Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur

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Der Bauch von Paris

Emile Zola

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Impressum

Kapitel I

In dem tief en Schweigen und der Öde der breiten Straße zogen die Wagen der Gemüsebauern nach Paris hinauf mit dem rhythmischen Rumpeln der Räder, das von den Fassaden der Häuser widerhallte, die zu beiden Seiten hinter den verschwommenen Reihen der Ulmen schliefen. Ein Karren mit Kohl und ein Karren mit Schoten waren an der Pont de Neuilly zu acht Wagen mit Kohlrüben und Möhren gestoßen, die von Nanterre herunterkamen; und die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen in ihrer stetigen und trägen Gangart, die durch die Steigung noch langsamer wurde. Oben auf den Gemüseladungen lagen die Fuhrleute unter ihren schwarz und grau gestreiften großen Mänteln auf dem Bauch ausgestreckt und dösten, die Zügel um die Handgelenke gelegt. Immer wenn ein Wagen aus dem Dunkel in den Bereich einer Gaslaterne kam, traf ihr Licht die Nägel einer Schuhsohle, den blauen Ärmel eines Kittels, das Stück einer Mütze, die zwischen der ungeheuren Üppigkeit der roten Möhren und der weißen Kohlrübenbüschel und dem überquellenden Grün von Schoten und Kohl hervorsahen, und vor und hinter ihnen auf dieser Landstraße und auf den benachbarten Straßen ließ entferntes Rattern auf ähnliche Geleitzüge schließen, die die Finsternis und den schweren Schlaf der zweiten Morgenstunde durchquerten, das ganze Heranbranden der Nahrungszufuhr, das mit dem Lärm seines Vorbeiziehens die schwarze Stadt wiegte.

Balthasar, das allzu wohlgenährte Pferd von Frau François, hielt die Spitze des Zuges. Er ging halb im Schlaf, mit den Ohren spielend, als er plötzlich auf der Höhe der Rue Longchamp stehenblieb, vor Schreck wie angewurzelt mit seinen vier Beinen. Die anderen Tiere stießen mit dem Kopf gegen das Hinterteil der vor ihnen fahrenden Wagen, und unter dem Klirren von Eisenteilen und dem Fluchen der aus dem Schlaf gerissenen Fuhrleute kam der Zug zum Halten. Frau François, die sich an ein Brett gegen ihr Gemüse lehnte, sah hin, konnte aber in dem spärlichen Schein, den links die viereckige Laterne warf und der gerade nur eine der glänzenden Flanken Balthasars beleuchtete, nichts erkennen.

»He! Mutter François! Vorwärts!« rief einer der Männer, der auf seinen Kohlrüben kniete. »Das ist irgendein besoffenes Schwein ...«

Die Frau hatte sich vorgebeugt und zu ihrer Rechten, fast unter den Hufen des Pferdes, eine schwarze Masse gewahrt, die die Straße versperrte.

»Man kann doch keine Leute überfahren«, meinte sie und sprang auf die Erde.

Es war ein Mann, der mit dem Gesicht im Staub und mit ausgebreiteten Armen der Länge nach hingestürzt war. Er schien ungewöhnlich groß zu sein und dürr wie ein vertrockneter Zweig; es war ein Wunder, daß ihn Balthasar nicht mit einem Huf tritt zerschmettert hatte. Frau François hielt ihn für tot; sie kauerte sich vor ihn hin, ergriff seine Hand und fühlte, daß sie warm war.

»He! Mann!« sagte sie sanft.

Aber die Fuhrleute wurden ungeduldig. Der Mann, der auf seinem Gemüse kniete, ließ sich wieder mit seiner heiseren Stimme vernehmen:

»Schlagt mit der Peitsche zu, Mutter François! – Der ist voll, das verdammte Schwein! Schieben Sie ihn doch in den Rinnstein!«

Der Mann hatte inzwischen die Augen geöffnet. Verstört und ohne sich zu rühren, sah er Frau François an. Sie glaubte, er sei wirklich betrunken.

»Sie können hier nicht liegenbleiben, Sie werden doch überfahren«, meinte sie zu ihm. »Wo wollen Sie denn überhaupt hin?«

»Ich weiß nicht ...«, antwortete er mit leiser Stimme und fuhr dann mühsam und mit unruhigem Blick fort: »Ich wollte nach Paris, ich bin hingefallen, ich weiß nicht ...«

Sie sah ihn jetzt deutlicher, und er wirkte jämmerlich mit seiner schwarzen Hose und seinem schwarzen Überzieher, die beide ganz zerschlissen waren und seine dürren Knochen sehen ließen. Unter seiner Mütze aus grobem schwarzem Stoff, die er ängstlich bis auf die Brauen heruntergezogen hatte, blickten zwei große braune, eigentümlich sanfte Augen aus einem harten und gequälten Gesicht. Frau François dachte, daß er für einen wirklichen Trinker zu mager sei.

