecht«, brummte Bilsby zwischen den Zähnen, die er noch hatte.

»Meiner Treu!«, rief J. T Maston. »Mit meiner Stimme kann er nicht mehr rechnen!«

»Auch mit unseren nicht«, stimmten die Kriegsinvaliden unisono mit ein.

»Unterdessen«, äußerte J. T Maston zum Schluss, »gibt man mir nicht die Gelegenheit, meinen neuen Mörser auf einem wirklichen Schlachtfeld auszuprobieren, so trete ich aus dem Gun-Club aus und vergrabe mich in den Savannen von Arkansas!«

»Da kommen wir mit«, erklärten die Genossen des tapferen J. T Maston.

So standen die Dinge, die Geister erhitzten sich und der Club war von naher Auflösung bedroht als ein unerwartetes Ereignis dazwischenkam. Am Tag nach dieser Unterredung erhielt jedes Mitglied der Gesellschaft ein wie folgt abgefasstes Rundschreiben:

Baltimore, 3. Oktober.

»Der Präsident des Gun-Clubs beehrt sich, seine Kollegen davon zu unterrichten, dass er in der Sitzung am 5. d. Monats eine Mitteilung zu machen hat, welche sie lebhaft interessieren wird. Demnach bittet er sie, ungesäumt der im gegenwärtigen Schreiben enthaltenen Einladung zu folgen.

Mit herzlichem Gruß

Impey Barbicane, Präsident.«

ZWEITES KAPITEL
Mitteilung des Präsidenten Barbicane

A

m 5. Oktober um acht Uhr abends drängte sich eine dichte Menge in den Sälen des Gun-Clubs, 21. Unionsquare. Alle in Baltimore einheimischen Mitglieder der Gesellschaft hatten sich auf die Einladung ihres Präsidenten dort hinbegeben. Die Korrespondenten gelangten per Express zu hunderten in der Stadt an, und so groß auch die Sitzungshalle war, so konnte die Menge der Gelehrten darin keinen Platz mehr finden. Sie strömte über in die anstoßenden Säle, die Gänge bis mitten in die äußeren Höfe, wo sie mit dem gewöhnlichen Volk zusammentraf, das sich an den Eingängen drängte. Indem jeder in die vordersten Reihen zu gelangen trachtete, alle voll Begierde, die wichtige Mitteilung des Präsidenten Barbicane zu vernehmen, stieß und schob man sich herum, zerdrückte sich mit jener Freiheit des Handelns, welche den in den Ideen des ›selfgovernment‹ erzogenen Massen eigentümlich ist.

An jenem Abend hätte ein in Baltimore anwesender Fremder um keinen Preis in den großen Saal gelangen können, derselbe war ausschließlich den einheimischen Mitgliedern oder den Korrespondenten vorbehalten. Kein Anderer konnte darin einen Platz bekommen, und die Notabeln der Stadt, die Mitglieder des Rates der ›Auserkorenen‹, hatten sich unter die Menge ihrer Untergebenen begeben müssen, um flüchtig zu erhaschen, was drinnen vorging.

Indes bot die riesige Halle einen merkwürdigen Anblick. Das große Lokal war dabei erstaunlich gut für seine Bestimmung geeignet. Hohe Säulen, die aus übereinandergesetzten Kanonen auf einer dicken Unterlage von Mörsern gebildet waren, trugen die feinen Verzierungen des Gewölbes, die gleich Spitzen aus Guss gefertigt waren. Vollständige Rüstungen von Stutzern, Donnerbüchsen, Büchsen, Karabinern, alle möglichen Feuerwaffen alter und neuer Zeit, waren an den Wänden mit malerischen Verschlingungen gruppiert. Das Gas strömte in vollen Flammen aus tausenden von Revolvern, die in Form von Lüstern angeordnet waren, während aus Pistolen gebildete Girandolen und Kandelaber, die aus Bündeln von Flintenläufen angefertigt worden waren, die glänzende Beleuchtung vollendeten. Die Kanonenmodelle, die bronzenen Probemuster, die durchlöcherten Zielscheiben, die von Kugeln des Gun-Clubs zerschossenen Platten, die Auswahl von Setzern und Wischern, die Rosenkränze aus Bomben, die Halsbänder aus Geschossen, die Girlanden aus Granaten, kurz, alle Werkzeuge des Artilleristen überraschten das Auge durch ihre eigentümliche Anordnung und erweckten den Gedanken, dass sie in Wahrheit mehr zum Schmuck als zum Morden bestimmt seien.

