Ein feines Haus

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Из серии: Die Rougon-Macquart #10
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Ein feines Haus
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Ein feines Haus

Emile Zola

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntess Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebenzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

In der Rue Neuve-Saint-Augustin wurde die mit drei Koffern beladene Droschke, mit der Octave vom Gare de Lyon1 kam, durch ein Wagengedränge aufgehalten. Trotz der schon empfindlichen Kälte dieses trüben Novembernachmittags ließ der junge Mann ein Wagenfenster herunter. Er war überrascht über den jähen Einbruch der Dunkelheit in diesem Stadtviertel mit den zu engen, über und über von Menschen wimmelnden Straßen. Die Flüche der Kutscher, die auf die schnaubenden Pferde einhieben, das unaufhörliche Ellbogengestoße auf den Bürgersteigen und die dichtgedrängte Reihe der von Verkäufern und Kunden überquellenden Läden machten ihn ganz benommen; er hatte sich Paris sauberer vorgestellt, und er war auch nicht auf einen so tollen Betrieb gefaßt gewesen; er fühlte, daß diese Stadt den Begierden handfester Kerle offenstand.

Der Kutscher hatte sich herabgebeugt.

»Es ist doch in der Passage Choiseul?«

»Nicht doch, in der Rue de Choiseul ... Ein neues Haus, glaube ich.«

Und die Droschke brauchte nur um die Ecke zu biegen; es war das zweite Haus, ein großes vierstöckiges Haus, dessen steinerne Front inmitten des rostfarbenen Putzes der alten Nachbarfassaden eine kaum gerötete Blässe bewahrte. Octave war ausgestiegen und stand auf dem Bürgersteig, er musterte das Haus mit einem mechanischen abschätzenden Blick, vom Seidenwarengeschäft im Erdgeschoß und im Zwischenstock bis hinauf zu den zurücktretenden Fenstern im vierten Stock, die auf einen schmalen Altan gingen. Im ersten Stock stützten Frauenköpfe einen Balkon mit reich verziertem Gußeisengeländer. Die Fenster hatten verschnörkelte Einfassungen, die grob nach Schablonen herausgemeißelt waren; und unten entrollten über der mit Zierat noch mehr überladenen Toreinfahrt zwei Amoretten eine Zierleiste, auf der die Hausnummer stand, die nachts von einer innen angebrachten Gaslampe erleuchtet wurde.

Ein dicker blonder Herr, der aus dem Hausflur trat, blieb plötzlich stehen, als er Octave erblickte.

»Was! Sie sind schon da?« rief er. »Aber ich habe erst morgen mit Ihnen gerechnet!«

»Ja, ich bin einen Tag früher aus Plassans abgereist«, erwiderte der junge Mann. »Hat es denn mit dem Zimmer noch nicht geklappt?«

»O doch ... Ich habe es seit vierzehn Tagen gemietet und habʼs sofort eingerichtet, wie Sie mich gebeten haben. Einen Augenblick, ich werde Sie gleich hinbringen.« Trotz Octaves Einwendungen kehrte er ins Haus zurück.

Der Kutscher hatte die drei Koffer abgeladen. In der Conciergeloge2 stand ein würdevoller Mann mit langem, glattrasiertem Diplomatengesicht und überflog gewichtig den »Moniteur3«. Er geruhte jedoch, sich um diese Koffer zu kümmern, die man vor seiner Tür absetzte; und herzutretend fragte er seinen Mieter, den Architekten aus dem dritten Stock, wie er ihn zu nennen pflegte: »Herr Campardon, ist das der Betreffende?«

»Ja, Herr Gourd, das ist Herr Octave Mouret, für den ich das Zimmer im vierten Stock gemietet habe. Er wird dort oben nur schlafen und wird bei uns essen ... Herr Mouret ist ein Freund der Eltern meiner Frau, den ich Ihnen ans Herz lege.«

Octave betrachtete die mit Platten aus Stuckmarmor verkleidete Einfahrt, deren Deckengewölbe mit Rosetten geschmückt war. Der gepflasterte und auszementierte Hof im Hintergrund machte einen vornehmen, kalt-sauberen Eindruck; nur ein Kutscher rieb an der Stalltür mit einem Fell eine Kandare ab. Offenbar drang die Sonne niemals bis dort hinunter.

