Ein feines Haus

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Из серии: Die Rougon-Macquart #10
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Angèle folgte ihnen mit eckigen Bewegungen. Aber ihr Klavierlehrer wartete auf sie, und gleich darauf klimperte sie mit ihren dürren Fingern auf dem Instrument los. Octaves Stimme wurde übertönt, als er in der Diele zurückblieb, um sich abermals zu bedanken. Und als er die Treppe hinabging, schien ihn das Klavier zu verfolgen: inmitten des lauen Schweigens antworteten bei Frau Juzeur, bei den Vabres, bei den Duveyriers andere Klaviere, spielten in jedem Stockwerk andere Melodien, die fern und fromm aus der Andächtigkeit der Türen hervortönten.

Unten bog Campardon in die Rue Neuve-Saint-Augustin ein. Er schwieg, sah gedankenversunken aus, wie jemand, der nach einer Überleitung sucht.

»Erinnern Sie sich noch an Mademoiselle Gasparine?« fragte er schließlich. »Sie ist erste Verkäuferin bei den Hédouins ... Sie werden sie gleich sehen.«

Octave hielt die Gelegenheit für gekommen, seine Neugier zu befriedigen.

»Aha«, sagte er. »Wohnt sie bei Ihnen?«

»Nein, nein«, rief der Architekt lebhaft und gleichsam gekränkt aus. Da der junge Mann über seine Heftigkeit überrascht zu sein schien, fuhr er dann ziemlich verlegen und voller Sanftmut fort: »Nein, Mademoiselle Gasparine und meine Frau verkehren nicht mehr miteinander ... Sie wissen ja, wie das in den Familien so ist ... Ich bin ihr begegnet, und ich mußte ihr wohl oder übel behilflich sein, nicht wahr, zumal das arme Mädchen nicht gerade im Geld schwimmt. So kommt es, daß die beiden Frauen jetzt durch mich voneinander erfahren, wie es ihnen geht ... Bei diesen alten Streitigkeiten muß man es der Zeit überlassen, die Wunden zu heilen.«

Octave entschloß sich gerade, ihn rundheraus über seine Heirat zu fragen, als der Architekt das Gespräch kurz mit den Worten abbrach: »Da sind wir!«

Es war ein an der Ecke der Rue Neuve-Saint-Augustin und der Rue de la Michodière gelegenes Modewarengeschäft, dessen Tür zum schmalen Dreieck des Place Gaillon zu lag. Auf einem Ladenschild, das zwei Fenster des Zwischenstocks versperrte, stand in großen verblaßten Goldbuchstaben »Paradies der Damen, gegründet 1822«, während auf den Spiegelglasscheiben der Schaufenster rot aufgemalt der Firmenname »Deleuze, Hédouin & Co.« zu lesen war.

»Es hat keinen modernen Schick, ist aber ehrbar und solide«, erklärte Campardon schnell. »Herr Hédouin, ein ehemaliger Verkäufer, hat die Tochter des ältesten Deleuze geheiratet, der vor zwei Jahren gestorben ist, so daß die Firma jetzt von dem jungen Ehepaar, dem alten Onkel Deleuze und einem anderen Teilhaber, die sich, glaube ich, beide abseits halten, geleitet wird ... Sie werden Frau Hédouin ja sehen. Oh, eine Frau mit Köpfchen! – Gehen wir hinein.«

Herr Hédouin war gerade zum Einkauf von Leinwand in Lille. So wurden sie von Frau Hédouin empfangen. Sie stand da, einen Federhalter hinter dem Ohr, und erteilte zwei Ladendienern, die Stoffballen in Fächer einordneten, Anweisungen; und sie erschien Octave so groß, so bewundernswert schön mit ihrem regelmäßigen Gesicht und ihrem schlichten, glattgescheitelten Haar, so ernst lächelnd in ihrem schwarzen Kleid, von dem sich ein flacher Kragen und eine kleine Herrenkrawatte abhoben, daß er, der seinem Wesen nach doch wenig schüchtern war, zu stottern begann. Alles wurde mit ein paar Worten erledigt.

