Das Geld

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Из серии: Die Rougon-Macquart #18
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Das Geld
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Emile Zola

Das Geld

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Erstes Kapitel

An der Börse hatte es elf Uhr geschlagen, als Saccard bei Champeaux den weißgoldenen Saal betrat, dessen zwei hohe Fenster auf den Platz hinausgingen. Mit einem Blick überflog er die Reihen kleiner Tische, an denen dichtgedrängt die geschäftigen Gäste saßen, und er schien überrascht, das Gesicht, das er suchte, nicht zu finden.

Als im Gedränge des Servierens ein mit Platten und Schüsseln beladener Kellner vorüberkam, fragte er ihn:

»Sagen Sie mal, Herr Huret ist noch nicht da?«

»Nein, mein Herr, noch nicht.«

Kurz entschlossen setzte sich Saccard in eine Fensternische an einen Tisch, von dem gerade ein Gast aufstand. Er glaubte, sich verspätet zu haben, und während man das Tischtuch wechselte, schweiften seine Blicke nach draußen und spähten nach den Passanten auf dem Bürgersteig aus. Selbst als ein neues Gedeck aufgelegt war, bestellte er nicht sofort, sondern ließ seinen Blick auf dem Platz ruhen, der heiter im hellen Licht der ersten Maitage lag. Zu dieser Stunde, da die Leute ihr Mittagessen einnahmen, war er fast leer. Unter den Kastanienbäumen mit ihrem zarten, frischen Grün waren die Bänke unbesetzt; längs dem Gitter standen in einer langen Reihe Droschken an der Haltestelle, und der Omnibus von der Bastille hielt vor dem Büro an der Ecke des Gartens, ohne daß Fahrgäste ein- oder ausstiegen. Die Sonne prallte herab, das Gebäude mit seinem Säulengang, seinen beiden Statuen, seiner breiten Freitreppe, oberhalb deren noch nichts weiter zu sehen war als die Armee der wohlgeordneten Stühle, wurde von ihrem Schein überflutet.

Aber als sich Saccard umdrehte, erkannte er Mazaud, den Wechselmakler1, am Nebentisch. Er streckte ihm die Hand hin.

»Ach, Sie sind hier? Guten Tag!«

»Guten Tag!« erwiderte Mazaud und reichte ihm zerstreut die Hand.

Dieser kleine, brünette, sehr lebhafte hübsche Mann hatte vor kurzem das Maklerbüro eines Onkels geerbt, mit zweiunddreißig Jahren. Er schien sich ganz dem Gast zu widmen, der ihm gegenübersaß, ein beleibter Herr mit rotem, glattrasiertem Gesicht: der berühmte Amadieu, den die Börse seit seinem großartigen Coup mit den Selsis-Gruben verehrte. Als die Aktien auf fünfzehn Francs gefallen waren und man jeden Käufer für verrückt erklärte, hatte er sein ganzes Vermögen in dieses Geschäft gesteckt, zweihunderttausend Francs, aufs Geratewohl, ohne Berechnung und Gespür, mit der Starrköpfigkeit eines sturen Klotzes, der sein Glück herausfordert Heute, da die Entdeckung beträchtlicher fündiger Adern den Kurs der Aktien auf über tausend Francs hatte steigen lassen, verdiente er dabei rund fünfzehn Millionen, und seine irrsinnige Spekulation, für die man ihn früher hätte einsperren lassen müssen, erhob ihn jetzt in die Reihe der großen Köpfe der Finanz. Jeder grüßte ihn und fragte ihn vor allem um Rat. Übrigens erteilte er, als sei er gesättigt, keine Orders2 mehr und sonnte sich hinfort in seinem einzigartigen, legendären Geniestreich. Mazauds Traum war es wohl, ihn als Kunden zu gewinnen.

Saccard, der von Amadieu nicht einmal ein Lächeln erhaschen konnte, grüßte zum Tisch gegenüber, an dem drei Spekulanten aus seinem Bekanntenkreis beisammensaßen, Pillerault, Moser und Salmon.