Unterdessen musterte Herr Gourd die Koffer. Er stieß mit dem Fuß dagegen, wurde in Anbetracht ihres Gewichts ganz eifrig zuvorkommend und sprach davon, einen Dienstmann zu holen, der sie über den Dienstbotenaufgang hinaufschaffen solle.

»Ich gehe fort, Frau«, rief er in die Conciergeloge hinein.

Diese Loge war ein kleiner Salon mit hellen Spiegelscheiben, der mit einem rotgeblümten Plüschteppich und Palisandermöbeln ausgestattet war; und durch eine halboffene Tür gewahrte man eine Ecke des Schlafzimmers, ein mit granatfarbenen Ripsvorhängen versehenes Bett. Die sehr üppige Frau Gourd, die eine Haube mit gelben Bändern aufhatte, saß lang ausgestreckt, die Hände nichtstuerisch gefaltet, in einem Sessel.

»Gut, gehen wir hinauf«, sagte der Architekt. Und als er die Mahagonitür des Hausflurs aufstieß und sah, welchen Eindruck Herrn Gourds schwarzes Samtkäppchen und seine himmelblauen Pantoffeln auf den jungen Mann gemacht hatten, setzte er hinzu: »Wissen Sie, er ist der ehemalige Kammerdiener des Herzogs von Vaugelade.«

»Aha!« machte Octave lediglich.

»Jawohl, und er hat die Witwe eines kleinen Gerichtsvollziehers aus Mort-la-Ville geheiratet. Da draußen besitzen sie sogar ein Haus. Aber sie warten, bis sie über dreitausend Francs Jahreszinsen verfügen, um sich dorthin zurückziehen zu können ... Oh, sehr anständige Conciergeleute!«

Hausflur und Treppe waren von schreiendem Luxus. Unten trug eine weibliche Figur, eine Art Neapolitanerin, die über und über vergoldet war, eine Amphora4 auf dem Kopf, aus der drei mit Mattglasglocken versehene Gasarme herausragten. Die weißen, rosa eingefaßten Stuckmarmorplatten stiegen in dem runden Treppenhaus regelmäßig empor; das mit Mahagoniholz belegte gußeiserne Treppengeländer wirkte wie Altsilber, das mit goldenem Blättergewirr verziert war. Die Stufen bedeckte ein von kupfernen Stangen festgehaltener roter Läufer. Was Octave aber beim Eintreten besonders beeindruckte, war eine Treibhauswärme, ein lauer Atem, den ihm ein Heizungsloch gleich einem Mund ins Gesicht blies.

»Nanu!« sagte er. »Die Treppe ist geheizt?«

»Aber natürlich«, erwiderte Campardon. »Das lassen sich heutzutage alle Hausbesitzer etwas kosten, die was auf sich halten ... Das ist ein sehr feines Haus, ein sehr feines ...« Er wandte sich um, als durchforsche er die Mauern des Hauses mit dem Kennerblick eines Architekten. »Sie werden ja sehen, mein Lieber, es ist ein durch und durch feines Haus ... Und ausschließlich von feinen Leuten bewohnt!«

Während sie nun langsam hinaufstiegen, nannte er die Namen der Mieter. In jedem Stockwerk waren zwei Wohnungen, die eine lag zur Straße, die andere zum Hof zu, und ihre polierten Mahagonitüren lagen einander gegenüber. Zunächst sagte er kurz ein paar Worte über Herrn Auguste Vabre: das war der älteste Sohn des Hausbesitzers; im Frühjahr hatte er das Seiden Warengeschäft im Erdgeschoß übernommen, und er bewohnte auch den ganzen Zwischenstock. Im ersten Stock hatte sodann der andere Sohn des Hausbesitzers, Herr Théophile Vabre, mit seiner Gattin die Hofwohnung inne, und die Vorderwohnung hatte der Hausbesitzer selbst, ein ehemaliger Notar aus Versailles, der übrigens bei seinem Schwiegersohn, Herrn Duveyrier, dem Appellationsgerichtsrat, wohnte.

»Ein toller Bursche, und noch keine fünfundvierzig Jahre alt«, sagte Campardon und blieb einen Augenblick stehen. »Ganz nett, was?« Er stieg zwei Stufen höher, drehte sich jäh um und setzte hinzu: »Wasser und Gas in allen Stockwerken.«

Auf jedem Treppenabsatz befand sich ein hohes Fenster, durch dessen von einer Mäanderleiste eingefaßte Scheiben helles Tageslicht auf die Treppe fiel, und unter jedem Fenster stand eine schmale Samtbank. Der Architekt machte darauf aufmerksam, daß sich betagte Leute hier ausruhen könnten.

