Der Traum

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Из серии: Die Rougon-Macquart #16
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Der Traum
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Émile Zola

Der Traum

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Impressum

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(c) mehrbuch

Kapitel I

Während des strengen Winters 1860 fror die Oise zu, dicker Schnee bedeckte die Ebenen der unteren Picardie1; und dazu kam vor allem ein heftiger Wind aus Nordosten, der Beaumont am Weihnachtstag fast im Schnee begrub. Der Schneefall, der gleich am Morgen eingesetzt hatte, wurde gegen Abend noch stärker, und während der ganzen Nacht türmten sich die Schneemassen. In der Oberstadt, in der Rue des Orfèvres, an deren Ende die Nordfront des Querschiffes der Kathedrale gleichsam eingekeilt ist, stob der Schnee, getrieben vom Wind, und schlug an das SanktAgnesTor, das uralte romanische, beinahe schon gotische Tor, das unter dem kahlen Giebel mit Skulpturen reich verziert war. Am nächsten Morgen lag er dort bei Tagesanbruch fast drei Fuß hoch.

Die Straße schlief noch, träge von dem Feiern am Heiligen Abend. Es schlug sechs Uhr. In der Dunkelheit, die beim langsamen und beharrlichen Flockenfall bläulich wirkte, lebte nur eine undeutliche Gestalt, ein kleines neunjähriges Mädchen, das unter die Bogenrundungen des Tores geflüchtet war, dort, vor Kälte zitternd, die Nacht zugebracht und, so gut es ging, vor Wetter und Wind Schutz gesucht hatte. Die Kleine war in Lumpen gehüllt, der Kopf mit einem Stoffetzen umwickelt, die nackten Füße steckten in groben Männerschuhen. Zweifellos war sie dort erst gestrandet, nachdem sie lange die Stadt durchstreift hatte, denn sie war hier vor Müdigkeit hingesunken. Für sie war dies das Ende der Welt, niemand und nichts mehr, äußerste Verlassenheit, nagender Hunger, mörderische Kälte; und in ihrer Schwäche von der schweren Last ihres Herzens erstickt, gab sie den Kampf auf, es blieb nur dieses rein körperliche mechanische Zurückweichen, der Instinkt, hin und her zu rücken, sich in diese alten Steine zu verkriechen, wenn ein Windstoß den Schnee aufwirbelte.

Stunden um Stunden verrannen. Lange hatte sie sich an den Mittelpfeiler zwischen den beiden ganz gleichen Toröffnungen gelehnt, der eine Statue der heiligen Agnes2 trug, der dreizehnjährigen Märtyrerin, eines kleines Mädchens wie sie selbst, mit dem Palmenzweig in der Hand und einem Lamm zu seinen Füßen. Und im Giebelfeld über dem Torbogen entrollte sich als Hochrelief in naiver Gläubigkeit die ganze Legende der Jesus angelobten, kindlichen Jungfrau: wie ihre Haare länger wurden und sie umhüllten, als der Statthalter, dessen Sohn sie zurückwies, sie nackt in die verrufenen Häuser schickte; wie die Flammen des Scheiterhaufens ihren Gliedern auswichen und die Henker verbrannten, sobald sie das Holz anzündeten; die Wunder ihrer Gebeine, wie Constantia, des Kaisers Tochter, vom Aussatz geheilt wird, und die Wunder, die ihr Bildnis gewirkt, wie der Priester Paulinus, gequält vom Verlangen, ein Weib zu nehmen, auf den Rat des Papstes den mit einem Smaragd geschmückten Ring dem Bildnis hinhielt, das den Finger ausstreckte und ihn dann wieder zurückzog, den Ring behaltend, den man da noch sieht, wodurch Paulinus von aller Versuchung erlöst wurde. In der Spitze des Giebelfeldes wird Agnes im Glorienschein schließlich in den Himmel aufgenommen, wo ihr Bräutigam Jesus sich mit ihr, die ganz klein ist und so jung, vermählt, indem er ihr den Kuß ewiger Wonnen gibt.