»Guten Tag! Wie gehtʼs?«

»Danke, nicht schlecht ... Guten Tag!«

Auch bei diesen spürte er Kälte, ja fast Feindseligkeit. Dabei zeigte Pillerault, sehr groß, sehr mager, heftig gestikulierend und mit einer Nase, die wie eine Säbelklinge in dem knochigen Gesicht eines fahrenden Ritters aussah, für gewöhnlich die Vertraulichkeit eines Spekulanten, der die Wagehalsigkeit zum Prinzip erhob und erklärte, daß er jedesmal in Katastrophen purzele, wenn er sich die Mühe gibt nachzudenken. Er hatte das überschwengliche Wesen eines Haussiers3, war immer auf Sieg eingestellt, während Moser mit seiner untersetzten Statur, mit seiner von einer Leberkrankheit verwüsteten gelben Gesichtsfarbe unaufhörlich jammerte, in der ständigen Angst vor einem Zusammenbruch. Was Salmon anbetraf, ein sehr gut aussehender Mann, der gegen die Fünfzig ankämpfte und mit einem prächtigen pechschwarzen Bart prunkte, so galt er als ein ungemein tüchtiger Kerl. Er sprach nie, antwortete nur mit einem Lächeln; man wußte nie, worauf er spekulierte, nicht einmal ob er spekulierte, und seine Art zuzuhören beeindruckte Moser dermaßen, daß dieser oft, nachdem er Salmon eine vertrauliche Mitteilung gemacht hatte, durch sein Schweigen so aus der Fassung geriet, daß er davonlief, um eine Order zu ändern.

Angesichts dieser Gleichgültigkeit, die man gegen ihn an den Tag legte, bekam Saccard einen fiebrigen, herausfordernden Blick, den er durch den ganzen Saal schweifen ließ. Doch er tauschte nur noch ein Kopfnicken mit einem großen jungen Mann, der drei Tische weiter saß: der schöne Sabatani, ein Levantiner mit langem, dunklem Gesicht, das wundervolle schwarze Augen erhellten, aber von einem bösen, beunruhigenden Mund entstellt wurde. Die Liebenswürdigkeit dieses Burschen brachte Saccard vollends auf: irgendein von einer ausländischen Börse Ausgeschlossener, einer dieser geheimnisvollen Frauenlieblinge, der im letzten Herbst auf den Markt geschneit war, den er schon als Strohmann bei einem Bankkrach am Werk gesehen hatte und der sich durch große Korrektheit und unermüdliches Wohlwollen, selbst den Verrufensten gegenüber, nach und nach das Vertrauen der Corbeille4 und der Kulisse5 erwarb.

Ein Kellner blieb vor Saccard stehen.

»Der Herr wünschen?«

»Ach ja ... Was Sie wollen, ein Kotelett mit Spargel.«

Dann rief er den Kellner zurück.

»Sind Sie sicher, daß Herr Huret nicht vor mir gekommen und wieder gegangen ist?«

»Oh, ganz sicher!«

So stand es nun mit ihm nach dem Zusammenbruch, der ihn im Oktober wieder einmal gezwungen hatte, seine Geschäfte zu liquidieren, sein Haus am Parc Monceau zu verkaufen und eine Wohnung zu mieten: nur Leute wie Sabatani grüßten ihn noch; bei seinem Eintritt in ein Restaurant, in dem er den Ton angegeben hatte, drehte sich nicht mehr alle Welt nach ihm um, streckten sich nicht mehr alle Hände ihm entgegen. Er war ein richtiger Spieler, er hegte keinen Groll nach diesem letzten skandalösen und unheilvollen Grundstücksgeschäft, aus dem er kaum mehr als die eigene Haut gerettet hatte. Aber ein fieberhaftes Verlangen, Revanche zu nehmen, entbrannte in ihm; Huret hatte ausdrücklich versprochen, gegen elf Uhr hier zu sein, um ihn über die Ergebnisse seiner Bemühungen bei Rougon zu unterrichten, dem damals allmächtigen Minister, und daß Huret nicht da war, brachte Saccard vor allem gegen seinen Bruder Rougon auf. Huret, der gehorsame Abgeordnete, die Kreatur des großen Mannes, war bloß ein Laufbursche. Nur, war es denn möglich, daß Rougon, der alles vermochte, ihn so im Stich ließ? Nie hatte er sich als guter Bruder erwiesen. Daß er nach der Katastrophe verärgert war, daß er offen mit ihm gebrochen hatte, um nicht selber bloßgestellt zu werden, war begreiflich; aber hätte er ihm nicht seit sechs Monaten heimlich zu Hilfe kommen müssen? Und jetzt sollte er die Stirn haben, ihm nicht kräftig unter die Arme zu greifen, wenn er ihn durch einen Dritten darum bitten ließ? Er wagte ja schon nicht, ihn persönlich aufzusuchen, weil er einen Zornesausbruch befürchtete, zu dem er sich möglicherweise hinreißen ließe. Rougon brauchte nur ein Wort zu sagen, dann käme er wieder auf die Beine und könnte diesem feigen, großen Paris von neuem den Fuß auf den Nacken setzen.