Als er dann über den zweiten Stock hinausging, ohne die Mieter zu nennen, wies Octave auf die Tür der großen Wohnung und fragte: »Und da?«

»Ach, da«, sagte Campardon, »Leute, die man nicht zu sehen bekommt, die niemand kennt ... Auf die könnte das Haus gern verzichten. Kurzum, Flecke sind überall zu finden ...« Er blies voller Geringschätzung leise vor sich hin. »Der Herr macht Bücher, glaube ich.«

 

Aber im dritten Stock zeigte er wieder sein zufriedenes Lachen. Die Hofwohnung war geteilt worden: dort wohnten Frau Juzeur, eine recht unglückliche kleine Frau, und ein sehr vornehmer Herr, der ein Zimmer gemietet hatte, wo er sich einmal wöchentlich geschäftehalber aufhielt. Während Campardon noch diese Erläuterungen gab, schloß er die Tür der anderen Wohnung auf.

»Hier sind wir bei mir«, erklärte er. »Warten Sie, ich muß Ihren Schlüssel holen ... Wir werden zuerst in Ihr Zimmer hinaufgehen, und nachher können Sie meine Frau begrüßen.«

Während der zwei Minuten, die Octave allein blieb, fühlte er, wie ihn das ernste Schweigen des Treppenhauses durchdrang. Er beugte sich in der lauen Luft, die aus dem Hausflur kam, über das Geländer; er hob den Kopf und horchte, ob nicht irgendein Geräusch von oben herabdrang. Es herrschte die Totenstille eines sorgfältig abgeschlossenen bürgerlichen Salons, in den nicht ein Hauch von außen hineingelangte. Hinter den schönen Türen aus glänzendem Mahagoniholz lagen gleichsam Abgründe der Ehrbarkeit.

»Sie werden vortreffliche Nachbarn haben«, sagte Campardon, der mit dem Schlüssel in der Hand wieder zum Vorschein kam. »In der Vorderwohnung die Josserands, eine ganze Familie, der Vater Kassierer in der Kristallwarenfabrik Saint-Joseph, zwei heiratsfähige Töchter; und neben Ihnen ein kleines Angestelltenehepaar, die Pichons, Leute, die nicht gerade im Geld schwimmen, aber eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben ... Es muß doch alles vermietet werden, nicht wahr, selbst in einem Haus wie diesem.«

Nach dem dritten Stock hörte der rote Läufer auf, und an seine Stelle trat einfache graue Leinwand. Octave fühlte sich in seiner Eigenliebe dadurch leicht gekränkt. Ganz allmählich hatte ihn die Treppe mit Ehrfurcht erfüllt; er war ganz erregt, daß er in einem so feinen Haus – wie der Architekt sich ausgedrückt hatte – wohnen sollte. Als er hinter diesem in den Gang einbog, der zu seinem Zimmer führte, gewahrte er durch eine halboffene Tür eine junge Frau, die vor einer Wiege stand. Bei dem Geräusch hob sie den Kopf. Sie war blond und hatte helle, ausdruckslose Augen; und er nahm nur diesen sehr klaren Blick mit, denn die junge Frau errötete mit einemmal und stieß schamhaft, als werde sie bei etwas überrascht, die Tür zu.

Campardon hatte sich umgewandt, um zu wiederholen:

»Wasser und Gas in allen Stockwerken, mein Lieber.« Dann deutete er auf eine Tür, die zum Dienstbotenaufgang führte. Oben lagen die Mädchenkammern. Und hinten im Gang stehenbleibend, sagte er: »Hier sind wir endlich bei Ihnen.«

Das quadratische, ziemlich große Zimmer hatte eine graue, blaugeblümte Tapete und war sehr einfach möbliert. Neben dem Alkoven war ein winziger Waschraum ausgespart, gerade groß genug, damit man sich die Hände waschen konnte. Octave ging schnurstracks zum Fenster, durch das grünliches Licht hereinfiel. Traurig und sauber versank der Hof mit seinem regelmäßigen Pflaster und seiner Wasserleitung, deren kupferner Hahn glänzte. Und noch immer kein einziges Lebewesen, kein einziges Geräusch; nichts als die gleichförmigen Fenster, ohne ein Vogelbauer, ohne einen Blumentopf, diese Fenster, die die Eintönigkeit ihrer weißen Gardinen zur Schau stellten. Um die große kahle Mauer des Hauses zur Linken, die das Viereck des Hofes abschloß, zu verdecken, hatte man auch sie mit Fenstern versehen, mit aufgemalten falschen Fenstern, deren Läden ewig geschlossen waren und hinter denen das eingemauerte Leben der Nachbarwohnungen weiterzugehen schien.