Aber wenn der Wind durch die Straße fegte, peitschte der Schnee von vorn, weiße Packen drohten die Schwelle zu versperren; und das Kind wich nun nach den Seiten zurück, zu den Jungfrauen hin, die über dem Säulenstuhl der Leibung standen. Das waren die Gefährtinnen von Agnes, die Heiligen, die ihr Gefolge bildeten: drei zu ihrer Rechten, Dorothea3, die im Gefängnis von wunderbarem Brot ernährt wurde, Barbara4, die in einem Turme lebte, Genoveva5, deren Jungfräulichkeit Paris rettete; und drei zu ihrer Linken, Agatha6, der man die Brustwarzen abgedreht und ausgerissen hatte, Christina7, die von ihrem Vater gefoltert wurde, der ihr ihr eigenes Fleisch ins Gesicht warf, Cäcilia8, die von einem Engel geliebt wurde. Über ihnen noch mehr Jungfrauen, drei dichte Reihen von Jungfrauen stiegen mit den Bögen der Archivolten empor, schmückten die drei Bogenrundungen mit einem Blühen sieghaften und keuschen Fleisches, das hienieden gemartert, in den Folterqualen zermalmt, droben von einer Schar Cherubim empfangen wurde, beseligt vor Entzücken inmitten der himmlischen Heerscharen.

Und schon lange wurde die Kleine durch nichts mehr geschützt, als es endlich acht Uhr schlug und der Tag heraufzog. Wäre sie in den Schnee getreten, so hätte er ihr bis zu den Schultern gereicht. Das uralte Tor hinter ihr war damit überzogen, war gleichsam mit Hermelin ausgeschlagen, ganz in Weiß, und sah aus wie eine Ruhebank unten an der grauen Fassade, die so kahl und so glatt war, daß nicht eine Flocke daran hängenblieb. Die großen Heiligengestalten der Leibung vor allem waren darin eingehüllt, von ihren weißen Füßen bis zu ihrem weißen Haar, und strahlten von Reinheit. Weiter oben hoben sich die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Heiligengestalten der Bogenrundungen in scharfen Konturen ab, mit einem hellen Strich auf den dunklen Grund gezeichnet; und das bis zur höchsten Seligkeit, bis zur Vermählung der Agnes, die die Erzengel unter einem Regen weißer Rosen zu feiern schienen. Die Statue der kindlichen Jungfrau, die mit ihrem weißen Palmenzweig, mit ihrem weißen Lamm auf dem Pfeiler stand, war von weißer Reinheit, hatte einen unbefleckten schneeigen Leib in dieser starren Reglosigkeit der Kälte, die das mystische Emporschwingen der sieghaften Jungfräulichkeit um sie her zu Eis erstarren ließ. Und zu ihren Füßen die andere, das unglückselige Kind, das auch weiß von Schnee war, so starr und weiß, daß man hätte glauben können, es werde zu Stein, unterschied sich nicht mehr von den großen Jungfrauengestalten.

Ein Klappern an den schlafenden Häuserfronten, ein Fensterladen, der zurückschlug, veranlaßte indessen die Kleine hochzublicken. Es war rechts von ihr, im ersten Stock des Hauses, das an die Kathedrale grenzte. Eine sehr schöne Frau, eine kräftige Brünette von ungefähr vierzig Jahren, hatte sich soeben aus dem Fenster gebeugt; und trotz des schrecklichen Frostes ließ sie ihre nackten Arme eine Minute lang draußen, da sie gesehen hatte, wie sich das Kind bewegte. Mitleidsvolle Verwunderung machte ihr ruhiges Gesicht traurig. Dann schloß sie erschauernd wieder das Fenster. Sie bewahrte nur die flüchtige Vision eines kleinen blonden Mädchens mit Veilchenaugen und einem Stoffetzen um den Kopf; ein längliches Gesicht, ein vor allem sehr langer Hals von lilienhafter Anmut auf abfallenden Schultern, doch blau vor Kälte, die Händchen und Füßchen halb abgestorben, da war nichts Lebendiges mehr außer dem leichten Hauch des Atems.