»Und wohin wollten Sie in Paris?« fragte sie von neuem.

Er antwortete nicht sofort; dieses Verhör war ihm unangenehm. Er schien zu überlegen. Dann sagte er zögernd:

»Dorthin, wo die Markthallen sind.« Er war mit unendlicher Mühe aufgestanden und machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen.

Die Gemüsebäuerin sah, wie er schwankte und sich auf die Wagendeichsel stützte.

»Sie sind müde?«

»Ja, sehr müde«, murmelte er.

Da schlug sie einen barschen und gleichsam ungehaltenen Ton an, schubste ihn und sagte:

»Los! Schnell! Klettern Sie auf meinen Wagen! Sie bringen uns ja bloß um unsere Zeit! Ich fahre zu den Markthallen, ich lade Sie mit meinem Gemüse ab.« Und als er ablehnen wollte, schob sie ihn mit ihren starken Armen förmlich hoch, warf ihn auf die Möhren und Kohlrüben und rief ganz ärgerlich: »Machen Sie keine Fisimatenten! Mir reicht's nun ... Wenn ich Ihnen doch sage, daß ich zu den Markthallen fahre! Schlafen Sie ruhig, ich wecke Sie schon!«

Sie stieg wieder auf, lehnte sich an das schrägstehende Brett und nahm die Zügel Balthasars in die Hand, der sich wieder in Marsch setzte, einduselte und mit den Ohren spielte. Die anderen Wagen folgten; der Zug nahm seinen langsamen Trott durch die Dunkelheit wieder auf, und von neuem schlug das Rumpeln der Räder gegen die eingeschlafenen Häuserfronten. Die Fuhrleute begannen unter ihren Mänteln wieder zu dösen. Der Fuhrmann, der Frau François angeredet hatte, brummte, als er sich ausstreckte: »Teufel! Wenn man noch die Besoffenen auflesen soll! Ihr habt Ausdauer, Mutter François ...«

Die Wagen rollten, die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen.

Der Mann, den Frau François eben aufgelesen hatte, lag auf dem Bauch, die langen Beine in dem Haufen Kohlrüben verloren, die den Hinterteil des Wagens ausfüllten. Sein Gesicht versank in den Möhren, deren Bündel sich türmten und aufgingen; und während er aus Furcht, durch einen Stoß hinuntergeschleudert zu werden, mit seinen ausgebreiteten, abgezehrten Armen die riesige Gemüseladung umklammerte, sah er die beiden endlosen Reihen der Gaslaternen vor sich, die näher kamen und ganz dort oben in einem Gewimmel anderer Lichter verschwammen. Ein weiter weißer Dunst wallte am Horizont und hüllte das schlafende Paris in den leuchtenden Brodem all dieser Flammen.

»Ich bin aus Nanterre und heiße Madame François«, begann die Gemüsebäuerin nach einer Weile. »Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, fahre ich jeden Morgen zu den Markthallen. Ach, gehen Sie mir, das ist schwer! – Und Sie?«

»Ich heiße Florent, ich komme von weit her ...«, antwortete der Unbekannte verlegen. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich bin so erschöpft, daß es mir schwerfällt zu sprechen.« Er wollte nicht reden.

Sie schwieg also und ließ die Zügel ein wenig lockerer über Balthasars Kruppe hängen, der seinen Weg wußte und jeden Pflasterstein kannte.