»Aber ich werde ja ausgezeichnet wohnen!« rief Octave entzückt.

»Nicht wahr?« sagte Campardon. »Ich habe ja auch alles so besorgt, als wäre es für mich; und im übrigen habe ich die Weisungen befolgt, die in Ihren Briefen standen ... Das Mobiliar gefällt Ihnen also? Es ist alles da, was ein junger Mann braucht. Später können Sie weitersehen.« Und als Octave ihm dankend die Hände drückte und sich entschuldigte, daß er ihm diese ganzen Scherereien verursacht habe, fuhr der Architekt mit ernster Miene fort: »Nur, mein Bester, keinen Krach hier, vor allem keine Frau! – Mein Ehrenwort, wenn Sie eine Frau mitbrächten, so würde das einen Aufruhr geben.«

»Seien Sie unbesorgt!« murmelte der junge Mann ein wenig beunruhigt.

»Nein, ich muß Ihnen das sagen, ich selbst würde nämlich Ungelegenheiten bekommen ... Sie haben das Haus ja gesehen. Alles gute Bürger, und dazu von einer Sittenstrenge! Sie haben sich, unter uns gesagt, sogar ein bißchen zu sehr. Niemals ein lautes Wort, niemals mehr Geräusche, als Sie soeben gehört haben ... Oje, da würde Herr Gourd bestimmt Herrn Vabre holen, und wir beide wären schön dran! Um meiner Ruhe willen bitte ich Sie, mein Lieber: halten Sie das Haus in Ehren!«

Octave, der von so viel Ehrbarkeit angesteckt wurde, schwor, es in Ehren zu halten.

Da warf Campardon einen mißtrauischen Blick um sich und dämpfte die Stimme, als könnte man ihn hören, während er funkelnden Auges hinzufügte: »Was Sie draußen machen, das geht niemand was an. Paris ist groß genug, was? Man hat ja Platz ... Ich, ich bin im Grunde genommen Künstler, mir ist das schnuppe!«

Ein Dienstmann brachte die Koffer herauf. Als alles untergebracht war, blieb der Architekt väterlich dabei, während Octave Toilette machte. Danach stand er auf und sagte:

»Jetzt wollen wir hinuntergehen zu meiner Frau.«

Im dritten Stock sagte die Zofe, ein schmächtiges schwarzbraunes und kokettes Ding, die gnädige Frau sei beschäftigt. Um bei seinem jungen Freund nicht den Eindruck entstehen zu lassen, er komme ungelegen, zeigte ihm Campardon, der übrigens durch seine Erläuterungen von vorhin in Schwung gekommen war, die Wohnung: zuerst den großen, in Weiß und Gold gehaltenen, mit aufgesetzten Gesimsen reich verzierten Salon, der zwischen einem kleinen grünen Salon, den er in ein Arbeitszimmer umgestaltet hatte, und dem Schlafzimmer lag, das die beiden jetzt nicht betreten konnten, auf dessen überaus schmale Form und malvenfarbene Tapete er Octave aber ausdrücklich hinwies. Als er ihn darauf ins Eßzimmer führte, das über und über mit imitierten, durch Rundleisten und symmetrisch bosselierte Felder überaus verschnörkelten Holztäfeleien ausgestattet war, rief Octave hingerissen aus: »Das ist ja ganz großartig!«

An der Decke durchschnitten zwei große Risse die Felder, und in einer Ecke war die Farbe abgeblättert, so daß man den Putz sehen konnte.