Auf dem Ehrenplatz sah man unter einer glänzenden Glasglocke ein zerbrochenes, vom Pulver zerdrehtes Stück einer Kanone, ein kostbares Reststück der Kanone von J. T. Maston.

Am Ende des Saales saß auf einem breiten Sonderplatz – umgeben von vier Sekretären – der Präsident. Sein Sitz, der sich auf einer mit Schnitzwerk gezierten Lafette befand, war im Ganzen gleich einem starken Mörser von zweiunddreißig Zoll geformt, in einem Winkel von neunzig Grad aufgestellt und an Zapfen befestigt, sodass sich der Präsident auf demselben wie auf einem Schaukelstuhl in angenehmster Weise schaukeln konnte. Auf dem Schreibtisch, einer breiten Platte aus Eisenblech auf sechs Kanonen, sah man ein Tintenfass von besonderem Aussehen, das aus einer kostbar gemeißelten Biskayer Büchse geformt war, und eine Donnerglocke, die bei gegebenem Anlass wie ein Revolver knallte. Bei heftigem Streit reichte diese neu erfundene Glocke manchmal kaum aus, um die Stimmen dieser Legion von erhitzten Artilleristen übertönen zu können.


Vor dem Schreibtisch waren kleine Bänke im Zickzack, gleich den Linien einer Verschanzung, aufgestellt und bildeten eine Reihe von Basteien und Kourtinen. Auf diesen saßen die Mitglieder des Gun-Clubs, und diesen Abend konnte man sagen: ›Es fehlte nicht an Männern auf den Wällen.‹ Man kannte den Präsidenten gut genug, um zu wissen, dass er seine Kollegen nicht ohne wichtigen Grund einberufen hatte.

Impey Barbicane war ein Mann von vierzig Jahren, ruhig, kaltblütig, streng, von außerordentlich ernstem und konzentriertem Geist, pünktlich wie ein Uhrwerk, von starkem Temperament, unerschütterlichem Charakter, wenig ritterlich, doch abenteuerlich, aber voll praktischer Ideen, selbst bei den verwegensten Unternehmungen – er war in bestechendster Weise der Mann Neu-Englands, der nordische Pflanzer, der Abkömmling jener Rund-Köpfe, die einst den Stuarts so gefährlich wurden, der unversöhnliche Feind der südlichen Gentlemen, jener vormaligen Junker des Mutterlandes. Mit einem Wort, er war durch und durch ein Yankee reinsten Wassers.

Barbicane hatte sich im Holzhandel ein großes Vermögen erworben. Während des Krieges zum Artilleriedirektor ernannt, machte er zweckmäßige Erfindungen, hatte kühne Ideen, trug viel zu den Fortschritten dieser Waffe bei und gab den experimentellen Forschungen einen unvergleichlichen Schwung.

Ein Mann von mittlerer Statur, hatte er – seltene Ausnahme im Gun-Club -ganz wohl erhaltene Glieder. Seine scharf ausgeprägten Gesichtszüge waren wie mit dem Lineal nach dem Winkelmaße geschnitten, und wenn es wahr ist, dass man, um eines Menschen instinktiven Charakter zu erkennen, ihn im Profil ansehen müsse, so konnte man bei ihm darin die deutlichsten Anzeichen von Energie, Kühnheit und Kaltblütigkeit wahrnehmen.