»Welchen Wein wünschen der Herr?« fragte der Weinkellner.

»Ihren einfachen Bordeaux.«

Saccard war in Gedanken versunken; er hatte keinen Appetit und ließ sein Kotelett kalt werden. Als er einen Schatten über das Tischtuch gleiten sah, hob er die Augen. Das war Massias, ein dicker, rotgesichtiger Kerl, ein Remisier6, den er als armen Mann gekannt hatte und der sich jetzt, mit seinem Kurszettel in der Hand, zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Es traf Saccard schwer, daß Massias nicht stehenblieb, sondern an ihm vorbeiging, um den Kurszettel Moser und Pillerault zu reichen. Zerstreut und in ein angeregtes Gespräch verwickelt, warfen diese kaum einen Blick darauf: nein, sie hätten keine Orders zu erteilen, ein andermal. Massias wagte nicht, den berühmten Amadieu anzugehen, der, über einen Hummersalat gebeugt, leise mit Mazaud plauderte, und trat an Salmon heran, der den Kurszettel nahm, ihn lange studierte und dann wortlos zurückgab. Der Saal belebte sich. Alle Augenblicke gingen die Türen auf, und andere Remisiers kamen herein. Laute Worte flogen zwischen den Tischen hin und her, eine richtige Spekulationswut kam auf, je mehr die Zeit vorrückte. Und Saccard, dessen Blicke unaufhörlich nach draußen schweiften, sah, wie sich auch der Platz nach und nach füllte, wie die Wagen und die Fußgänger herbeiströmten, während sich auf den Stufen zur Börse, die im Sonnenlicht gleißten, schon einzelne schwarze Flecken zeigten, die Männer der Börse.

 

»Ich sage es Ihnen noch einmal«, sagte Moser mit seiner weinerlichen Stimme, »daß diese Nachwahlen vom 20. März7 ein höchst beunruhigendes Symptom sind ... Schließlich ist heute ganz Paris der Opposition ergeben.«

Aber Pillerault zuckte mit den Schultern. Carnot8 und Garnier-Pagès9 auf den Bänken der Linken, was konnte das schon ausmachen?

»Das ist wie mit der Frage der Herzogtümer10«, fing Moser wieder an, »das kann eine Menge Verwicklungen geben ... Ganz bestimmt! Aber lachen Sie ruhig. Ich sage ja nicht, daß wir Preußen hätten den Krieg erklären müssen, um es daran zu hindern, sich auf Kosten Dänemarks zu mästen; allein es gab Mittel und Wege zu handeln ... Ja, ja, wenn die Großen erst anfangen, die Kleinen aufzufressen, weiß man nie, wo das aufhört ... Und was Mexiko betrifft ..11.«

Pillerault, der einen seiner restlos zufriedenen Tage hatte, brach in Lachen aus.

»Ach nein, mein Lieber! Hören Sie doch auf, uns mit Ihren Schauergeschichten über Mexiko zu langweilen ... Mexiko wird einmal das Ruhmesblatt dieser Regierung sein ... Woher, zum Teufel, wollen Sie wissen, daß das Kaiserreich12 krank ist? Wurde nicht im Januar die Dreihundertmillionenanleihe um mehr als das Fünfzehnfache überzeichnet? Ein überwältigender Erfolg ... Passen Sie auf, wir sprechen uns 67 wieder, in drei Jahren, wenn die Weltausstellung13 eröffnet wird, die der Kaiser14 soeben beschlossen hat.«

»Ich sage Ihnen, die Dinge stehen schlecht!« bekräftigte Moser verzweifelt.