»Ja, das macht Eindruck«, sagte der Architekt langsam, die Augen auf die Decke geheftet. »Sie verstehen, diese Häuser hier, die sind gebaut, um Eindruck zu machen ... Allerdings sollte man die Wände nicht allzusehr abklopfen. Noch keine zwölf Jahre ist das alles alt, und schon gehtʼs ab ... Die Fassade wird aus schönem Stein mit bildhauerischen Mätzchen hingesetzt, die Treppe wird dreifach lackiert, die Wohnungen werden vergoldet und bepinselt; und das schmeichelt den Leuten, das flößt Ansehen ein ... Oh, das ist noch solide genug, solange wie wir leben, hält das immer noch!«

Er ließ ihn erneut die Diele durchqueren, die ihr Licht durch ein Mattglasfenster erhielt. Links, zum Hof zu, lag ein zweites Zimmer, in dem seine Tochter Angèle schlief; und da es ganz in Weiß gehalten war, herrschte darin an diesem Novembernachmittag Grabestraurigkeit. Hinten am Gang lag sodann die Küche, in die der Architekt ihn durchaus führen wollte, denn er sagte, man müsse alles kennenlernen.

»Treten Sie doch ein«, sagte er mehrmals und stieß die Tür auf.

Aus der Küche drang fürchterlicher Lärm. Trotz der Kälte stand das Fenster weit offen. Die Ellbogen auf die Schutzstange vor dem Fenster gestützt, beugten sich die schwarzbraune Zofe und eine fette Köchin, eine geradezu überquellende Alte, auf den engen Schacht eines Innenhofes hinaus, der die in jedem Stockwerk einander gegenüberliegenden Küchen mit Licht versorgte. Sie schrien beide zugleich herum, reckten ihre prallen Hüften, während aus der Tiefe dieses Schlauches mit Gelächter und Flüchen vermischte pöbelhafte Stimmen heraufschollen. Das war gleichsam das Abflußrohr eines Gullys: die ganze Dienerschaft des Hauses war hier versammelt und ergötzte sich. Octave entsann sich der bürgerlichen Majestät des Hauptaufgangs.

Aber von einem Instinkt gewarnt, hatten sich die beiden Frauen umgewandt. Sie standen betroffen da, als sie den Hausherrn mit einem anderen Herrn erblickten. Ein kurzes, leises Pfeifen war zu hören, Fenster schlossen sich, alles sank in Totenstille zurück.

»Was ist denn, Lisa?« fragte Campardon.

»Herr Campardon«, erwiderte die Zofe ganz aufgeregt, »es war wieder mal Adèle, diese Schmutzliese. Sie hat die Eingeweide eines Kaninchens zum Fenster hinausgeworfen ... Der Herr sollten mal mit Herrn Josserand reden.«

Campardon blieb ernst, denn er war bestrebt, sich auf nichts einzulassen. Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, während er zu Octave sagte:

»Sie haben alles gesehen. Die Wohnungen sind in jedem Stockwerk gleich. Meine eigene kostet zweitausendfünfhundert Francs Jahresmiete, und das im dritten Stock! Die Mieten steigen von Tag zu Tag ... Herr Vabre muß aus seinem Haus an die zweiundzwanzigtausend Francs jährlich herausholen. Und das wird sich noch erhöhen, denn es wird davon gesprochen, daß vom Place de la Bourse bis zur neuen Oper eine breite Straße angelegt werden soll ... Ein Haus, zu dem er den Grund und Boden vor kaum zwölf Jahren umsonst gekriegt hat, als damals das Dienstmädchen eines Drogisten jenes Großfeuer verursacht hatte!«

Als sie eintraten, erblickte Octave über einem Zeichentisch im hellen Licht des Fensters ein Heiligenbild mit einem prächtigen Rahmen, eine Muttergottes, vor deren offener Brust ein riesiges Herz in Flammen stand. Er vermochte eine gewisse Überraschung nicht zu unterdrücken; er blickte Campardon an, den er in Plassans als großen Spötter kennengelernt hatte.

»Ach, das habe ich Ihnen ja gar nicht gesagt«, versetzte dieser und wurde ein klein wenig rot, »ich bin zum Diözesanarchitekten ernannt worden, ja, in Evreux. Oh, an Bezahlung bekomme ich eine Lappalie, im ganzen kaum zweitausend Francs im Jahr. Aber zu machen ist gar nichts, von Zeit zu Zeit eine Reise dahin; im übrigen habe ich einen Inspektor dort ... Und sehen Sie, es macht viel aus, wenn man ›Regierungsbaumeister‹ auf seine Visitenkarten drucken lassen kann. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Aufträge mir das in der feinen Gesellschaft verschafft.« Beim Reden betrachtete er die Muttergottes mit dem lodernden Herzen. »Alles in allem«, fuhr er in einer jähen Anwandlung von Offenheit fort, »sind mir ihre Mätzchen schnuppe!«

Da Octave aber angefangen hatte zu lachen, bekam es der Architekt mit der Angst zu tun. Warum sollte er sich diesem jungen Mann anvertrauen? Er warf ihm einen scheelen Blick zu, setzte eine zerknirschte Miene auf, bemühte sich, seinen Satz zurückzunehmen.