Die Augen auf den unermeßlichen Lichtschein von Paris geheftet, dachte Florent an die Geschichte, die er verschwieg. Aus Cayenne1 entflohen, wohin ihn die Dezemberereignisse2 geworfen hatten, war er zwei Jahre in HolländischGuayana herumgeirrt in dem irrsinnigen Verlangen nach Heimkehr und in der Furcht vor der kaiserlichen Polizei, und nun lag endlich die geliebte, große Stadt, nach der er sich so gesehnt, nach der er so verlangt hatte, vor ihm. Hier würde er sich verbergen, hier würde er sein friedliches Leben von einst führen. Die Polizei würde nichts davon erfahren. Übrigens mußte er für sie drüben gestorben sein. Und er rief sich seine Ankunft in Le Havre ins Gedächtnis zurück, bei der er nur noch fünfzehn Francs in einem Zipfel seines Taschentuchs gefunden hatte. Bis Rouen konnte er einen Wagen nehmen. Von dort ging er zu Fuß weiter, weil ihm kaum noch dreißig Sous3 blieben. In Vernon aber kaufte er sich für seine letzten zwei Sous Brot. An das, was danach kam, konnte er sich nicht mehr erinnern. Er glaubte mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarmen hatte er die Papiere, die er sich beschafft hatte, zeigen müssen. Das alles tanzte in seinem Kopf. Ohne etwas zu essen, war er von Vernon bis hierher gekommen unter plötzlichen Wut und Verzweiflungsanfällen, die ihn dazu trieben, die Blätter der Hecken zu kauen, an denen er entlangkam; und er ging weiter, von Krämpfen und Schmerzen gepackt, den Bauch zusammengekrümmt, den Blick getrübt, die Füße, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie angezogen von jener Vision von Paris, das weit, ganz weit hinter dem Horizont, ihn rief, ihn erwartete. Als er in Courbevoie anlangte, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem Stück bestirnten Himmels glich, der auf eine Ecke der schwarzen Erde herabgefallen war, kam ihm streng vor und gleichsam erzürnt über seine Rückkehr. Da befiel ihn Schwäche, und die Beine wie zerschlagen, ging er die Höhe hinunter. Als er den Pont de Neuilly überquerte, lehnte er sich auf das Geländer, beugte sich über die Seine, die tintenschwarze Wogen zwischen den dichten Massen der Ufer dahinwälzte; eine rote Schiffslaterne über dem Wasser sah ihn mit blutendem Auge nach. Jetzt mußte er bergauf, um Paris ganz da oben zu erreichen. Unermeßlich erschien ihm die Straße. Die Hunderte von Meilen, die er zurückgelegt hatte, waren nichts; dieses Wegstück brachte ihn zur Verzweiflung. Niemals würde er diesen von jenen Lichtern gekrönten Gipfel erreichen. Glatt dehnte sich die Straße mit ihren Reihen großer Bäume und niedriger Häuser, den breiten, grauen, vom Schatten der Zweige gefleckten Bürgersteigen, den düsteren Löchern der Querstraßen, all ihrer Stille und all ihrer Finsternis; und allein die in regelmäßigen Abständen aufgereckten Gaslaternen belebten mit ihren kurzen gelben Flämmchen diese Öde des Todes. Florent kam nicht mehr von der Stelle; die Straße wurde immer länger und rückte Paris weiter zurück in die Tiefe der Nacht. Es schien ihm, als liefen die Gaslaternen mit ihrem einen Auge rechts und links davon und trügen die Straße mit fort. Er taumelte in diesem Wirbel; wie eine leblose Masse sackte er auf dem Pflaster zusammen.

 

Jetzt rollte er sanft auf diesem Lager von Grünzeug dahin, das ihm weich wie Federn vorkam. Er hatte das Kinn ein wenig gehoben, um den leuchtenden, immer mehr zunehmenden Dunst über den schwarzen Dächern zu sehen, die er am Horizont ahnte. Er kam an, er wurde getragen, er brauchte sich nur den langsamer werdenden Stößen des Wagens zu überlassen, und bei diesem mühelosen Näherkommen litt er nur noch unter dem Hunger. Der Hunger war wieder erwacht, unerträglich, grausam. Seine Glieder schliefen; er spürte nur, wie sich sein Magen um und um drehte und wie von glühenden Zangen zerrissen wurde. Der frische Duft des Gemüses, in das er versunken war, dieser scharfe Geruch der Möhren ließ ihn fast ohnmächtig werden. Mit aller Kraft preßte er die Brust gegen dieses tiefe Bett von Nahrung, um seinen Magen abzuschnüren, um ihn am Schreien zu hindern. Und hinter ihm die neun anderen Fuhrwerke mit ihren Bergen von Kohl, ihren Bergen von Schoten, ihren Haufen von Artischocken, Salat, Sellerie und Porree schienen langsam auf ihn zuzurollen und ihn in seinem Ringen mit dem Hungertode wie unter einer Lawine von Fraß begraben zu wollen.

Plötzlich gab es einen Aufenthalt, ein Lärmen grober Stimmen: das war der Schlagbaum. Die Zollbeamten untersuchten die Wagen.

Dann zog Florent auf den Rüben in Paris ein, seiner Sinne nicht mächtig, die Zähne zusammengepreßt.