»Ach, lassen Sie uns in Frieden, die Dinge stehen gut!«

Salmon sah die beiden an und lächelte tiefgründig. Und Saccard, der ihnen zugehört hatte, führte die Krise, in die das Kaiserreich zu geraten schien, auf die Schwierigkeiten seiner persönlichen Lage zurück. Er selbst war wieder einmal am Boden: sollte dieses Kaiserreich, das ihn hervorgebracht hatte, pleite gehen wie er und plötzlich vom höchsten Glück ins tiefste Elend stürzen? Ach, zwölf Jahre lang hatte er es geliebt und verteidigt, dieses Regime, unter dem er gespürt hatte, wie er auflebte, wie er gedieh, sich mit Saft füllte wie der Baum, dessen Wurzeln sich in das nährende Erdreich senken! Aber wenn sein Bruder ihn da herausreißen wollte, wenn er ihn abschneiden wollte von denen, die den fetten Boden der Genüsse aussaugten, dann sollte auch alles hinweggerafft werden in dem großen letzten Zusammenbruch der nächtlichen Feste!

Jetzt wartete er auf seinen Spargel, in Erinnerungen versunken, weit weg von diesem Saal, in dem das hektische Treiben unaufhörlich zunahm. In einem breiten Spiegel gegenüber hatte er sein Bild erblickt und war überrascht. Das Alter nagte noch längst nicht an seiner kleinen Person, mit seinen fünfzig Jahren schien er kaum erst achtunddreißig und war noch genauso mager und lebhaft wie als junger Mann. Mit den Jahren hatte sein dunkles, eingefallenes Kasperpuppengesicht mit der spitzen Nase und den kleinen leuchtenden Augen sogar gewonnen, hatte den Reiz dieser andauernden, so geschmeidigen und unternehmungslustigen Jugend angenommen; in seinem buschigen Haar schimmerte noch kein weißes Härchen. Und er konnte nicht umhin, sich seiner Ankunft in Paris am Tage nach dem Staatsstreich15 zu entsinnen, als er an einem Winterabend mit leeren Taschen und ausgehungert auf dem Pflaster lag und einen wahren Anfall von Begierden zu befriedigen hatte. Ach, dieser erste Streifzug durch die Straßen! Noch ehe er seine Koffer ausgepackt, hatte er das Verlangen verspürt, sich mit seinen schiefgelaufenen Stiefeln und seinem speckigen Überzieher in die Stadt zu stürzen, um sie zu erobern! Seit diesem Abend war er oft sehr hoch gestiegen, ein Strom von Millionen war durch seine Hände geflossen, ohne daß ihm jemals das Glück wie ein Sklave gehört hatte, wie ein Ding, über das man verfügt, das man unter Verschluß hält, lebendig und greifbar. Immer hatten die Lüge, der Schein seine Kassen bewohnt, die sich durch unsichtbare Löcher ihres Goldes zu entleeren schienen. Nun lag er wieder auf der Straße wie in der fernen Zeit des Aufbruchs, ebenso jung, ebenso ausgehungert, immer noch unbefriedigt und gequält von dem gleichen Verlangen nach Genüssen und Eroberungen. Er hatte von allem gekostet, und er hatte sich nicht satt gegessen, da er, wie er glaubte, weder Gelegenheit noch Zeit gehabt hatte, tief genug in die Menschen und in die Dinge hineinzubeißen. In dieser Stunde empfand er das ganze Elend, wieder auf der Straße zu liegen und weniger zu sein als ein Anfänger, den wenigstens die Illusion und die Hoffnung aufrecht gehalten hätten. Und ein fieberhaftes Verlangen packte ihn, alles von vorn anzufangen, um alles zurückzuerobern, höher zu steigen, als er je gestiegen war, endlich der eroberten Stadt den Fuß auf den Nacken zu setzen. Nicht mehr den lügnerischen Reichtum der Fassade wollte er, sondern das dauerhafte Gebäude des Vermögens, das wahre Königtum des Goldes, das auf vollen Säcken thront!

Mosers kreischende hohe Stimme, die sich erneut vernehmen ließ, lenkte Saccard einen Augenblick von seinen Überlegungen ab.

»Die mexikanische Expedition16 kostet im Monat vierzehn Millionen, Thiers17 hat es nachgewiesen ... Und man muß wirklich blind sein, um nicht zu sehen, daß in der Kammer die Mehrheit ins Wanken gebracht worden ist. Auf der Linken sitzen jetzt schon mehr als dreißig. Der Kaiser selber begreift sehr wohl, daß die absolute Macht unmöglich wird, denn er macht sich ja zum Verkünder der Freiheit.«

Pillerault antwortete nicht mehr und begnügte sich mit einem verächtlichen Grinsen.