In diesem Augenblick war er in seinem Lehnstuhl unbeweglich, stumm, in Gedanken versunken, den Blick nach innen gerichtet, mit einem hoch geformten Hut – einem schwarzen Seidenzylinder – welcher, so scheint es, den amerikanischen Schädeln angeschraubt ist.

Das lärmende Gerede seiner Kollegen um ihn her störte ihn nicht. Sie befragten einander, schweiften auf dem Feld der Vermutungen, forschten in den Zügen ihres Präsidenten und trachteten vergeblich, das Fragezeichen seiner undurchdringlichen Physiognomie herauszubekommen.

Als die Uhr des großen Saales mit Donnerschlägen die Stunde verkündete, erhob sich Barbicane plötzlich, wie von einer Sprungfeder emporgeschnellt. Alles lauschte, und der Redner ließ sich mit etwas emphatischem Ton folgendermaßen vernehmen:

»Tapfere Kollegen! Schon allzu lange hat ein unliebsamer Friede die Mitglieder des Gun-Clubs in bedauerliche Untätigkeit versetzt. Nach vier so ereignisvollen Jahren mussten wir unsere Arbeit einstellen und auf dem Wege des Fortschritts plötzlich Halt machen. Ich nehme keinen Abstand es laut auszusprechen: Jeder Krieg, der uns wieder die Waffen in die Hand gäbe, würde willkommen sein ...«

»Ja, der Krieg!«, rief J. T Maston stürmisch. »Hört! Hört!«, vernahm man von überall her.

 

»Aber der Krieg«, fuhr Barbicane fort, »ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht durchzusetzen, und was sich auch der ehrenwerte Kollege, welcher mich unterbrach, für Hoffnungen machen mag, es wird eine Reihe von Jahren vergehen, ehe unsere Kanonen wieder auf einem Schlachtfeld donnern. Das muss man sich nun gefallen lassen, und in einem andern Ideenkreise Beschäftigung für unseren Tätigkeitstrieb suchen.«

Da die Versammlung merkte, dass ihr Präsident nun auf den Hauptpunkt kam, verdoppelte sie ihre Aufmerksamkeit.

»Seit einigen Monaten, wackere Kollegen«, begann Barbicane erneut, »habe ich darüber nachgedacht, ob wir nicht innerhalb unseres Spezialfachs imstande wären, eine große, des neunzehnten Jahrhunderts würdige Forschung vorzunehmen und ob uns nicht die Fortschritte in der Ballistik in den Stand setzten, sie glücklich auszuführen. Zuletzt habe ich geforscht, gearbeitet, Berechnungen angestellt, und das Ergebnis meiner Studien war die Überzeugung, dass wir bei einer Unternehmung, die in jedem anderen Lande unausführbar sein würde, zu einem glücklichen Ziele gelangen müssten. Über dieses reiflich durchdachte Projekt will ich Ihnen nun nähere Auskünfte geben. Es ist Ihrer würdig, würdig der Vergangenheit des Gun-Clubs, und wird unfehlbar großes Aufsehen in der Welt erregen!«


»Viel Aufsehen?«, fragte laut ein leidenschaftlicher Artillerist.

»Sehr viel Aufsehen, im wahrsten Sinne des Wortes«, wiederholte Barbicane. »Nicht unterbrechen!«, rief es von allen Seiten.

»Ich bitte Sie also, ehrenwerte Kollegen«, fuhr der Präsident fort, »mir Ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen.«

Die ganze Versammlung wurde in eine unwillkürliche Bewegung versetzt. Barbicane rückte rasch seinen Hut zurecht und drückte ihn fest, dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort:

»Unter Ihnen ist niemand, verehrte Kollegen, der nicht den Mond gesehen oder mindestens von ihm sprechen gehört hätte. Wundern Sie sich nicht, dass ich Sie hier über dieses Gestirn der Nacht unterrichte. Vielleicht ist es uns vorbehalten, für diese unbekannte Welt die Rolle des Kolumbus zu spielen. Begreifen Sie mich, unterstützen Sie mich mit allen Kräften, so will ich Sie führen, diese Eroberung zu machen, und der Name des Mondes wird sich denen der sechsunddreißig Staaten anreihen, welche den großen Bund dieses Landes bilden.«

»Hurra dem Mond!«, riefen die Mitglieder des Gun-Clubs wie mit einer Stimme.