»He! Sie, Mann, da oben!« schrie Frau François barsch. Und da er sich nicht rührte, stieg sie hinauf und rüttelte ihn.

Florent setzte sich auf. Er hatte geschlafen und spürte seinen Hunger nicht mehr; er war völlig abgestumpft.

Die Gemüsebäuerin ließ ihn herunterkommen und sagte zu ihm: »Sie werden mir abladen helfen, ja?«

Er half ihr.

Ein dicker Mann mit Stock und Filzhut, der am linken Mantelaufschlag ein Schildchen trug, wurde ungehalten und stieß mit der Spitze seines Stocks auf den Bürgersteig.

»Los doch, los doch! Ein bißchen schneller! Lassen Sie den Wagen vorfahren ... Wie viele Meter haben Sie? Vier, nicht wahr?« Er händigte Frau François, die ein paar Zweisousstücke aus einem kleinen Leinenbeutel hervorholte, einen Schein aus und ging etwas weiter, um dort ungehalten zu werden und mit dem Stock aufzustoßen.

Die Gemüsebäuerin hatte Balthasar am Zaum genommen, ihn zurückgedrängt und den Wagen mit den Rädern dicht an den Bürgersteig geschoben. Nachdem sie ihre vier Meter auf dem Bürgersteig mit Strohbüscheln abgesteckt hatte, hob sie das Brett hinten am Wagen heraus und bat dann Florent, ihr das Gemüse Bund für Bund zuzureichen. Sie stapelte es ordentlich auf dem Pflaster, putzte die Ware, verteilte die Blätter so, daß ein Streifen Grün die Haufen umrahmte, und richtete mit einzigartiger Behendigkeit eine ganze Auslage her, die im Dunkeln einer Stickerei mit symmetrisch verteilten Farben glich. Als ihr Florent ein großes Bund Petersilie reichte, das er hinten gefunden hatte, bat sie ihn um noch einen Gefallen.

»Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie auf meine Ware aufpassen würden, während ich den Wagen unterstellen gehe ... Es sind zwei Schritt von hier, im ›Compas d'Or‹4 in der Rue Montorgueil.«

Er versicherte ihr, sie könne unbesorgt sein. Die Bewegung war nicht gut für ihn; seit er sich rührte, fühlte er, wie sein Hunger wieder erwachte. Er setzte sich mit dem Rücken an einen Haufen Kohl neben der Ware von Frau François, sagte sich, daß er es hier aushalten, daß er sich nicht mehr regen, daß er abwarten würde. Sein Kopf kam ihm ganz leer vor, und er konnte sich nicht deutlich erklären, wo er sich befand. Von den ersten Septembertagen an ist es frühmorgens ganz dunkel. Die Laternen um ihn herum blakten sanft und drangen nicht durch die Finsternis. Er saß am Rande einer breiten Straße, die er nicht wiedererkannte. Weit weg versank sie in der stockdunklen Nacht. Außer der Ware, die er bewachte, konnte er kaum etwas unterscheiden. Drüben türmten sich längs der Steinplatten undeutliche Haufen. In der Mitte des Fahrdamms versperrten grau wirkende Umrisse von großen zweirädrigen Karren die Straße; und ein Schnaufen, das vorüberstrich, ließ von einem Ende zum andern eine Reihe von angeschirrten Tieren ahnen, die nicht zu sehen waren. Zurufe, der Lärm, wenn ein Stück Holz oder eine Eisenkette aufs Pflaster fiel, der dumpfe Lawinenrutsch einer Wagenladung Gemüse, das letzte Rücken eines Wagens, der an die Bordschwelle stieß, brachten in die noch schlafende Luft das sanfte Raunen eines dröhnenden und ungeheuren Erwachens, das man in der Tiefe dieses bebenden Dunkels herannahen fühlte. Als sich Florent umwandte, gewahrte er an der andern Seite seiner Kohlköpfe einen Mann, der, den Kopf auf einem Korb Pflaumen, wie ein Paket in einen Mantel eingewickelt, dalag und schnarchte. Mehr in seiner Nähe erkannte er links ein Kind von ungefähr zehn Jahren, das mit dem Lächeln eines Engels in einer Kuhle zwischen zwei Bergen von Schikoree eingeschlummert war. Und außer den Laternen am Rande des Bürgersteigs, die am Ende unsichtbarer Arme tanzten und über den Schlaf der da herumliegenden Menschen und Gemüsehaufen, die auf den Tag warteten, mit einem Satz hinwegsprangen, war noch nichts richtig wach. Aber was ihn in Erstaunen setzte, waren riesige Hallen zu beiden Seiten der Straße, deren übereinandergetürmte Dächer immer größer zu werden, sich auszudehnen und sich in einem zerstiebenden Schimmer zu verlieren schienen. Sein entkräfteter Geist träumte von einer Reihe unermeßlicher und ebenmäßiger Paläste von kristallener Schwerelosigkeit, die auf ihren Fassaden tausend Flammenstreifen sich unendlich fortsetzender Jalousien entzündeten. Zwischen den schmalen Pfeilern bildeten diese dünnen gelben Stäbe Leitern von Licht, die bis zu der dunklen Linie der ersten Dächer emporstiegen, die darauf gehäuften oberen Dächer erklommen und die großen Gerippe unendlicher Räume in ihrer Vierschrötigkeit sehen ließen, wo unter dem gelben Schein der Gasflammen ein Durcheinander von grauen, verschwommenen und schlafenden Gestalten herumlag. Er wandte den Kopf, ärgerlich darüber, daß er nicht wußte, wo er sich befand, beunruhigt durch diese kolossale und hinfällige Erscheinung; und als er aufblickte, gewahrte er das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache und die graue Masse der Kirche. Das verwunderte ihn tief. Er befand sich an der Pointe SaintEustache.