»Ja, ja, ich weiß, die Marktlage scheint Ihnen stabil, die Geschäfte gehen. Aber warten Sie nur das Ende ab ... Sehen Sie mal, in Paris hat man zu viel abgerissen und zu viel wieder aufgebaut! Die großen Bauten haben die Ersparnisse aufgebraucht. Und was die mächtigen Kreditinstitute betrifft, die Ihnen so blühend vorkommen, so warten Sie ab, bis eines von ihnen zusammenkracht – dann werden Sie sehen, wie alle anderen hinterherpurzeln ... Ganz davon zu schweigen, daß das Volk aufbegehrt. Diese Internationale Arbeiterassoziation18, die man jetzt gegründet hat, um die Lage der Arbeiter zu verbessern, erschreckt mich persönlich sehr. Es gibt in Frankreich eine Protestbewegung, eine revolutionäre Stimmung, die von Tag zu Tag zunimmt ... Ich sage Ihnen, da ist der Wurm drin. Alles wird zum Teufel gehen.«

Alle protestierten laut und heftig. Dieser verdammte Moser hatte es ohne Frage wieder mit der Leber. Aber Moser selbst blickte beim Sprechen unverwandt zum Nebentisch, an dem Mazaud und Amadieu in dem ringsum herrschenden Lärm ganz leise weiter plauderten. Allmählich geriet der ganze Saal über diese lang andauernden vertraulichen Gespräche in Unruhe. Was hatten sie sich bloß zu sagen, daß sie so flüsterten? Zweifellos erteilte Amadieu Orders und bereitete einen Coup vor. Seit drei Tagen gingen böse Gerüchte über die Arbeiten am Suezkanal19 um. Moser blinzelte mit den Augen und senkte ebenfalls die Stimme.

»Sie wissen doch, die Engländer wollen verhindern, daß man dort unten arbeitet. Das könnte leicht Krieg bedeuten.«

Diesmal war Pillerault durch die Ungeheuerlichkeit der Nachricht selber erschüttert. Das war ja unglaublich, und sogleich flog das Wort von Tisch zu Tisch und erlangte die Kraft einer Gewißheit: England habe ein Ultimatum gestellt und die sofortige Einstellung der Arbeiten am Suezkanal gefordert. Amadieu sprach mit Mazaud offensichtlich nur darüber und erteilte ihm die Order, alle seine Suez-Aktien zu verkaufen. Panisches Stimmengemurmel erfüllte die mit Fettgerüchen geschwängerte Luft inmitten des anschwellenden Tellergeklappers. Die Aufregung erreichte ihren Höhepunkt, als plötzlich ein Gehilfe des Wechselmaklers hereinkam, der kleine Flory, ein Bursche mit zartem Gesicht, das unter einem dichten kastanienbraunen Bart verschwand. Er stürzte zum Chef, übergab ihm einen Packen Zettel, die er in der Hand hatte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Schön!« antwortete Mazaud nur und ordnete die Zettel in sein Handbuch ein.

Dann zog er seine Uhr.

»Gleich zwölf! Sagen Sie Berthier, daß er auf mich warten soll. Und seien Sie selbst da, gehen Sie hoch und holen Sie die Depeschen.«

Als Flory gegangen war, nahm Mazaud sein Gespräch mit Amadieu wieder auf, zog weitere Zettel aus seiner Tasche und legte sie neben seinen Teller auf das Tischtuch; alle Augenblicke beugte sich ein Kunde im Vorbeigehen zu ihm nieder und sagte ihm ein Wort, das er schnell zwischen zwei Bissen auf einen der Zettel schrieb. Die Falschmeldung, die weiß Gott woher gekommen, aus dem Nichts entstanden war, schwoll an wie eine Gewitterwolke.

»Sie verkaufen, nicht wahr?« fragte Moser Salmon.

Aber dessen stummes Lächeln war so vielsagend verschmitzt, daß Moser ängstlich blieb und jetzt an diesem englischen Ultimatum zweifelte, von dem er nicht einmal wußte, daß er selber es erfunden hatte.

»Ich kaufe soviel, wie man will«, schloß Pillerault mit der eitlen Tollkühnheit eines Spekulanten, der keine Methode hat.