»Man hat viele Studien über den Mond gemacht«, fuhr Barbicane fort. »Seine Masse, Dichte, sein Gewicht und sein Umfang, seine Beschaffenheit, seine Bewegungen, die Entfernung, seine Rolle im Sonnensystem sind nun genau bekannt. Man hat Mondkarten angefertigt, welche an vollkommener Ausführung den Erdkarten mindestens gleichkommen, wenn sie dieselben nicht sogar übertreffen. Die Fotografie hat von unserem Trabanten Musterbilder von unvergleichlicher Schönheit geliefert. Kurz, man weiß von dem Mond alles, was uns die mathematischen Wissenschaften, die Astronomie, die Geologie sowie auch die Optik lehren können, aber bis jetzt ist noch nie ein direkter Verkehr mit demselben hergestellt worden.«

Bei diesen Worten des Redners gab sich eine heftige Erregung des Interesses und der Überraschung zu erkennen.

»Gestatten Sie mir«, fuhr Barbicane fort, »mit einigen Worten daran zu erinnern, wie einige glühende Geister in phantasievollen Reisebeschreibungen vorgaben, die Geheimnisse unseres Trabanten ergründet zu haben. Im siebzehnten Jahrhundert rühmte sich ein gewisser David Fabricius, die Bewohner des Mondes mit eigenen Augen gesehen zu haben. Im Jahre 1649 veröffentlichte ein Franzose, J. Beaudoin, eine ›Reise in den Mond, von dem spanischen Abenteurer Dominico Gonzalez‹ unternommen. Zu derselben Zeit ließ Cyrano de Bergerac die berühmte Expedition, welche in Frankreich so viel Erfolg hatte, veröffentlichen. Später schrieb ein anderer Franzose namens Fontenelle über die Mehrheit der Welten ein Hauptwerk. Aber die Wissenschaft überbietet in ihrem Fortschritt auch die Meisterwerke! Um das Jahr 1835 erzählte ein aus dem New York Americain übersetztes Werkchen, Sir J. Herschel, der zum Zweck astronomischer Studien ans Kap der Guten Hoffnung gesendet worden war, habe mit einem vervollkommneten Teleskop den Mond bis auf eine Entfernung von achtzig Yard[3] nahe gebracht. Da habe er ganz deutlich Höhlen beobachtet, worin Flusspferde hausten, grüne mit Goldsaum befranzte Berge, Hammel mit Hörnern aus Elfenbein, weiße Rehe, Bewohner mit pergamentgleichen Flügeln, wie bei den Fledermäusen. Dieses von einem Amerikaner namens Locke verfasste Werkchen hatte großen Erfolg. Bald aber erkannte man darin eine Mystifikation der Wissenschaft, und die Franzosen lachten zuerst darüber.«

»Über einen Amerikaner lachen!«, beschwerte sich J. T. Maston. »Da haben wir ja einen Casus Belli ...«

»Beruhigen Sie sich, mein würdiger Freund. Bevor die Franzosen lachten, haben sie sich von unserem Landsmann vollständig anführen lassen. Ich füge bei, dass ein gewisser Hans Pfaal aus Rotterdam in einem Ballon, der mit Stickstoff gefüllt war, welches fünfunddreißigmal leichter als Wasserstoff ist, in neunzehn Tagen bis zum Mond gelangte. Diese Reise war, gleich der vorausgehenden, nur eine Phantasie-Unternehmung, aber sie hatte den populären amerikanischen Schriftsteller, der ein Genie von seltenem Tiefsinn war, Poe, zum Verfasser.«

»Hurra dem Edgar Poe!«, deklamierte die Versammlung voller Begeisterung.