Inzwischen war Frau François wiedergekommen. Sie hatte einen heftigen Wortwechsel mit einem Mann, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr für ihre Möhren einen Sou für das Bund zahlen wollte.

»Hören Sie, Sie sind wohl nicht bei Trost. Lacaille ... Sie verkaufen sie für vier und fünf Sous an die Pariser weiter, streiten Sie das nicht ab ... Für zwei Sous, meinetwegen.« Und als der Mann ging, fuhr sie fort: »Die Leute glauben, das wächst von selber, wahrhaftig ... Soll er ich Möhren für einen Sou suchen, dieser versoffne Lacaille ... Passen Sie auf, er kommt zurück«, wandte sie sich an Florent. Sich neben ihn setzend, redete sie dann weiter: »Sagen Sie mal, wenn Sie lange von Paris fort waren, kennen Sie vielleicht die neuen Markthallen noch gar nicht? Es ist ja höchstens fünf Jahre her, daß sie gebaut wurden ... Da, sehen Sie, das neben uns ist die Blumen und Obsthalle, etwas weiter die für Seefische, die für Geflügel und dahinter die für Grobgemüse, für Butter und Käse ... Sechs Hallen sind auf dieser Seite und dann gegenüber auf der anderen Seite noch vier – für Fleisch, für Kaldaunen – und La Vallée5... Alles sehr groß, aber im Winter schauderhaft kalt. Sie wollen ja noch zwei Hallen bauen und die Häuser bei der Getreidehalle abreißen. Kannten Sie das alles schon?«

»Nein«, antwortete Florent. »Ich war im Ausland ... Und diese große Straße, die hier vor uns, wie heißt die?«

»Das ist eine neue Straße, die Rue du PontNeuf, die von der Seine ausgeht und bis hierher, bis zur Rue Montmartre und zur Rue Montorgueil, führt ... Wenn es Tag wäre, würden Sie sich gleich zurechtfinden.« Sie stand auf, weil sie eine Frau sah, die sich über ihre Kohlrüben beugte. »Ach, Sie sind es, Mutter Chantemesse?« sagte sie freundlich.