Mechanisch blickte das Kind immer noch empor und betrachtete das Haus, ein sehr altes, gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erbautes schmales Haus mit nur einem Stockwerk. Es klebte an der Seite der Kathedrale zwischen zwei Strebepfeilern, wie eine Warze, die zwischen zwei Zehen einer Riesengestalt gewachsen ist. Und so angelehnt, hatte es sich erstaunlich erhalten mit seinem steinernen Unterbau, seinem mit Klinkern geschmückten Fach werk im ersten Stock, seinem Dachstuhl, dessen Gebälk einen Meter über den Giebel hinausragte, seinem vorspringenden Treppentürmchen an der linken Ecke, dessen winziges Fenster noch die Bleieinfassungen von einst hatte. Das Alter jedoch hatte Ausbesserungen erfordert. Das Ziegeldach mußte aus der Zeit Ludwigs XIV.9 stammen. Man erkannte unschwer die Arbeiten, die um jene Zeit vorgenommen worden waren: eine in die Bekrönung des Türmchens gebrochene Luke, Fensterrahmen aus Holz, die überall die Einfassungen der ursprünglichen Butzenscheiben ersetzten, die drei zusammenhängenden Fensteröffnungen im ersten Stock, aus denen man durch Vermauern der mittleren zwei gemacht hatte, was der Hausfront die Symmetrie der anderen, neueren Gebäude der Straße verlieh. Im Erdgeschoß waren die Veränderungen ebenso sichtbar, eine geschnitzte Eichentür an Stelle der eisenbeschlagenen alten Tür unter der Treppe und die große Arkade in der Mitte, bei der man den unteren Teil, die Seite und die Spitze zugemauert hatte, so daß nur noch eine rechteckige Öffnung da war, eine Art breites Fenster an Stelle der spitzbogenförmigen Fensteröffnung, die ehemals auf die Straße hinausging.

 

Ohne an etwas zu denken, betrachtete das Kind noch immer dieses ehrwürdige, saubergehaltene Handwerksmeisterhaus, und es las gerade die Worte, die auf einem gelben Schild, das links neben der Tür angenagelt war, in alten schwarzen Buchstaben geschrieben standen, »Hubert, Meßgewandmacher«, als das Klappen eines Fensterladens es von neuem aufhorchen ließ. Dieses Mal war es der Laden des viereckigen Fensters im Erdgeschoß: nun beugte sich ein Mann hinaus mit vergrämtem Gesicht. Adlernase, höckeriger Stirn, die von dichtem, trotz seiner kaum fünfundvierzig Jahre schon weißem Haar umkränzt war; und auch er verweilte eine Minute und betrachtete die Kleine aufmerksam, während sich eine schmerzliche Falte um seinen großen sanften Mund zog. Sodann sah sie, wie er hinter den kleinen grünlichen Fenstern stehenblieb. Er wandte sich um, er machte eine Handbewegung, seine sehr schöne Frau erschien wieder. Seite an Seite standen sie nun und rührten sich beide nicht mehr, ließen die Kleine nicht mehr aus den Augen und sahen tieftraurig aus.

Seit vierhundert Jahren bewohnte das Geschlecht der Huberts, bei denen sich das Gewerbe des Kunststickers vom Vater auf den Sohn vererbte, dieses Haus. Ein Meßgewandmachermeister hatte es unter Ludwig XI.10 bauen, ein anderer unter Ludwig XIV. ausbessern lassen; und der jetzt lebende Hubert stickte hier Meßgewänder wie alle seines Stammes. Mit zwanzig Jahren hatte er ein sechzehnjähriges Mädchen, Hubertine, mit solcher Leidenschaft geliebt, daß er sie, obgleich die Mutter, eine Beamtenwitwe, sie ihm verweigerte, entführt und dann geheiratet hatte. Sie war von wunderbarer Schönheit, das war beider ganzer Roman, beider Freude und beider Unglück. Als sie acht Monate später schwanger ans Totenbett ihrer Mutter trat, enterbte diese sie und verfluchte sie, so daß das Kind starb, das noch am selben Abend geboren wurde. Und die starrköpfige Beamtenwitwe, die nun in ihrem Sarg auf dem Friedhof lag, hatte noch immer nicht verziehen, denn das Ehepaar hatte trotz seines glühenden Wunsches kein Kind mehr bekommen. Nach vierundzwanzig Jahren beweinten sie noch immer jenes Kind, das sie verloren hatten, und gaben jetzt die Hoffnung auf, die Tote jemals zu erweichen.