»Nun gut«, sagte sie mit ihrer ruhigen Miene in ihrer gewohnten Verbindlichkeit als Geschäftsfrau, »da Sie ja frei sind, besichtigen Sie doch den Laden.«

Sie rief einen Verkäufer und vertraute ihm Octave an; nachdem sie dann auf eine Frage Campardons höflich erwidert hatte, Fräulein Gasparine mache eine Besorgung, wandte sie sich ab, fuhr mit ihrer Arbeit fort, warf mit ihrer sanften und befehlenden Stimme Anweisungen hin.

»Nicht dorthin, Alexandre ... Legen Sie die Seidenstoffe nach oben ... Das ist nicht mehr dieselbe Marke, passen Sie doch auf!«

Zögernd sagte Campardon schließlich zu Octave, er werde wieder vorbeikommen und ihn zum Abendessen abholen.

Nun besichtigte der junge Mann zwei Stunden lang den Laden. Er fand, daß er schlecht beleuchtet, klein und mit Waren überfüllt war, die aus dem Kellergeschoß hervorquollen, sich in den Ecken stauten, so daß zwischen den hohen Mauern von Stoffballen nur überaus enge Durchgänge frei blieben. Wiederholt begegnete er dort Frau Hédouin, die geschäftig durch die schmälsten Gänge huschte, ohne je mit einem Zipfel ihres Kleides hängenzubleiben. Sie schien die lebende und ausgeglichene Seele des Hauses zu sein, dessen ganzes Personal dem leisesten Wink ihrer weißen Hände gehorchte. Octave war gekränkt, daß sie ihn nicht mehr ansah. Als er gegen drei Viertel sieben Uhr ein letztes Mal aus dem Kellergeschoß wieder nach oben stieg, sagte man ihm, Campardon sei im ersten Stock bei Fräulein Gasparine. Dort befand sich eine Wäscheabteilung, die dieses Fräulein leitete. Aber oben an der Wendeltreppe blieb der junge Mann hinter einer Pyramide aus gleichmäßig aufgestapelten Kalikoballen plötzlich stehen, als er hörte, wie der Architekt Gasparine duzte.

»Ich schwöre dir: nein!« rief er und vergaß sich dabei so weit, daß er die Stimme hob.

Es trat Stillschweigen ein.

»Wie geht es ihr?« fragte die junge Frau.

»Mein Gott, immer dasselbe. Das kommt, das vergeht ... Sie fühlt wohl, daß es jetzt aus ist. Niemals wird sich das wieder einrenken.«

Gasparine versetzte mit mitleidsvoller Stimme:

»Mein armer Freund, zu bedauern bist doch du. Da du aber schließlich auf andere Art und Weise hast zurechtkommen können ... Sag ihr, wie bekümmert ich darüber bin, daß sie stets leidend ist ...«

Ohne sie ausreden zu lassen, hatte Campardon sie bei den Schultern gepackt und küßte sie in der von der Gasbeleuchtung erwärmten Luft, die unter der niedrigen Decke bereits drückend wurde, ungestüm auf die Lippen.

Sie erwiderte seinen Kuß und murmelte: »Morgen früh um sechs, wenn du kannst ... ich werde im Bett bleiben. Klopfe dreimal.«

Octave, der wie benommen war, begann zu verstehen, er hustete und trat vor. Ihn erwartete eine weitere Überraschung: die Cousine Gasparine war vertrocknet, mager, eckig, hatte eine vorspringende Kinnlade und hartes Haar; und in ihrem erdfahl gewordenen Gesicht waren nur ihre großen, prächtigen Augen unverändert geblieben. Mit ihrer mißgünstigen Stirn, ihrem glutvollen und eigensinnigen Mund verwirrte sie ihn ebensosehr, wie ihn Rose mit ihrem späten Erblühen einer lässigen Blondine bezaubert hatte.

Gasparine war indessen höflich, doch ohne Überschwang. Sie erinnerte sich an Plassans, sie sprach mit dem jungen Mann über die Tage von einst. Als Campardon und er nach unten gingen, drückte sie ihnen die Hand.