»Sie sind mir schnuppe und sind mir auch wieder nicht schnuppe ... Mein Gott, ja, ich bringe es eben zu etwas. Sie werden sehen, Sie werden sehen, mein Freund, wenn Sie ein wenig älter geworden sind, werden Sie es wie alle Welt machen.« Und er sprach von seinen zweiundvierzig Jahren, von der Leere des Daseins, gab sich melancholisch, was in schroffem Gegensatz zu seiner blühenden Gesundheit stand. An dem Künstlerkopf, den er sich mit dem lang wallenden Haar und dem nach Heinrich IV. benannten Bart5 zurechtgemacht hatte, entdeckte man den flachen Schädel und die eckige Kinnlade eines Spießbürgers mit beschränktem Verstand und gierigen Gelüsten. In jüngeren Jahren war er von einer Fröhlichkeit gewesen, die einem auf die Nerven ging.

Octaves Augen waren an einer Nummer der »Gazette de France6« haftengeblieben, die zwischen Plänen herumlag. Da läutete der immer verlegener werdende Campardon nach der Zofe, um sich zu erkundigen, ob die gnädige Frau nun endlich zu sprechen sei. Ja, der Doktor breche gerade auf, die gnädige Frau werde gleich kommen.

»Ist Ihre Gattin denn leidend?« fragte der junge Mann.

»Nein, es geht ihr wie immer«, sagte der Architekt mit verdrossener Stimme.

»Aha, und was fehlt ihr denn?«

Der Architekt, der wieder verlegen wurde, antwortete ausweichend: »Sie wissen ja, bei den Frauen geht immer was entzwei ... So geht es ihr seit dreizehn Jahren, seit ihrer Niederkunft ... Sonst ist sie kerngesund. Sie werden sogar finden, daß sie üppig geworden ist.«

Octave drang nicht weiter in ihn. Eben erschien Lisa wieder und brachte eine Visitenkarte; und der Architekt entschuldigte sich, stürzte zum Salon und bat den jungen Mann, er möge sich gedulden und inzwischen mit seiner Frau plaudern. Octave hatte durch die rasch geöffnete und wieder geschlossene Tür in der Mitte des großen in Weiß und Gold gehaltenen Raumes den schwarzen Fleck einer Soutane erblickt.

 

Im selben Augenblick kam Frau Campardon von der Diele her herein. Er erkannte sie nicht wieder. Früher, als er noch ein junger Bengel gewesen und sie in Plassans bei ihrem Vater, Herrn Domergue, dem Inspektor beim Brücken- und Straßenbauamt, gesehen hatte, war sie mager und häßlich gewesen und mit zwanzig Jahren so schmächtig wie ein Backfisch, dem die Pubertätskrise zu schaffen macht; und nun, da er sie wiedersah, war sie mollig, hatte die helle und ausgeruhte Gesichtsfarbe einer Nonne, zärtliche Augen, Grübchen und sah aus wie eine Naschkatze. Hatte sie auch nicht hübsch werden können, so war sie doch um die Dreißig herum gereift und hatte dabei den süßen Geschmack und den frischen Duft von Herbstobst angenommen. Es fiel Octave nur auf, daß ihr das Gehen Mühe machte und sie dabei in der Hüfte hin und her schwankte, was ihr bei dem langen, resedafarbenen seidenen Morgenrock, den sie trug, etwas Schmachtendes verlieh.

»Aber Sie sind ja jetzt ein Mann!« sagte sie fröhlich mit ausgestreckten Händen. »Wie Sie seit unserer letzten Reise gewachsen sind!« Und sie betrachtete ihn: er war groß, brünett, ein hübscher Bursche mit gepflegtem Schnurrbart und Kinnbart. Als er sein Alter nannte, zweiundzwanzig Jahre, brach sie in Verwunderung aus: er sehe mindestens wie fünfundzwanzig aus.

Er, den die Gegenwart einer Frau, selbst die des verworfensten Dienstmädchens, mit Entzücken erfüllte, lachte perlend und liebkoste sie mit dem Blick seiner samtweichen altgoldfarbenen Augen.