Von den Blicken der beiden verwirrt, hatte die Kleine sich wieder hinter dem Pfeiler der heiligen Agnes verkrochen. Auch beunruhigte sie das Erwachen der Straße: die Läden wurden geöffnet, Leute kamen aus den Häusern. Die Rue des Orfèvres, deren Ende an die Seitenfront der Kirche stößt, wäre eine richtige Sackgasse, denn nach der Apsis hin war sie durch das Haus der Huberts verstopft, wenn nicht die Rue Soleil, ein schmaler Gang, ihr zur anderen Seite hin einen Ausgang schaffte, indem sie bis zur Hauptfassade auf dem Place du Cloître am Seitenschiff entlanglief; und es kamen zwei Kirchgängerinnen vorbei, die einen erstaunten Blick auf die kleine Bettlerin warfen, die sie in Beaumont nicht kannten. Es schneite noch immer langsam und beharrlich, die Kälte schien mit dem fahlen Tageslicht zuzunehmen, man hörte nur ein fernes Geräusch von Stimmen in der dumpfen Dichte des großen weißen Leichentuches, das die Stadt zudeckte.

Doch das Kind, das scheu war und sich seiner Verlassenheit schämte wie einer Schuld, wich noch weiter zurück, als es plötzlich vor sich Hubertine stehen sah, die aus dem Haus getreten war, um selber Brot zu holen, weil sie kein Hausmädchen hatte.

»Kleine, was machst du da? Wer bist du?«

Und sie antwortete nicht, sie verbarg ihr Gesicht. Jedoch sie fühlte ihre Glieder nicht mehr, das Leben schwand aus ihr, als wäre ihr zu Eis erstarrtes Herz stehengeblieben. Als die liebe Frau mit einer Gebärde taktvollen Mitleids den Rücken gewandt hatte, sank sie, am Ende der Kraft, auf die Knie, glitt wie ein Stückchen Stoff in den Schnee, dessen Flocken sie schweigend begruben.

Und als die Frau, die mit ihrem noch warmen Brot zurückkam, sie so auf der Erde erblickte, trat sie wiederum näher.

»Na, Kleine, du kannst doch unter diesem Tor nicht bleiben.«

Da nahm Hubert, der auch herausgekommen war und auf der Schwelle des Hauses stand, ihr das Brot ab und sagte;

»Nimm sie doch, bring sie herein!«

Ohne etwas hinzuzufügen, nahm Hubertine die Kleine in ihre kräftigen Arme.

Und das Kind wich nicht mehr zurück, es ließ sich forttragen wie einen Gegenstand, mit seinen aufeinandergepreßten Zähnen, seinen geschlossenen Augen, war ganz erfroren und leicht wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelein.

Sie gingen wieder ins Haus, Hubert schloß die Tür, während Hubertine mit ihrer Bürde durch das zur Straße hin gelegene Zimmer ging, das als gute Stube diente und in dem vor dem großen viereckigen Fenster einige gestickte Stoffbahnen als Muster auslagen. Dann ging sie in die Küche hinüber, die fast unversehrt erhaltene ehemalige Gesindestube mit ihren hervortretenden Balken, ihrem an zwanzig Stellen ausgebesserten Fliesenboden, ihrem riesigen Kamin mit dem Steinmantel. Die Geräte, Töpfe, Kessel und Schmorpfannen auf den Brettern waren ein oder zwei Jahrhunderte alt, alte Fayencen, altes Steingut, altes Zinn. Aber im Feuerloch des Kamins stand ein moderner Herd, ein breiter gußeiserner Herd, dessen Kupferbeschläge blitzten. Er glühte rot, man hörte, wie das Wasser im Kessel kochte. Auf einer Ecke wurde eine Kasserolle mit Milchkaffee warm gehalten.