Unten sagte Frau Hédouin zu Octave lediglich: »Bis morgen, Herr Mouret.«

Auf der Straße, wo ihn das Rollen der Droschken ganz taub machte und ihn die Passanten anrempelten, konnte der junge Mann nicht umhin zu bemerken, jene Dame sei zwar sehr schön, wirke aber nicht liebenswürdig. Auf das schwarze und schmutzbedeckte Pflaster warfen helle Schaufenster frisch dekorierter Geschäfte mit flammender Gasbeleuchtung Vierecke grellen Lichts, während alte Läden mit dunklen Auslagen den Fahrdamm durch Lücken voller Düsternis trübselig machten, Läden, die nur innen von blakenden, wie ferne Sterne brennenden Lampen erleuchtet waren. Kurz bevor die Herren von der Rue Neuve- Saint-Augustin in die Rue de Choiseul einbogen, grüßte der Architekt, als sie an einem dieser Läden vorbeikamen.

Eine schmächtige und elegante junge Frau, die sich ein Seidenmäntelchen umgehängt hatte, stand auf der Schwelle und zog einen kleinen dreijährigen Jungen an sich, damit er nicht überfahren werde. Sie plauderte mit einer alten Dame ohne Kopfbedeckung, zweifellos mit der Kaufmannsfrau, zu der sie du sagte. Octave konnte in diesem finsteren Türrahmen unter den tanzenden Reflexen der Gaslaternen in der Nähe ihre Züge nicht erkennen; sie kam ihm hübsch vor, er sah nur zwei glühende Augen, die sich einen Augenblick wie zwei Flammen auf ihn hefteten. Hinten versank der feuchte Laden gleich einem Keller, aus dem ein unbestimmter Salpetergeruch emporstieg.

»Das ist Madame Valérie, die Frau von Herrn Théophile Vabre, dem jüngeren Sohn des Hausbesitzers, Sie wissen ja, die Leute aus dem ersten Stock«, erklärte Campardon, als er einige Schritte weitergegangen war. »Oh, eine ganz reizende Dame! – Sie ist in diesem Laden geboren, eines der am besten gehenden Kurzwarengeschäfte im Viertel, das ihre Eltern, Herr und Frau Louhette, immer noch führen, damit sie was zu tun haben. Ganz hübsch haben sie da verdient, das kann ich Ihnen versichern!«

Aber Octave hatte kein Verständnis für einen derartigen Handel in diesen Löchern des alten Paris, wo ehemals ein Ballen Stoff an Stelle eines Ladenschilds genügte. Er schwor, um nichts in der Welt würde er einwilligen, auf dem Grunde einer solchen Gruft zu leben. Da müsse man sich ja schön was wegholen!

Plaudernd waren sie die Treppe hinaufgestiegen. Sie wurden bereits erwartet. Frau Campardon hatte ein graues Seidenkleid angezogen, hatte sich kokett frisiert und war sehr gepflegt in ihrer ganzen Erscheinung. Mit der Rührung eines guten Ehemannes küßte Campardon sie auf den Hals.

»Guten Abend, mein Kätzchen ... Guten Abend, mein Puttchen ...«

Und man ging ins Eßzimmer hinüber. Das Abendessen verlief reizend. Frau Campardon plauderte zunächst über die Deleuzes und die Hédouins: eine vom ganzen Viertel geachtete Familie, deren Mitglieder sehr bekannt seien: ein Vetter sei Papierwarenhändler in der Rue Gaillon, ein Onkel Regenschirmhändler in der Passage Choiseul, mehrere Neffen und Nichten seien, überall in der Umgegend verstreut, selbständige Geschäftsleute. Dann nahm das Gespräch eine andere Wendung, man befaßte sich mit Angèle, die steif auf ihrem Stuhl saß und mit eckigen Bewegungen aß. Ihre Mutter erzog sie zu Hause, das sei sicherer; und da sie nichts weiter darüber sagen wollte, blinzelte sie mit den Augen, um anzudeuten, daß die jungen Damen häßliche Dinge in den Pensionaten lernten. Soeben hatte das junge Mädchen heimlich ihren Teller schön ausbalanciert auf das Messer gestellt. Da Lisa, die servierte, ihn beinahe zerbrochen hätte, rief sie: »Daran sind Sie schuld, Mademoiselle!«

 

Ein gewaltsam zurückgehaltenes irres Gelächter glitt über Angèles Gesicht.