Florent blickte die Rue Montorgueil hinunter. Dort war es, wo ihn in der Nacht vom 4. Dezember ein Trupp Schutzleute festgenommen hatte. Er war gegen zwei Uhr den Boulevard Montmartre mitten in der Menge gemächlich hinuntergegangen und hatte über alle diese Soldaten gelächelt, die das Elysée6 auf der Straße herumspazieren ließ, damit man es ernst nehme, als plötzlich die Soldaten rücksichtslos innerhalb einer Viertelstunde die Straße räumten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Rue Vivienne hin; und er wußte nichts mehr. In entsetzlicher Angst vor den Schüssen stürzte die wahnsinnig gewordene Menge über ihn hinweg. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich aufrichten. Auf ihm lag eine junge Frau mit einem rosa Hütchen, deren Schal herabgeglitten war und ein in kleine Falten gelegtes Brusttuch sehen ließ. Oberhalb des Busens hatten zwei Kugeln das Brusttuch durchschlagen; und als er sanft die junge Frau wegschob, um seine Beine freizubekommen, flossen aus den Löchern zwei dünne Fäden Blut auf seine Hände. Da sprang er mit einem Satz auf und lief wie besessen ohne Hut und mit nassen Händen davon. Bis zum Abend streifte er kopflos umher und sah immerzu die junge Frau quer über seinen Beinen liegen mit ihrem ganz bleichen Gesicht, ihren großen blauen offenen Augen, ihren schmerzlichen Lippen und ihrem Erstaunen, so schnell gestorben zu sein. Er war schüchtern; mit dreißig Jahren wagte er nicht, Frauen ins Gesicht zu sehen, und bewahrte diese hier für sein Leben in seinem Gedächtnis und seinem Herzen. Es war gleichsam eine Frau, die ihm gehörte und die er verloren hatte. Am Abend fand er sich, ohne zu wissen wie, noch erschüttert von den schrecklichen Ereignissen des Nachmittags, in der Rue Montorgueil, in einem Weinausschank, wo Männer tranken und dabei vom Barrikadenbauen sprachen. Er ging mit ihnen, half ein paar Pflastersteine herausreißen und setzte sich, müde vom Herumlaufen in den Straßen, auf die Barrikade und sagte sich, daß er kämpfen würde, wenn die Soldaten kommen sollten. Er hatte nicht einmal ein Messer bei sich und war noch immer barhäuptig. Gegen elf Uhr schlummerte er ein; er sah in dem weißen Brusttuch mit den kleinen Falten die beiden Löcher, die ihn wie zwei rote Augen voller Tränen und Blut anschauten. Als er aufwachte, hielten ihn vier Schutzleute fest, die ihm Faustschläge versetzten. Die Männer von der Barrikade hatten die Flucht ergriffen. Die Schutzleute aber wurden wütend und hätten ihn beinahe erwürgt, als sie gewahrten, daß er Blut an den Händen hatte. Es war das Blut der jungen Frau.

Erfüllt von diesen Erinnerungen blickte Florent zu dem beleuchteten Zifferblatt der Kirche SaintEustache empor, ohne überhaupt die Zeiger zu sehen. Es war fast vier Uhr. Die Hallen schliefen noch immer. Frau François schwatzte im Stehen mit Mutter Chantemesse und handelte um den Preis für das Bund Kohlrüben. Und Florent entsann sich, daß man ihn dort an der Mauer von SaintEustache beinahe erschossen hätte. Ein Zug Gendarmen hatte dort gerade fünf Unglücklichen, die auf einer Barrikade in der Rue Grenéta gefaßt worden waren, die Schädel zerschmettert. Die fünf Leichen lagen auf dem Bürgersteig, an einer Stelle, wo er heute Haufen rosiger Radieschen zu sehen glaubte. Er entging der Erschießung, weil die Schutzleute nur Säbel hatten. Man brachte ihn zu einer Polizeiwache in der Nähe und hinterließ dem Reviervorsteher einen Zettel, auf dem mit Bleistift die Worte: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« geschrieben waren. Bis zum Morgen wurde er von Wache zu Wache geschleppt. Der Zettel begleitete ihn. Man hatte ihm Handschellen angelegt und bewachte ihn wie einen Tobsüchtigen. Auf der Wache in der Rue de la Lingerie wollten ihn betrunkene Soldaten erschießen; sie hatten schon die Laterne angezündet, als der Befehl kam, die Gefangenen zum Depot der Polizeipräfektur zu bringen. Am übernächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Forts Bicêtre7. Von diesem Tage an litt er Hunger; in der Kasematte hungerte er, und seitdem hatte ihn der Hunger nicht mehr verlassen. Etwa hundert waren in diesem luftlosen Keller zusammengepfercht und verschlangen die paar Bissen, die man ihnen wie eingesperrten Tieren zuwarf. Als er vor einen Untersuchungsrichter kam ohne irgendwelche Zeugen, ohne Verteidiger, wurde er beschuldigt, einem Geheimbund anzugehören, und als er schwor, daß das nicht stimme, holte der Richter den Zettel mit der Aufschrift: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« aus seinen Akten hervor. Das genügte. Er wurde zur Deportation verurteilt. Nach sechs Wochen weckte ihn im Januar eines Nachts ein Gefangenenwärter und brachte ihn zu einigen vierhundert anderen Gefangenen in einen Hof. Zwischen zwei Reihen Gendarmen mit geladenem Gewehr machte sich eine Stunde danach dieser erste Zug mit gefesselten Händen auf den Weg zu den Gefangenenschiffen und in die Verbannung. Sie zogen über die Pont d'Austerlitz, folgten der Reihe der Boulevards und kamen zum Gare du Havre. Es war eine fröhliche Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants am Boulevard leuchteten. In der Höhe der Rue Vivienne, an der Stelle, wo Florent noch immer die unbekannte Tote sah, deren Bild er mit sich trug, gewahrte er in einer großen Kalesche maskierte Frauen mit nackten Schultern und lachenden Stimmen, die ungehalten waren, daß sie nicht vorbei konnten, und beim Anblick »dieser Sträflinge, die kein Ende mehr nahmen«, angewidert taten. Von Paris bis Le Havre erhielten die Gefangenen nicht einen Bissen Brot und nicht ein Glas Wasser. Man hatte vergessen, vor dem Abmarsch Verpflegung an sie auszugeben. Erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Laderaum der Fregatte »Le Canada« zusammengepfercht hatte, bekamen sie etwas zu essen.