»Weiß Gott! Hier ist es besser als draußen«, sagte Hubert, indem er das Brot auf einen schweren Tisch im Stile Ludwigs XIII.11 legte, der die Mitte des Raumes einnahm. »Setz das arme Herzchen nahe an den Herd, da wird sie gleich auftauen.«

Schon setzte Hubertine das Kind hin; und beide schauten zu, wie es wieder zu sich kam. Der Schnee auf seinen Kleidern schmolz, fiel in schweren Tropfen hernieder. Durch die Löcher in den groben Männerschuhen sah man die zerschundenen kleinen Füße, während sich unter dem dünnen Kleid die starren Glieder abzeichneten, dieser erbarmungswürdige Elends und Schmerzensleib. Ein langer Schauer überlief die Kleine, sie schlug entsetzt die Augen auf und fuhr auf wie ein Tier, das sich beim Erwachen in der Falle gefangen sieht. Ihr Gesicht schien in den unterm Kinn geknoteten Lumpen zu versinken. Die Huberts glaubten, ihr rechter Arm sei verkrüppelt, so fest drückte sie ihn unbeweglich an ihre Brust.

»Beruhige dich, wir wollen dir nichts Böses tun ... Woher kommst du denn? Wer bist du denn?«

Je mehr man zu ihr sprach, um so verstörter wurde sie, und sie wandte den Kopf, als stünde jemand hinter ihr, der sie schlagen wollte. Sie musterte die Küche mit verstohlenem Blick, die Fliesen, die Balken, die blitzenden Küchengeräte; dann ging ihr Blick durch die beiden unregelmäßigen Fenster, die in der ehemaligen Fensteröffnung belassen worden waren, nach draußen, durchforschte den Garten bis zu den Bäumen des Bischofspalastes, dessen weiße Umrisse die Mauer im Hintergrund überragten, schien erstaunt darüber, dort links an einer Allee die Kathedrale mit den romanischen Fenstern der Kapellen ihrer Apsis wiederzufinden. Und von neuem überlief sie ein heftiger Schauer in der Wärme des Herdes, die sie zu durchdringen begann; und sie senkte den Blick wieder zu Boden und rührte sich nicht mehr.

»Bist du aus Beaumont? – Wer ist dein Vater?«

Da sie weiterhin schwieg, dachte Hubert, die Kehle sei ihr vielleicht so zugeschnürt, daß sie nicht antworten konnte.

»Anstatt sie auszufragen«, sagte er, »täten wir besser daran, ihr eine gute Tasse recht heißen Milchkaffee zu geben.«

Das war ein so vernünftiger Gedanke, daß Hubertine sogleich ihre eigene Tasse hinstellte. Während sie zwei große Scheiben Brot abschnitt, blieb das Kind mißtrauisch, wich immer noch zurück; doch die Qual des Hungers war stärker als alles, schließlich aß und trank die Kleine gierig. Um sie nicht zu stören, schwieg das Ehepaar und sah bewegt, wie ihre kleine Hand so sehr zitterte, daß sie den Mund nicht fand. Und sie bediente sich nur der linken Hand, ihr rechter Arm blieb hartnäckig an den Körper gepreßt. Als sie fertig war, hätte sie beinahe die Tasse zerschlagen, die sie gerade noch mit der Bewegung eines Krüppels ungeschickt mit dem Ellbogen festhielt.

»Bist du denn am Arm verletzt?« fragte Hubertine. »Hab keine Angst, zeig mal, mein Herzchen.«

Doch als sie sie anfaßte, erhob sich die Kleine ungestüm und wehrte sich; und bei diesem Ringen bewegte sie unwillkürlich den Arm. Ein kartoniertes Büchlein, das sie auf der bloßen Haut verbarg, glitt durch einen Riß ihres Mieders zu Boden. Sie wollte es schnell wieder an sich nehmen, ballte jedoch vor Wut die Fäuste, als sie sah, daß diese Unbekannten es aufschlugen und lasen.

Es war ein Zöglingsbuch, ausgestellt von der Jugendfürsorge des Departement12 Seine. Auf der ersten Seite waren unter dem Amtssiegel des heiligen Vinzenz von Paul13 folgende Rubriken vorgedruckt: Name des Zöglings, und ein einfacher, mit Tinte gezogener Strich füllte den leeren Raum; dann stand bei den Vornamen: AngéliqueMarie; bei den Daten: geboren am 22. Januar 1851, aufgenommen am 23. desselben Monats, eingetragen unter der Registriernummer 1634. So waren also Vater und Mutter unbekannt, keine Papiere, nicht einmal ein Geburtsschein, nichts als dieses Büchlein, das von verwaltungsmäßiger Kälte starrte, mit seinem Umschlagdeckel aus blaßrosa Leinen. Niemand auf der Welt und eine Eintragung in der Gefangenenliste, die numerierte und klassifizierte Verlassenheit.