Frau Campardon hatte sich damit begnügt, den Kopf zu schütteln; und als Lisa hinausgegangen war, um den Nachtisch zu holen, sang sie eine Lobeshymne auf Lisa: sie sei sehr klug, sehr rührig, ein Pariser Mädchen, das sich stets zu drehen und zu wenden wisse. Victoire, die Köchin, die wegen ihres hohen Alters nicht mehr sehr reinlich sei, hätte man entbehren können; aber sie sei schon dabeigewesen, als Herr Campardon im Hause seines Vaters zur Welt kam, sie sei wie ein alter baufälliger Familienbesitz, den alle achteten. Dann, als die Zofe mit Bratäpfeln wieder hereinkam, fuhr Frau Campardon fort, indem sie Octave ins Ohr flüsterte: »Tadelloses Betragen. Ich habe noch nichts entdeckt ... Ein einziger Ausgangstag im Monat, damit sie ihre alte Tante besuchen kann, die sehr weit entfernt wohnt.«

Octave betrachtete Lisa. Als er sie so sah, nervös, mit flacher Brust, blau unterlaufenen Augenlidern, kam ihm der Gedanke, daß sie bei ihrer alten Tante verdammt flottmachen müsse. Im übrigen pflichtete er der Mutter nachdrücklich bei, die fortfuhr, ihm ihre Ansichten über Erziehung zu unterbreiten: ein junges Mädchen stelle eine so schwere Verantwortung dar, selbst den Hauch der Straße müsse man von ihr fernhalten.

Und währenddessen kniff Angèle Lisa jedesmal, wenn diese sich neben ihrem Stuhl herabbeugte, um einen Teller zu wechseln, in einem rasenden Verlangen nach Vertraulichkeiten in die Schenkel, ohne daß eine von beiden, die ganz ernst blieben, auch nur mit den Lidern gezuckt hätte.

»Man muß tugendhaft gegen sich selbst sein«, sagte der Architekt gelehrt, als Schlußfolgerung auf Gedanken, die er nicht äußerte. »Mir ist die Meinung der Leute schnuppe, ich bin Künstler!«

Nach Tisch blieb man bis Mitternacht im Salon. Zur Feier von Octaves Ankunft schlug man also über die Stränge. Frau Campardon machte einen sehr müden Eindruck; auf einem Kanapee zurückgelehnt, ließ sie sich nach und nach gehen.

»Hast du Schmerzen, mein Kätzchen?« fragte sie ihr Mann.

»Nein«, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme. »Es ist immer dasselbe.« Sie schaute ihn an, dann sagte sie leise: »Hast du sie bei Hédouins gesehen?«

»Ja ... Sie hat sich nach deinem Befinden erkundigt.«

Tränen stiegen Rose in die Augen.

»Ihr geht es ja auch gut!«

»Na, na«, sagte der Architekt und drückte ihr leise Küsse aufs Haar, wobei er vergaß, daß sie nicht allein waren. »Du wirst dir noch schaden ... Weißt du denn nicht, daß ich dich trotz alledem liebe, mein armes Puttchen?«

Octave, der taktvoll zum Fenster gegangen war, als wolle er auf die Straße sehen, kam zurück und durchforschte Frau Campardons Gesicht, denn seine Neugier war wieder erwacht, und er fragte sich, ob sie Bescheid wisse.

Aber sie hatte wieder ihr liebenswürdiges und wehleidiges Gesicht aufgesetzt, sie kuschelte sich tief in das Kanapee hinein, wie eine Frau, die sich ihr eigenes Vergnügen verschafft und sich notgedrungen mit dem ihr zukommenden Anteil an Liebkosungen abfindet.