»Ach ja«, sagte er lässig mehrere Male, »ich bin gewachsen, ich bin gewachsen ... Erinnern Sie sich noch, wie Ihre Cousine Gasparine mir Murmeln gekauft hat?« Darauf erzählte er ihr, wie es ihren Eltern ging. Herr und Frau Domergue lebten glücklich in dem Haus, in dem sie sich zur Ruhe gesetzt hatten; sie klagten nur, daß sie recht einsam wären, sie verargten es Campardon, daß er ihnen während eines geschäftlichen Aufenthaltes in Plassans ihre kleine Rose entführt hatte. Dann suchte der junge Mann das Gespräch wieder auf die Cousine Gasparine zu bringen, denn er hatte eine alte Neugier zu befriedigen, die er als frühreifer Schlingel anläßlich eines unaufgeklärt gebliebenen Ereignisses empfunden hatte: der jähe Anfall von Leidenschaft des Architekten für Gasparine, ein schönes, großes, aber mittelloses Mädchen, und dann seine plötzliche Heirat mit der mageren Rose, die dreißigtausend Francs Mitgift bekam; und ein regelrechter Auftritt mit Tränenergüssen und ein Zerwürfnis, die Flucht der Verlassenen nach Paris zu einer Tante, die Schneiderin war.

Aber Frau Campardon, deren Sinne so abgeklärt waren, daß sie nichts mehr aus der Ruhe bringen konnte, behielt ihre rosige Blässe und schien nicht zu verstehen. Er konnte nichts Näheres aus ihr herausbringen.

»Und Ihre Eltern?« fragte nun sie. »Wie geht es Herrn und Frau Mouret?«

»Sehr gut, vielen Dank«, erwiderte er. »Meine Mutter kommt aus ihrem Garten nicht mehr heraus. Sie würden das Haus in der Rue de la Banne so wiederfinden, wie Sie es verlassen haben.«

Frau Campardon, die anscheinend nicht lange stehen konnte, ohne zu ermüden, hatte sich auf einen hohen Zeichenstuhl gesetzt und die Beine unter ihrem Morgenrock langgestreckt; und einen niedrigen Sessel heranrückend, hob Octave mit der ihm zur Gewohnheit gewordenen anbetungsvollen Miene den Kopf, um mit ihr zu reden. Trotz seiner breiten Schultern wirkte er fraulich, er hatte einen Sinn für Frauen, der ihm sogleich ihre Herzen öffnete. So plauderten sie beide denn auch nach zehn Minuten bereits wie alte Freundinnen.

»Nun bin ich also bei Ihnen in Kost?« sagte er und strich sich mit seiner schönen Hand, deren Nägel untadelig geschnitten waren, über den Bart. »Wir werden gut miteinander auskommen, das werden Sie sehen ... Es war wirklich reizend von Ihnen, sich des Bengels aus Plassans zu erinnern und sich beim ersten Wort um alles zu kümmern!«

Aber sie wehrte ab.

»Nein, mir dürfen Sie nicht danken. Ich bin viel zu träge, ich rühre mich nicht mehr vom Fleck. Achille, der hat alles geregelt ... Und genügte es denn übrigens nicht, daß meine Mutter uns Ihren Wunsch anvertraut hat, bei einer Familie in Kost zu gehen, um uns auf den Gedanken zu bringen, Ihnen unser Haus zu öffnen? Sie schneien ja nicht bei fremden Leuten herein, und wir haben dadurch ein bißchen Gesellschaft.«

Nun erzählte er von seinen Angelegenheiten. Nachdem er, um seine Familie zufriedenzustellen, endlich das Abiturientenzeugnis erlangt hatte, war er die vergangenen drei Jahre in Marseille bei einer großen Firma gewesen, die mit bedrucktem Kattun handelte und deren Fabrik in der Umgebung von Plassans lag. Der Handel war seine Leidenschaft, der Handel mit Luxusartikeln für die Frau, bei dem etwas Verlockendes mit im Spiel ist, ein langsames Besitzergreifen durch goldene Worte und schmeichlerische Blicke. Und er erzählte mit sieghaftem Lachen, wie er die fünftausend Francs verdient hatte, ohne die er sich – denn unter dem äußeren Schein eines liebenswürdigen Windhunds verbarg sich die Schläue eines Juden – niemals nach Paris gewagt hätte.