»Oh! Ein Findelkind!« rief Hubertine aus.

Da begann Angélique in einem tollen Zornesausbruch:

»Ich bin mehr wert als alle anderen, ja, ich bin besser, besser, besser ... Niemals habe ich den anderen etwas weggenommen, und sie nehmen mir alles weg ... Geben Sie mir wieder, was Sie mir weggenommen haben.«

Ein so ohnmächtiger Stolz, eine solche Leidenschaftlichkeit, die Stärkere zu sein, ließen ihren Körper, den Körper einer kleinen Frau, sich aufbäumen, daß die Huberts davon tief ergriffen waren. Sie erkannten das kleine blonde Mädchen mit den veilchenfarbenen Augen und dem langen, lilienhaft anmutigen Hals nicht wieder. Die Augen waren schwarz geworden in dem bösen Gesicht, der sinnliche Hals war von einer Blutwelle geschwellt. Jetzt, da ihr warm war, richtete sie sich in die Höhe und zischte wie eine aus dem Schnee aufgelesene Natter.

»Du bist also ein schlimmes Kind?« sagte der Sticker sanft. »Es ist zu deinem Besten, wenn wir wissen wollen, wer du bist.«

Und über die Schulter seiner Frau hinweg las er in dem Büchlein, das diese durchblätterte. Auf Seite 2 fand sich der Name der Amme.

»Das Kind Angélique wurde am 25. Januar 1851 der Amme Françoise, Ehefrau des Herrn Hamelin, von Beruf Landwirt, wohnhaft in der Gemeinde Soulanges im Arrondissement14 Nevers, anvertraut; selbige Amme hat bei ihrer Abreise das Pflegegeld für den ersten Monat sowie eine Ausstattung erhalten.«

Es folgte ein vom Anstaltsgeistlichen des Fürsorgeheims unterzeichnetes Taufzeugnis; dann ärztliche Bescheinigungen beim Fortgang und bei der Ankunft des Kindes. Die vierteljährlichen Auszahlungen des Monatsgeldes füllten weiter hinten die Spalten von vier Seiten, wo jedesmal die unleserliche Unterschrift des Steuereinnehmers wiederkehrte.

»Wie, bei Nevers?« fragte Hubertine. »Du bist in der Nähe von Nevers aufgezogen worden?«

Da Angélique die beiden nicht am Lesen hindern konnte, war sie hochrot angelaufen und wieder in ihr verstocktes Schweigen verfallen. Doch der Zorn löste ihr die Lippen, sie sprach von ihrer Pflegemutter.

»Ach, sicher hätte Mama Nini Euch geschlagen. Sie, sie nahm mich in Schutz, obwohl sie mir trotzdem manchmal eine Ohrfeige gab ... Ach, bestimmt war ich nicht so unglücklich dort unten bei den Tieren ...« Ihre Stimme versagte, sie redete in abgehackten, unzusammenhängenden Sätzen weiter von den Wiesen, auf die sie die Rotschecke führte, von dem breiten Weg, auf dem sie spielten, von den Brotfladen, die sie buken, von einem großen Hund, der sie gebissen hatte.

Hubert unterbrach sie, indem er ganz laut las:

»Bei schwerer Krankheit oder schlechter Behandlung ist der Unterinspektor ermächtigt, die Kinder zu einer anderen Pflegemutter zu geben.«

Darunter stand, das Kind AngéliqueMarie sei am 20. Juni 1860 Thérèse, der Ehefrau des Louis Franchomme, beide Blumenhändler, wohnhaft in Paris, anvertraut worden.