Die Schläfen erhitzt vom Rausch des Börsenspiels, das dieser lärmende Abschluß des Mittagessens in dem engen Saal aufpeitschte, hatte sich Saccard entschlossen, seinen Spargel zu essen, während er sich erneut über Huret aufregte, mit dem er nicht mehr rechnete. Schon wochenlang zögerte er, der sonst so entschlußfreudig war, hin und her gerissen von der Ungewißheit. Er verspürte zwar die gebieterische Notwendigkeit, von vom anzufangen, und er hatte zunächst von einem ganz neuen Leben geträumt, in der Verwaltungsspitze oder in der Politik. Warum sollte ihn das Corps législatif20 nicht in den Ministerrat bringen, wie seinen Bruder? Was ihm an der Spekulation mißfiel, war die fortwährende Unbeständigkeit, die hohen Summen, die so schnell verloren wie gewonnen waren: nie hatte er sich, ohne jemand etwas zu schulden, auf einer wirklichen Million ausruhen können. Und in dieser Stunde, da er sein Gewissen erforschte, sagte er sich, daß er vielleicht zu leidenschaftlich sei für diese Schlacht des Geldes, die soviel Kaltblütigkeit erforderte. Das mußte es sein, weshalb er nach einem so außergewöhnlichen Leben des Luxus und der Geldverlegenheit mit leeren Händen dastand, ausgebrannt von diesen zehn Jahren fürchterlicher Grundstücksschachereien im neuen Paris, bei denen so viele andere, die schwerfälliger waren als er, Riesenvermögen zusammengescharrt hatten. Ja, vielleicht hatte er sich über seine wirklichen Fähigkeiten getäuscht, vielleicht würde er bei seiner Unternehmungslust und seinem glühenden Glauben auf der politischen Bühne mit einem Schlag triumphieren. Alles würde von der Antwort seines Bruders abhängen. Wenn der ihn abwies, ihn in den Schlund der Spekulation zurückstieß, dann sollten er und die anderen ihn kennenlernen, dann würde er den großen Coup wagen, über den er noch mit niemandem gesprochen hatte, das Riesengeschäft, von dem er seit Wochen träumte und das ihn selber erschreckte, so groß war es und dazu angetan, die Welt in Aufruhr zu versetzen, ob es nun gelang oder nicht.

Pillerault hatte die Stimme erhoben.

»Mazaud, ist Schlossers Ausschluß von der Börse nun perfekt?«

»Ja«, antwortete der Wechselmakler, »heute wird es angeschlagen ... Was wollen Sie? Das ist immer ärgerlich, aber ich hatte sehr beunruhigende Auskünfte erhalten, und dabei habe ich Schlosser als erster diskontiert. Von Zeit zu Zeit muß eben reiner Tisch gemacht werden.«

»Man hat mir versichert«, sagte Moser, »daß Ihre Kollegen Jacoby und Delarocque mit runden Summen dabei waren.«

Der Makler vollführte eine unbestimmte Gebärde.

»Ach was! Etwas wird immer verheizt ... Dieser Schlosser hat wohl zu einer Bande gehört; jetzt ist er frei und kann in Berlin oder in Wien die Börsen absahnen.«

Saccard hatte die Augen auf Sabatani gerichtet, dessen geheime Verbindung mit Schlosser ihm ein Zufall offenbart hatte: die beiden spielten das bekannte Spiel, der eine spekulierte auf die Hausse21, der andere auf die Baisse22 ein und desselben Wertpapiers; der Verlierer wurde am Gewinn des anderen beteiligt und hatte dann nur zu verschwinden. Aber der junge Mann bezahlte ruhig die Rechnung für das erlesene Mittagsmahl, das er eingenommen hatte. Dann ging er mit der einschmeichelnden Anmut eines Orientalen mit italienischem Einschlag zu Mazaud, dessen Kunde er war, und drückte ihm die Hand. Er beugte sich herab und erteilte eine Order, die jener auf einen Zettel schrieb.

 

»Er verkauft seine Suez-Aktien«, murmelte Moser.

Und krank vor Zweifel, fragte er ganz laut, einem Bedürfnis nachgebend:

»Was denken Sie denn über Suez?«

Schweigen trat ein in dem Stimmengewirr, alle Köpfe an den Nebentischen wandten sich um. Diese Frage faßte die wachsende Unruhe und Besorgnis zusammen. Aber der Rücken Amadieus, der Mazaud nur eingeladen hatte, um ihm einen seiner Neffen zu empfehlen, blieb undurchdringlich und hatte nichts zu sagen, während der Makler, den die Verkaufsorders, die er erhielt, langsam in Staunen versetzten, nur den Kopf schüttelte, von Berufs wegen an Diskretion gewöhnt.