 

Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er durchforschte seine Erinnerungen und konnte sich nicht entsinnen, eine Stunde satt gewesen zu sein. Er war dürr geworden, der Magen war zusammengeschrumpft, die Haut klebte auf den Knochen. Und er fand Paris wieder, feist, hochmütig, überquellend von Nahrung in der Tiefe der Finsternis; auf einem Bett von Gemüse hielt er seinen Einzug. Er wälzte sich gleichsam in einer unbekannten Welt von Fraß, die er rings um sich wuchern fühlte und die ihn beunruhigte. Die glückliche Karnevalsnacht hatte also sieben Jahre lang fortgedauert. Wieder sah er die leuchtenden Fenster der Boulevards, die lachenden Frauen, die gefräßige Stadt, die er damals in jener fernen Januarnacht verlassen hatte; und es schien ihm, als sei das alles noch gewachsen, als sei es aufgeblüht in dieser Riesenhaftigkeit der Markthallen, deren mächtigen, noch vom Unverdauten des Vortages stickigen Atem er zu spüren begann.

Mutter Chantemesse hatte sich entschlossen, zwölf Bund Rüben zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf dem Bauch, wodurch ihre breite Taille noch umfangreicher wurde; und sie blieb noch da, unausgesetzt schwatzend mit ihrer schleppenden Stimme. Als sie gegangen war, setzte sich Frau François wieder zu Florent und erzählte:

»Die arme Mutter Chantemesse, mindestens zweiundsiebzig ist sie. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon bei meinem Vater ihre Kohlrüben kaufte. Und keinen Verwandten hat sie um sich, niemand außer einem Weibsstück, das sie, ich weiß nicht wo, aufgelesen hat und von dem sie bis aufs Blut gequält wird ... Schlägt sich kümmerlich durch, verkauft ein bißchen und verdient noch ihre vierzig Sous den Tag ... Ich könnte nicht in diesem verfluchten Paris von morgens bis abends auf einem Bürgersteig sitzen. Wenn man hier wenigstens Verwandte hätte!« Und da Florent nichts sagte, fragte sie ihn: »Sie haben Ihre Familie in Paris, nicht wahr?«

Er schien nicht zu hören. Sein Mißtrauen kehrte wieder. Er hatte den Kopf voll von Geschichten über die Polizei, über Spitzel, die an jeder Straßenecke lauerten, über Weiber, die armen Teufeln Geheimnisse entlockten und für Geld preisgaben. Sie saß ganz dicht bei ihm und wirkte mit ihrem großen ruhigen Gesicht, das ein schwarzgelbes Seidentuch über der Stirn straff umspannte, durchaus rechtschaffen auf ihn. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war ein bißchen stark, aber schön infolge ihres Lebens in der frischen Luft; ihre Robustheit wurde durch die wohlwollende Zärtlichkeit ihrer schwarzen Augen gemildert. Sie war sicherlich sehr neugierig, aber mit einer Neugier, die völlig gutmütig zu sein schien.

Ohne Florents Schweigen übelzunehmen, fuhr sie fort:

»Ich hatte in Paris einen Neffen. Er ist nicht gut eingeschlagen, ist freiwillig zu den Soldaten gegangen ... Immerhin, es ist gut, wenn man weiß, wo man bleiben kann. Ihre Angehörigen werden wohl sehr überrascht sein, Sie zu sehen. Und das ist eine Freude, wenn einer wiederkommt, nicht wahr?« Beim Reden ließ sie ihn nicht aus den Augen; zweifellos hatte sie Mitleid mit seiner entsetzlichen Magerkeit, fühlte, daß unter seinen jämmerlichen schwarzen alten Sachen ein »Herr« steckte, und wagte nicht, ihm eine Silbermünze in die Hand zu drücken. Schließlich meinte sie schüchtern: »Wenn Sie inzwischen irgend etwas brauchen sollten ...«

Aber er lehnte mit unruhigem Stolz ab, sagte, er habe alles, was er brauche, und wisse, wo er hingehen könne.