»Aha, jetzt verstehe ich«, sagte Hubertine. »Du bist krank gewesen, und man hat dich nach Paris zurückgebracht.«

Aber so war es auch nicht gewesen, die Huberts erfuhren die ganze Geschichte erst, als sie sie Stück für Stück aus Angélique herausgelockt hatten. Louis Franchomme, der Mama Ninis Vetter war, hatte in sein Dorf zurückkehren und dort einen Monat leben müssen, um sich von einem Fieber zu erholen; und damals hatte seine Frau Thérèse, die eine große Zuneigung zu der Kleinen hegte, es durchgesetzt, sie mit nach Paris zu nehmen, und sie versprach ganz fest, sie dort den Blumenhändlerberuf lernen zu lassen. Drei Monate später starb ihr Mann, sie sah sich, da sie selber sehr leidend war, gezwungen, zu ihrem in Beaumont ansässigen Bruder, dem Lohgerber Rabier, zu ziehen. Dort war sie in den ersten Dezembertagen gestorben und hatte ihrer Schwägerin die Kleine anvertraut, die seitdem beschimpft und geschlagen wurde und ein wahres Martyrium erlitt.

 

»Die Rabiers«, murmelte Hubert, »die Rabiers, ja, ja! Lohgerber am Ufer des Ligneul in der Unterstadt ... Der Mann trinkt, die Frau hat einen schlechten Lebenswandel.«

»Sie schimpften mich ein hergelaufenes Kind«, fuhr Angélique empört fort, rasend vor leidendem Stolz. »Sie sagten, die Gosse sei gut genug für einen Bastard. Wenn die Frau mich krumm und lahm geschlagen hatte, stellte sie mir Futter auf die Erde, wie ihrer Katze; und oft noch ging ich ohne zu essen schlafen ... Ach, ich hätte mich schließlich noch umgebracht!« Sie machte eine Gebärde wütender Verzweiflung. »Am Weihnachtsmorgen, also gestern, da haben sie getrunken, haben sie sich auf mich gestürzt und gedroht, mir mit dem Daumen die Augen herauszudrücken, bloß so zum Spaß. Und dann ging das nicht so, wie sie es sich gedacht hatten, und sie haben sich schließlich so mächtig mit Fausthieben bearbeitet, daß ich sie für tot gehalten habe, als sie alle beide quer ins Zimmer gefallen waren ... Seit langem hatte ich beschlossen davonzulaufen. Aber ich wollte mein Buch. Mama Nini zeigte es mir manchmal und sagte: ›Siehst du, das ist alles, was du besitzt, denn wenn du das nicht hättest, hättest du gar nichts.‹ Und ich wußte, wo sie es seit dem Tode von Mama Thérèse versteckt hielten, im Schubfach oben in der Kommode ... Da bin ich über die beiden hinweggestiegen, habe das Buch genommen und bin losgerannt und habe es dabei unter meinem Arm an meine Haut gepreßt. Es war zu groß, ich bildete mir ein, alle Leute könnten es sehen, man würde es mir wegnehmen. Oh, ich bin gerannt und gerannt! Und als es stockfinstere Nacht war, habe ich unter diesem Tor gefroren, daß ich glaubte, ich sei nicht mehr am Leben. Doch das macht nichts, ich habe es nicht losgelassen, da ist es!« Und mit einem jähen Ruck entriß sie es den Huberts, gerade als diese es zumachten, um es ihr zurückzugeben. Dann setzte sie sich wieder und sank am Tisch zusammen, preßte dabei das Büchlein in ihre Arme und schluchzte, die Wange an den Umschlagdeckel aus rosa Leinen geschmiegt. Ein schreckliches Gefühl der Demut schlug ihren Stolz nieder, ihr ganzes Wesen schien in dem bitteren Schmerz über diese wenigen Seiten mit den abgenutzten Ecken dahinzuschmelzen, über dieses armselige Ding, das ihr Schatz war, das einzige, was sie noch mit dem Leben der Welt verband. Sie konnte eine so große Verzweiflung gar nicht aus ihrem Herzen herausweinen, ihre Tränen flossen, flossen ohne Ende; und in dieser völligen Zerknirschung bekam sie wieder das hübsche Gesicht eines Blondköpfchens mit dem ein wenig länglichen, sehr reinen Oval, ihre veilchenfarbenen Augen, die vor Zärtlichkeit wieder heller wurden, den zierlichen Schwung ihres Halses, der sie einer kleinen Jungfrau im Kirchenfenster gleichen ließ. Plötzlich ergriff sie Hubertines Hand, preßte ihre nach Liebkosungen gierigen Lippen darauf und küßte sie leidenschaftlich.