»Suez steht ausgezeichnet!« erklärte in seinem singenden Tonfall Sabatani, der noch einen Umweg machte und Saccard zuvorkommend die Hand drückte, bevor er ging.

Und Saccard fühlte noch einen Augenblick diesen weichen, zerfließenden, fast weibischen Händedruck. In seinem Schwanken, welchen Weg er einschlagen sollte, wie sein Leben neu aufzubauen war, schimpfte er alle Anwesenden einen Haufen Spitzbuben. Ach, wenn man ihn dazu zwänge, wie würde er sie hetzen, wie würde er sie rupfen, die zittrigen Mosers, die großmäuligen Pilleraults, diese Salmons, die hohler als Kürbisse waren, und diese Amadieus, deren ganzes Genie im Erfolg bestand! Das Teller- und Gläsergeklapper hatte wieder eingesetzt, die Stimmen wurden heiser, die Türen wurden heftiger zugeschlagen in der Eile, die alle verzehrte, weil sie dabeisein wollten, wenn es einen Börsenkrach wegen des Suezkanals geben sollte. Und durch das Fenster sah Saccard mitten auf dem Platz, den Droschken durchfurchten und Fußgänger verstopften, die sonnenbeschienenen Stufen der Börse, die nun wie übersät von einem unaufhörlichen Strom menschlicher Insekten waren, korrekt in Schwarz gekleideten Herren, die nach und nach den Säulengang füllten, während hinter den Gittern verschwommen ein paar Frauen auftauchten, die unter den Kastanienbäumen herumlungerten.

Plötzlich ließ ihn in dem Augenblick, da er den Käse anschnitt, den er bestellt hatte, eine rauhe Stimme den Kopf heben.

»Ich bitte Sie um Entschuldigung, mein Lieber, ich konnte wirklich nicht eher kommen.«

Da war endlich Huret, ein Normanne aus dem Calvados23, ein schwerfälliger großer Kerl, der den Eindruck eines gerissenen Bauern machte, der den einfachen Mann spielt. Sogleich ließ er sich irgend etwas bringen, das Tagesgericht und dazu eine Gemüsebeilage.

»Na, was ist?« fragte Saccard, der sich zusammennahm, trocken.

Aber der andere beeilte sich nicht, betrachtete ihn als schlauer und vorsichtiger Mann. Als er dann zu essen begann, schob er den Kopf vor und senkte die Stimme.

»Also, ich bin bei dem großen Mann gewesen ... ja, bei ihm zu Hause, heute früh ... Oh, er meint es sehr gut, sehr gut mit Ihnen.«

Er hielt inne, trank ein großes Glas Wein und stopfte sich wieder eine Kartoffel in den Mund.

»Na und?«

»Ja, mein Lieber, die Sache ist die ... Er will für Sie gern alles tun, was er kann, er wird für Sie eine sehr hübsche Stellung finden, aber nicht in Frankreich ... Zum Beispiel den Gouverneursposten in einer unserer Kolonien, in einer von den guten. Da wären Sie wirklich Ihr eigener Herr, ein richtiger kleiner Fürst.«

Saccard war leichenblaß geworden.

»Sagen Sie mal, das soll wohl ein Scherz sein? Sie machen sich wohl lustig über mich? Warum nicht gleich in die Verbannung? ... Er will mich also loswerden. Soll er sich bloß hüten, daß ich ihm am Ende nicht ernstlich Schwierigkeiten mache!«

Huret suchte ihn mit vollem Mund zu beschwichtigen.

»Aber, aber, man will doch bloß Ihr Bestes, lassen Sie uns nur machen.«

»Mich ausschalten lassen, nicht wahr? Hören Sie mal! Vorhin war hier die Rede davon, daß das Kaiserreich bald keinen Fehler mehr ausgelassen hat. Ja, der Krieg in Italien24, Mexiko, die Haltung gegenüber Preußen25. Ehrenwort, das ist die Wahrheit! ... Ihr werdet noch so viele Dummheiten und Verrücktheiten anstellen, daß sich ganz Frankreich erhebt, um euch rauszuschmeißen.«

Da wurde der Abgeordnete, die getreue Kreatur des Ministers, ganz bleich und schaute unruhig um sich.