Schließlich wünschte Octave ihnen eine gute Nacht. Mit seinem Leuchter in der Hand stand er noch auf dem Treppenabsatz, als er das Rascheln von Seidenkleidern hörte, die die Stufen streiften. Aus Höflichkeit trat er beiseite. Offensichtlich waren es die Damen aus dem vierten Stock, Frau Josserand und ihre beiden Töchter, die von einer Abendgesellschaft zurückkehrten. Als sie vorübergingen, faßte ihn die Mutter, eine beleibte und stolze Frau, scharf ins Auge, während sich die ältere Tochter mit frostiger Miene abwandte und die jüngere ihn im hellen Licht der Kerze unbesonnen anlachte. Sie war reizend, diese Kleine mit ihrem unregelmäßigen, aber ansprechenden Gesicht, dem hellen Teint, dem kastanienbraunen, von blonden Reflexen vergoldeten Haar; und sie hatte eine kecke Anmut an sich, den ungezwungenen Gang einer Jungverheirateten Frau, die in einer mit Schleifen und Spitzen überladenen Toilette, wie heiratsfähige Mädchen sie sonst nicht zu tragen pflegen, von einem Ball heimkehrt. Die Schleppen verschwanden längs des Geländers, eine Tür ging zu. Octave ergötzte sich noch immer an der Fröhlichkeit ihrer Augen.

Langsam ging nun auch er nach oben. Eine einzige Gaslampe brannte, die Treppe schlief in drückender Wärme ein. Sie kam ihm jetzt andächtiger vor mit ihren keuschen Türen, ihren kostbaren Mahagonitüren, die vor ehrbaren Alkoven verschlossen waren. Kein Seufzer drang hindurch, es herrschte das Schweigen wohlerzogener Menschen, die ihren Atem anhalten. Allerdings war ein leises Geräusch zu hören; er beugte sich vor und gewahrte Herrn Gourd in Pantoffeln und Käppchen, der die letzte Gaslampe auslöschte. Da stürzte alles gleichsam in einen Abgrund, das Haus sank in die Feierlichkeit der Finsternis zurück, als löse es sich völlig auf in der Vornehmheit und der Sittsamkeit seines Schlummers.

Octave jedoch fiel es sehr schwer einzuschlafen. Er warf sich fieberhaft hin und her, sein Gehirn war mit den neuen Gesichtern beschäftigt, die er gesehen hatte. Warum zum Teufel zeigten sich die Campardons so liebenswürdig? Träumten sie etwa davon, ihm später ihre Tochter zur Frau zu geben? Vielleicht nahm ihn der Ehemann auch nur deshalb in Kost, damit er seine Frau beschäftigte und aufheiterte? Und diese arme Dame, was für eine wunderliche Krankheit mochte sie wohl haben? Dann verwirrten sich seine Gedanken noch mehr, er sah Schatten vorüberhuschen: die kleine Frau Pichon, seine Nachbarin, mit ihren hellen und ausdruckslosen Blicken; die schöne Frau Hédouin, untadelig und ernst in ihrem schwarzen Kleid; und Frau Valéries glühende Augen; und Fräulein Josserands fröhliches Lachen. Wie das alles in wenigen Stunden auf dem Pariser Pflaster emporschoß! Schon immer hatte er davon geträumt, von Damen, die ihn an die Hand nehmen und ihm bei seinen Unternehmungen helfen würden. Aber jene Frauen kamen immer wieder, verschwammen mit ermüdender Hartnäckigkeit ineinander. Er wußte nicht, welche er wählen sollte, er bemühte sich, seine zärtliche Stimme, seine schmeichlerischen Gebärden beizubehalten. Und jäh gab er niedergedrückt und erbittert seiner tief eingewurzelten Brutalität nach, der wilden Verachtung, die er unter seiner Miene verliebter Anbetung für die Frauen empfand.

»Werden sie mich nun endlich schlafen lassen!« sagte er laut und legte sich ungestüm wieder auf den Rücken. »Die erste, die will ... Welche, ist mir egal! Und von mir aus auch alle auf einmal, wenn ihnen das Spaß macht! Schlafen wir, morgen ist auch noch ein Tag.«

Zweites Kapitel

Als Frau Josserand mit ihren Töchtern, die vor ihr her gingen, die Abendgesellschaft bei Frau Dambreville verließ, die im vierten Stock eines Hauses in der Rue de Rivoli an der Ecke der Rue de lʼOratoire wohnte, warf sie in dem jähen Ausbruch eines seit zwei Stunden mühsam unterdrückten Zorns heftig die Haustür zu. Wieder einmal hatte Berthe, ihre jüngere Tochter, vorhin eine Partie verpaßt.