Den Huberts drehte es das Herz im Leibe um, während sie, selber dem Weinen nahe, stammelten: »Liebes, liebes Kind!«

Sie war also noch nicht ganz so schlimm? Vielleicht konnte man die Kleine von dieser Heftigkeit heilen, die sie beide so in Schrecken versetzt hatte.

»Oh, ich bitte Sie, bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!« stammelte sie. »Bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!«

Mann und Frau hatten sich angesehen. Seit dem Herbst hegten sie tatsächlich die Absicht, ein Lehrmädchen ins Haus zu nehmen, irgendein junges Ding, das Fröhlichkeit in das vom Schmerz der kinderlosen Gatten so traurig gestimmte Haus bringen sollte. Und es wurde sogleich alles beschlossen.

»Willst du?« fragte Hubert.

Hubertine erwiderte ohne Hast mit ihrer ruhigen Stimme:

»Ich möchte schon.«

Unverzüglich nahmen sie die Formalitäten in Angriff. Der Sticker ging zum Friedensrichter des nördlichen Stadtteils von Beaumont, um ihm die Begebenheit zu erzählen, zu Herrn Grandsire, einem Vetter seiner Frau, dem einzigen Verwandten, den sie noch besuchten; und dieser übernahm alles Weitere, schrieb an die Jugendfürsorge, wo Angélique dank der Registriernummer unschwer identifiziert wurde, erreichte, daß sie als Lehrmädchen bei den Huberts bleiben konnte, die im Rufe großer Ehrbarkeit standen. Als der Unterinspektor des Arrondissements kam, um das Büchlein auf den neuesten Stand zu bringen, schloß er mit dem neuen Brotherrn den Vertrag ab, dem zufolge dieser letztere das Kind milde behandeln, es säuberlich halten, es die Schule und die Pfarrkirche besuchen lassen und ihm ein Bett geben sollte, in dem es alleine schlafen konnte. Die Behörde dagegen verpflichtete sich, ihm der Vorschrift entsprechend eine Entschädigung zu zahlen und die Kleidung zu liefern.

Innerhalb von zehn Tagen war alles geregelt. Angélique schlief oben neben dem Dachboden im Giebelzimmer, das auf den Garten hinausging; und sie hatte schon ihren ersten Unterricht im Sticken erhalten. Am Sonntagmorgen, ehe Hubertine mit ihr zur Messe ging, öffnete sie in ihrer Gegenwart die alte Truhe in der Werkstatt, in der sie das Feingold verwahrte. Sie hielt das Buch in der Hand, sie legte es hinten in eine Schublade und sagte:

»Sieh, wo ich es hinlege, damit du es nehmen kannst, wenn du Lust hast, und damit du dich daran erinnerst.«

Als Angélique an jenem Morgen die Kirche betrat, befand sie sich abermals unter dem SanktAgnesTor. Trügerisches Tauwetter war im Laufe der Woche eingetreten, dann hatte die Kälte wieder eingesetzt, und zwar so streng, daß der halbgeschmolzene Schnee auf den Skulpturen zu einer blühenden Pracht von Trauben und Nadeln erstarrt war. Alles war jetzt Eis, durchsichtige Gewänder mit gläserner Spitze, die die Jungfrauen umhüllten. Dorothea hielt eine Fackel, deren durchsichtiges herablaufendes Wachs ihr von den Händen tropfte; Cäcilia trug eine Silberkrone, von der glänzende Perlen herniederrieselten; Agatha trug auf ihrer von der Zange zerbissenen Brust einen kristallenen Harnisch. Und es war, als stünden die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Jungfrauen der Bogenrundungen so seit Jahrhunderten hinter den Glasscheiben und den Edelsteinen eines gigantischen Reliquienschreines. Agnes selber schleppte einen fürstlichen Mantel nach, der aus Licht gesponnen und mit Sternen bestickt war. Ihr Lamm hatte ein Fell aus Diamanten, ihr Palmenzweig war himmelsfarben geworden. Das ganze Tor funkelte in der Reinheit der großen Kälte.

Angélique erinnerte sich der Nacht, die sie dort unter dem Schutz der Jungfrauen zugebracht hatte. Sie blickte hoch und lächelte ihnen zu.

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