»Aber erlauben Sie mal, erlauben Sie, da kann ich Ihnen nicht folgen ... Rougon ist ein ehrenwerter Mann, es gibt keine Gefahr, solange er dabei ist ... Nein, reden Sie nicht weiter, Sie verkennen ihn, das muß ich Ihnen sagen.«

Saccard unterbrach ihn heftig und stieß zwischen den Zähnen hervor:

»Also gut, lieben Sie ihn, kochen Sie Ihr Süppchen zusammen ... Ja oder nein: will er mich hier in Paris unterstützen?«

»In Paris, niemals!«

Ohne ein weiteres Wort erhob sich Saccard und rief den Kellner, um zu bezahlen, während Huret, der seine Zornesausbrüche kannte, in aller Ruhe weiter große Bissen Brot hinunterschlang und ihn aus Furcht vor einem Skandal gehen ließ. Aber in diesem Augenblick entstand im Saal eine große Aufregung.

Gundermann war hereingekommen, der Bankkönig, der Herr der Börse und der Welt, ein Mann von sechzig Jahren, dessen riesiger Kahlkopf mit der dicken Nase und den hervortretenden runden Augen ungeheuren Starrsinn und große Müdigkeit ausdrückte. Nie ging er zur Börse, tat sogar so, als schickte er nicht einmal einen offiziellen Vertreter dorthin; auch speiste er nie in einem öffentlichen Lokal zu Mittag. Nur hin und wieder geschah es, wie an diesem Tag, daß er sich im Restaurant Champeaux zeigte, wo er sich an einen Tisch setzte, um sich nichts weiter als ein Glas Vichy-Wasser auf einem Teller servieren zu lassen. Da er seit zwanzig Jahren an einer Magenkrankheit litt, ernährte er sich ausschließlich von Milch.

Sofort war das ganze Personal in Aufruhr, alle rannten, um das Glas Wasser zu bringen, und alle anwesenden Gäste lagen vor ihm auf dem Bauch. Moser betrachtete demütig diesen Menschen, der die Geheimnisse kannte, der nach seinem Gutdünken Hausse oder Baisse machte wie der liebe Gott Donner und Blitz. Selbst Pillerault grüßte ihn, da er nur auf die unwiderstehliche Kraft der Milliarde vertraute. Es war halb eins; Mazaud ließ Amadieu kurzerhand stehen und verbeugte sich vor dem Bankier, von dem er manchmal mit einer Order beehrt wurde. Viele Börsenbesucher, die gerade gehen wollten, blieben stehen, umringten den Gott, machten ihm inmitten der Unordnung beschmutzter Tischtücher mit achtungsvoll gekrümmtem Rücken den Hof und sahen ihm ehrfürchtig zu, wie er mit zitternder Hand das Glas Wasser nahm und an die farblosen Lippen führte.

Vor einiger Zeit, bei den Spekulationen um die Grundstücke in der Ebene von Monceau, hatte es zwischen Saccard und Gundermann Auseinandersetzungen, ja sogar ein richtiges Zerwürfnis gegeben. Sie harmonierten nicht miteinander, der eine war leidenschaftlich und ein Genußmensch, der andere nüchtern und von kalter Logik. Daher wollte Saccard, wutentbrannt und zudem erbittert über diesen triumphalen Auftritt, gehen, als ihn der andere ansprach.

»Sagen Sie mal, mein Bester, ist das wahr? Sie ziehen sich von den Geschäften zurück? Glauben Sie mir, Sie tun gut daran, es ist besser so.«

Das war für Saccard ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Er streckte seine kleine Gestalt und versetzte klar und messerscharf:

»Ich gründe eine Kreditbank mit einem Stammkapital von fünfundzwanzig Millionen; ich gedenke, Sie bald zu besuchen.«

Und er ging hinaus, ließ die hitzige Atmosphäre des Saales hinter sich, in dem einer den anderen anrempelte, um nicht die Eröffnung der Börse zu versäumen. Ach, endlich Erfolg haben! Wieder all diesen Leuten, die ihm den Rücken kehrten, den Fuß auf den Nacken setzen, mit diesem König des Goldes wie mit seinesgleichen kämpfen und ihn vielleicht eines Tages zu Boden strecken! Er war noch keineswegs entschlossen, sein großes Geschäft zu wagen, und selber überrascht über diesen Satz, den ihm das Verlangen zu antworten entlockt hatte. Aber konnte er das Glück anderswo versuchen, jetzt, da sein Bruder ihn im Stich ließ, die Dinge und die Menschen ihn verletzten, um ihn wieder in den Kampf zu werfen, wie man den blutenden Stier in die Arena zurückführt?

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