»So viel«, fuhr Barbicane fort, »von den Versuchen, die wissenschaftlich durchaus ungenügend sind, um ernstlich Verbindungen mit dem Gestirn der Nacht zu bewirken. Doch muss ich hinzufügen, dass einige praktische Geister den Versuch machten, sich wirklich mit ihm in Verbindung zu setzen. Vor einigen Jahren machte ein deutscher Geometer den Vorschlag, eine Kommission von Gelehrten in die Steppen Sibiriens zu schicken. Dort sollte man in den weiten Ebenen große geometrische Figuren mit Hilfe beleuchteter Metallspiegel aufstellen, unter anderen das Quadrat der Hypotenuse, das die Franzosen gewöhnlich ›Eselsbrücke‹ nennen. ›Jedes intelligente Wesen‹, sagte der Geometer, ›muss die wissenschaftliche Bedeutung dieser Figur begreifen. Wenn es nun Mondbewohner gibt, so werden sie mit einer ähnlichen Figur antworten, und ist einmal die Verbindung eingerichtet, so ist es keine schwere Sache, ein Alphabet zu schaffen, welches dazu in die Lage versetzt, sich mit den Bewohnern des Mondes zu unterhaltene So lautete der Vorschlag des deutschen Geometers, aber er kam nicht zur Ausführung, und bis jetzt ist noch keine direkte Verbindung zwischen der Erde und ihrem Trabanten entstanden. Aber es ist dem praktischen Genie der Amerikaner vorbehalten, die Verbindung mit der Sternenwelt zu verwirklichen. Das Mittel dafür ist einfach, leicht, sicher, unfehlbar. Meine Erläuterung wird es Ihnen auseinandersetzen.«

Lautes Beifallsgeschrei und ein Sturm von Zurufen erfolgte. Es war auch nicht ein einziger unter den Anwesenden, der nicht, von den Worten des Redners überwältigt, hingerissen wurde.

»Hört! Hört! Stille doch!«, rief man von allen Seiten.

Als es wieder ruhig geworden war, fuhr Barbicane mit ernsterer Stimme fort:

»Sie wissen, welche Fortschritte die Ballistik seit einigen Jahren gemacht hat und zu welch hohem Grade der Vollkommenheit diese Waffen gelangt wären, wenn der Krieg fortgedauert hätte. Ebenso ist es Ihnen im Allgemeinen nicht unbekannt, dass die Widerstandskraft der Kanonen und die Triebkraft des Pulvers grenzenlos sind. Nun, von diesem Grundgedanken ausgehend habe ich mir die Frage gestellt, ob es nicht mithilfe hinreichender Vorrichtungen innerhalb bestimmter Widerstandsbedingungen möglich wäre, ein Geschoss bis zum Mond zu schießen!«

Bei diesen Worten entfuhr ein staunendes »Oh!« aus den kaum zu atmen wagenden Brüsten von tausenden. Dann nach einer kleinen Pause, gleich der Stille, welche dem Donner vorausgeht, entlud sich ein gewitterartiger Beifallssturm von Schreien und Rufen, dass der Sitzungssaal davon erbebte. Der Präsident versuchte zu sprechen, vergebens. Erst nach zehn Minuten konnte er erneut zu Wort kommen.

»Lassen Sie mich ausreden«, fuhr er unbeeindruckt fort. »Ich habe die Frage von allen Seiten beleuchtet, bin sie entschlossen angegangen, und aus meinen unbestreitbaren Berechnungen ergibt sich, dass jedes Geschoss, das mit einer anfänglichen Geschwindigkeit von 12.000 Yards[4] in der Sekunde in Richtung Mond abgeschleudert wird, zwangsläufig dort anlangen muss. Ich habe daher die Ehre, meine ehrenwerten Kollegen, Ihnen dieses kleine Experiment vorzuschlagen!«

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