»Stellen Sie sich vor, die da hatten einen Pompadourkattun7, ein veraltetes Muster, etwas Wunderschönes ... Es biß niemand an; seit zwei Jahren lag er in den Kellerräumen ... Da kam mir, als ich gerade die Departements8 Var und Basses-Alpes abgrasen wollte, der Gedanke, den ganzen Posten aufzukaufen und ihn auf eigene Rechnung an den Mann zu bringen. Oh, das war ein Erfolg, ein toller Erfolg! Die Frauen rissen sich um die Reste; da unten gibtʼs heute nicht eine, die nicht etwas von meinem Kattun auf dem Leibe trüge ... Allerdings habe ich sie wirklich hübsch eingewickelt! Alle gehörten sie mir, ich hätte mit ihnen machen können, was ich wollte.«

Und er lachte, während ihn Frau Campardon hingerissen, verwirrt von dem Gedanken an diesen Pompadourkattun, ausfragte. Sträußchen auf ungebleichtem Grund, nicht wahr? So etwas habe sie überall für einen Sommermorgenrock gesucht.

»Zwei Jahre bin ich umhergereist, das genügt«, versetzte er. »Außerdem muß ich doch Paris erobern ... Ich werde mir unverzüglich etwas suchen.«

»Wie?« rief sie aus. »Hat Ihnen Achille nichts erzählt? Er hat doch eine Stelle für Sie, und zwar ganz in der Nähe!«

Octave bedankte sich, staunte, als wäre er im Schlaraffenland, fragte aus Spaß, ob er abends in seinem Zimmer nicht gar eine Frau und ein Vermögen mit hunderttausend Francs Jahreszinsen vorfinden würde, da stieß ein vierzehnjähriges, lang aufgeschossenes und häßliches Mädchen mit fadem Blondhaar die Tür auf und schrie leise vor Erschrecken auf.

»Komm herein und hab keine Angst«, sagte Frau Campardon. »Das ist Herr Octave Mouret, von dem du uns schon hast reden hören.« Sich zu Octave umwendend, sagte sie dann: »Meine Tochter Angèle ... Wir hatten sie bei unserer letzten Reise nicht mitgenommen. Sie war so schwächlich! Aber nun wird sie ja ein bißchen voller.«

Angèle hatte sich mit der mürrischen Befangenheit von Mädchen in diesem ungünstigen Alter hinter ihre Mutter gestellt. Sie ließ ihre Blicke über den lächelnden jungen Mann gleiten.

Fast gleich darauf kam Campardon ganz aufgekratzt wieder zum Vorschein; und er konnte nicht an sich halten, er erzählte seiner Frau in wenigen abgerissenen Sätzen von dem Glücksfall: Abbé Mauduit, Vikar an der Kirche Saint-Roch, wegen Bauarbeiten; bloß eine Reparatur, die ihn aber weit bringen könne. Er ärgerte sich zwar darüber, daß er in Octaves Gegenwart geplaudert hatte, war aber immer noch so aufgeregt, daß er in die Hände klatschte und sagte: »Hm, hm, was machen wir nun?«

»Aber Sie wollten doch ausgehen«, sagte Octave. »Ich will Sie nicht abhalten.«

»Achille«, murmelte Frau Campardon, »diese Stelle da bei den Hédouins ...«

»Ach ja, richtig!« rief der Architekt aus. »Mein Lieber, eine Stelle als erster Verkäufer in einem Modewarengeschäft. Ich kenne dort jemanden, der sich für Sie verwendet hat ... Man erwartet Sie. Es ist noch nicht vier Uhr, soll ich Sie vorstellen?«

Octave zögerte, da er wegen des Knotens seiner Krawatte besorgt war und sich bei seiner Leidenschaft für untadelige Kleidung unsicher fühlte. Er entschloß sich jedoch, als Frau Campardon ihm geschworen hatte, er sehe sehr anständig aus. Mit einer schmachtenden Bewegung hatte sie ihrem Mann die Stirn hingehalten, die dieser mit überströmender Zärtlichkeit küßte, wobei er immer wieder sagte: »Leb wohl, mein Kätzchen ... Leb wohl, mein Puttchen ...«

»Wissen Sie, wir essen um sieben Uhr zu Abend«, sagte sie, während sie beide durch den Salon begleitete, wo die Herren ihre Hüte holten.

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