»Na, was macht ihr denn da?« sagte sie aufbrausend zu den jungen Mädchen, die unter den Arkaden stehengeblieben waren und vorüberfahrenden Droschken nachblickten. »So geht doch! – Glaubt ja nicht, daß wir einen Wagen nehmen! Damit noch zwei Francs ausgegeben werden, nicht wahr?«

Und als Hortense, die ältere, murmelte: »Das kann ja nett werden bei diesem Schmutz. Das überstehen meine Schuhe nicht«, entgegnete die Mutter, nun völlig wütend: »Vorwärts! Wenn ihr keine Schuhe mehr habt, dann bleibt ihr eben im Bett, ganz einfach. Es kommt ja sowieso nichts dabei heraus, wenn man euch ausführt!«

Berthe und Hortense, die den Kopf hängenließen, bogen in die Rue de lʼOratoire ein. Sie rafften ihre langen Röcke so hoch wie möglich über ihre Krinolinen, zogen die Schultern ein und bibberten unter ihren dünnen Ballumhängen. Frau Josserand ging hinterher, eingehüllt in einen alten Pelz, Fehwammen, schäbig wie Katzenfelle. Alle drei waren ohne Hut und hatten einen Spitzenschal um das Haar geschlungen, weshalb sich die letzten Passanten nach ihnen umdrehten, weil sie überrascht waren, sie in diesem Aufzug eine hinter der anderen mit krummem Buckel und auf die Pfützen gehefteten Augen an den Häusern entlangflitzen zu sehen. Und die Erbitterung der Mutter nahm noch zu, als sie an so viele ähnliche Heimwege in den letzten drei Wintern dachte, an das mühselige Gehen in den sich verheddernden Toiletten, an den schwarzen Straßendreck und an das höhnische Grinsen der Gassenlümmel, die sich noch spät in der Nacht herumtrieben. Nein, sie hatte es entschieden satt, ihre Töchter an alle vier Ecken von Paris mitzuschleppen, ohne sich den Luxus einer Droschke gönnen zu dürfen, aus Furcht, am nächsten Tag ein Gericht beim Abendessen streichen zu müssen!

»Und so was stiftet Ehen!« sagte sie ganz laut, auf Frau Dambreville zurückkommend, lediglich, um ihrem Herzen Luft zu machen, ohne sich etwa an ihre Töchter zu wenden, die in die Rue Saint-Honoré eingebogen waren. »Hübsch sind sie, ihre Ehen! Ein Haufen Zimtzicken, die wer weiß woher zu ihr kommen! Ach, wenn man nicht dazu gezwungen wäre! – Genau wie ihr neuester Erfolg, diese Jungverheiratete Frau, die sie herausgestellt hat, um uns zu zeigen, daß es nicht immer schiefgeht: ein schönes Beispiel! Ein unglückseliges Kind, das nach einem Fehltritt wieder ein halbes Jahr lang ins Kloster gesteckt werden mußte, um es wieder rein zu waschen!«

Die jungen Mädchen überquerten gerade den Place du Palais-Royal, da prasselte plötzlich ein Platzregen nieder. Nun gab es eine wilde Flucht. Sie blieben stehen, rutschten aus, patschten umher, blickten erneut nach den leer vorüberrollenden Droschken.

»Vorwärts!« schrie die Mutter unbarmherzig. »Jetzt ist es zu nahe, das lohnt keine vierzig Sous ... Euer Bruder Léon hat sich ja auch geweigert mitzukommen, aus Furcht, wir könnten ihn bezahlen lassen! Um so besser, wenn er seine Angelegenheiten bei dieser Dame erledigt! Aber anständig ist das gerade nicht, das dürfen wir wohl sagen. Eine Frau, die über die Fünfzig hinaus ist und die nur junge Leute empfängt! Ein ehemaliges nichtsnutziges Frauenzimmer, das eine hochstehende Persönlichkeit mit Dambreville, diesem Schwachkopf, verheiratet und den zum Bürochef ernannt hat!«

Hortense und Berthe trabten im Regen hintereinander her und schienen nicht zu hören. Wenn ihre Mutter sich auf diese Weise Luft machte, mit allem rausplatzte und die übertriebene Strenge der guten Erziehung vergaß, mit der sie sie umgab, war es ausgemacht, daß sie taub wurden. Doch als sie sich in die düstere und menschenleere Rue de lʼEchelle wandten, empörte sich Berthe.