Sie schien froh darüber und wiederholte mehrmals, wie um sich selber über sein Schicksal zu beruhigen:

»Nun ja, dann brauchen Sie ja bloß zu warten, bis es Tag wird.«

Über Florents Kopf begann eine mächtige Glocke an der Ecke der Obsthalle zu läuten. Ihre langsamen und regelmäßigen Schläge schienen nach und nach den auf den Steinplatten herumliegenden Schlaf zu verscheuchen. Es trafen immer noch Wagen ein; die Rufe der Fuhrleute, das Knallen der Peitschen, das Zermalmen des Pflasters unter den eisenbeschlagenen Rädern und den Hufen der Pferde – das alles schwoll an; die Wagen kamen nur noch ruckweise vorwärts, bildeten eine Reihe, erstreckten sich, weiter als der Blick reichte, in grauen Gliedern, aus denen verworrenes Getöse aufstieg. Die ganze Rue du PontNeuf entlang wurde abgeladen, wobei die Karren mit dem Hinterteil gegen die Rinnsteine stießen und die Pferde reglos und dicht nebeneinander aufgestellt wie beim Viehmarkt dastanden. Florent fiel ein riesiger, mit Kot bespritzter Wagen auf, der mit prächtigem Kohl beladen war und sich nur mit großer Mühe an den Bürgersteig zurückschieben ließ; die Fuhre überragte eine unheimlich lange Gaslaterne, die daneben aufgestellt war und deren volles Licht auf den Haufen großer Blätter fiel, die umgeschlagen waren wie Rockschöße aus zugeschnittenem und gaufriertem grobem grünem Samt. Ein Bauernmädchen von etwa sechzehn Jahren in kurzer Jacke und blauer Leinenhaube, das auf den Karren geklettert war und dem der Kohl bis zu den Schultern reichte, ergriff die Köpfe einen nach dem andern und warf sie jemand unten zu, den das Dunkel verbarg. Hin und wieder verlor sich die Kleine unter dieser Lawine, in der sie untertauchte, ausglitt und verschwand; dann erschien ihr rosiges Näschen wieder inmitten des dichten Grüns, und die Kohlköpfe begannen von neuem zwischen der Gaslaterne und Florent vorbeizufliegen. Mechanisch zählte er sie. Als der Wagen leer war, verdroß ihn das.

Auf dem Pflaster erstreckten sich jetzt die abgeladenen Haufen bis zum Fahrdamm. Zwischen den einzelnen Haufen sparten die Gemüsebauern enge Pfade aus, damit die Leute durchgehen konnten. Der ganze breite Bürgersteig war von einem Ende zum andern mit den dunklen Gemüsehöckern bedeckt. In dem jähen und ungleichmäßigen Licht der Laternen war zunächst nur die fleischige Blütenpracht eines Bündels Artischocken, das zarte Grün von Salaten, das Korallenrot der Möhren, das matte Elfenbein der Kohlrüben zu sehen; und dieses Aufblitzen lebhafter Farben lief unter den Laternen die Haufen entlang. Der Bürgersteig hatte sich belebt; eine Menschenmenge erwachte und erging sich, redend, rufend, stehenbleibend, zwischen den Waren. Von weitem rief eine laute Stimme: »He! Schikoree!« Soeben waren die Gittertore der Halle für Grobgemüse geöffnet worden. In weißer Haube und über dem schwarzen Mieder geknotetem Brusttuch, die Röcke aufgeschürzt und mit Nadeln befestigt, um sich nicht zu beschmutzen, deckten die Händlerinnen dieser Halle ihren Tagesbedarf und beluden mit ihren Einkäufen die großen, auf der Erde stehenden Kiepen der Träger. Inmitten von zusammenstoßenden Köpfen, von Schimpfworten, des Lärms von Stimmen, die sich heiser schrien beim viertelstundenlangen Feilschen um einen Sou, wurde das Hin und Her von Kiepen zwischen Halle und Fahrdamm stärker. Und Florent wunderte sich über die Ruhe der Gemüsebäuerinnen mit ihren halbseidenen Kopftüchern und ihrer sonnenverbrannten Haut in diesem schwatzhaften Gezänk der Markthallen.

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