»Ach, du meine Güte«, sagte sie. »Jetzt geht mein Absatz ab ... Ich kann nicht mehr weiter!«

Frau Josserand wurde böse.

»Wollt ihr wohl gehen! – Beklage ich mich denn? Kommt es mir denn zu, bei solchem Wetter zu dieser Stunde auf der Straße zu sein? – Wenn ihr wenigstens noch so einen Vater hättet, wie andere Väter sind! Aber nein, der Herr bleibt zu Hause und läßt sichʼs wohl sein. Immer bin ich dran, euch in Gesellschaft zu begleiten, nie würde er die Fron auf sich nehmen. Aber ich sage euch ein für allemal, daß mir das bis obenhin steht. Soll euer Vater euch ausführen, wenn er will; ich will des Teufels sein, wenn ich euch in Zukunft noch mal in Häuser führe, wo man mich ärgert! – Ein Mann, der mich über seine Fähigkeiten getäuscht hat und dem ich eine Annehmlichkeit geradezu herausziehen muß! Ach, Herrgott! So einen würde ich nicht heiraten, wenn ich mich noch mal entscheiden könnte!«

Die jungen Mädchen pflegten nicht mehr zu widersprechen.

Dieses unerschöpfliche Kapitel der zerschlagenen Hoffnungen ihrer Mutter kannten sie. Den Spitzenschal gegen das Gesicht geklatscht, gingen sie mit durchgeweichten Schuhen schnell die Rue Sainte- Anne entlang. Aber an ihrem Haustor in der Rue de Choiseul stand Frau Josserand eine letzte Demütigung bevor: die Kutsche der heimkehrenden Duveyriers bespritzte sie mit Straßendreck.

Obgleich Mutter und Töchter kreuzlahm und wütend waren, hatten sie ihre liebenswürdige Miene wieder aufgesetzt, als sie auf der Treppe an Octave vorbeigehen mußten. Aber nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schossen sie wie wild durch die dunkle Wohnung, so daß sie sich an den Möbeln stießen, und stürzten ins Eßzimmer, wo Herr Josserand beim spärlichen Schimmer einer kleinen Lampe schrieb.

 

»Wieder nichts!« schrie Frau Josserand und sank auf einen Stuhl hin. Und mit roher Gebärde riß sie den Spitzenschal herunter, der ihren Kopf verhüllte, warf sie ihren Pelz auf die Stuhllehne zurück und kam in einem feuerroten, mit schwarzem Atlas besetzten, sehr tief ausgeschnittenen Kleid zum Vorschein, wirkte gewaltig mit ihren Schultern, die noch immer schön waren und den glänzenden Schenkeln einer Stute glichen. Ihr vierschrötiges Gesicht mit den Hängebacken und der zu starken Nase drückte die tragische Wut einer Königin aus, die an sich hält, um nicht in die Worte eines Fischweibs zu verfallen.

»Aha!« machte Herr Josserand lediglich, ganz verdattert über dieses Hereinstürmen. Von Besorgnis erfaßt, zuckte er mit den Lidern. Seine Frau erdrückte ihn schier, wenn sie diesen Riesenbusen zur Schau stellte, den er wie einen Erdrutsch auf seinem Nacken zu spüren glaubte. Er hatte einen alten, zerschlissenen Überrock an, den er zu Hause abtrug, sein Gesicht war von fünfunddreißig Bürojahren gleichsam aufgeweicht und verblichen, und er sah seine Frau einen Augenblick mit den glanzlosen Blicken seiner geschwollenen blauen Augen an. Nachdem er dann die Locken seines angegrauten Haares hinter die Ohren zurückgestrichen hatte, versuchte er sich ganz verlegen und kein Wort herausbringend wieder an seine Arbeit zu machen.

»Aber begreifst du denn nicht?« schmetterte ihm Frau Josserand mit schriller Stimme entgegen. »Ich sage dir, daß wieder mal eine Partie im Eimer ist, und das ist nun die vierte!«

»Ja, ja, ich weiß, die vierte«, murmelte er. »Das ist verdrießlich, recht verdrießlich ...« Und um der schreckenerregenden Nacktheit seiner Frau zu entgehen, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu seinen Töchtern um.

Sie legten ebenfalls ihre Spitzenschals und Ballumhänge ab; die ältere war blau gekleidet, die jüngere rosa; und ihre allzu frei geschnittenen, allzu reich besetzten Toiletten waren gleichsam eine Herausforderung. Hortense, die einen gelben Teint hatte und deren Gesicht durch die Nase ihrer Mutter verunstaltet wurde, die ihr den Ausdruck hochnäsiger Eigensinnigkeit verlieh, war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden und sah aus wie achtundzwanzig, während die zwei Jahre jüngere Berthe eine unversehrte kindliche Anmut bewahrte, denn sie hatte zwar dieselben Züge, aber sie waren bei ihr feiner und blendend weiß, und ihr drohte nur die plumpe Maske, die in der Familie um die Fünfzig herum zum Vorschein kam.

»Wenn du uns bloß alle drei ansehen wolltest!« schrie Frau Josserand. »Und laß um Gottes willen deine Schreiberei sein, die geht mir auf die Nerven!«

»Aber, meine Beste«, sagte er friedfertig, »ich mache doch Streifbänder.«

»Ach ja, deine Streifbänder zu drei Francs das Tausend! – Wenn du hoffst, etwa deine Töchter mit diesen drei Francs unter die Haube zu bringen!«

Der vom spärlichen Schimmer der kleinen Lampe beleuchtete Tisch war in der Tat mit breiten Bogen grauen Papiers übersät, mit bedruckten Streifbändern, die Herr Josserand für einen großen Verlag, der mehrere periodisch erscheinende Zeitschriften herausgab, ausfüllte. Da sein Gehalt als Kassierer keineswegs ausreichte, verbrachte er ganze Nächte mit dieser undankbaren Arbeit, sich verbergend, von Scham erfaßt bei dem Gedanken, man könnte die Geldverlegenheit der Familie entdecken.

»Drei Francs sind drei Francs«, erwiderte er mit seiner schleppenden und müden Stimme. »Diese drei Francs da erlauben euch, zusätzlich Bänder für eure Kleider zu kaufen und euren Gästen beim Dienstagsempfang Kuchen anzubieten.«

Ihm tat dieser Satz sofort leid, denn er fühlte, daß er Frau Josserand mitten ins Herz, in die empfindliche Wunde ihres Stolzes traf. Eine Woge von Blut färbte ihre Schultern purpurrot, sie schien nahe daran, in rächende Worte auszubrechen; dann stammelte sie, mühsam nach Würde ringend, lediglich: »O mein Gott! O mein Gott!« Und sie blickte auf ihre Töchter, sie zerschmetterte ihren Mann herrisch mit einem Zucken ihrer gewaltigen Schultern, als wolle sie sagen: He! Hört ihr, was er sagt? So ein Blödling!

Die Töchter schüttelten den Kopf.

Da der Vater sich geschlagen sah, legte er widerstrebend seine Feder hin und faltete die Zeitung »Le Temps9« auseinander, die er jeden Abend aus dem Büro mitbrachte.

»Schläft Saturnin?« fragte Frau Josserand schroff; sie sprach von ihrem jüngsten Sohn.

»Schon lange«, erwiderte ihr Mann. »Adèle habe ich auch weggeschickt ... Und Léon, habt ihr ihn bei Dambrevilles gesehen?«

»Mein Gott noch mal! Er schläft ja dort!« brachte sie in einem grollerfüllten Schrei hervor, den sie nicht unterdrücken konnte.

Vor Überraschung war der Vater so naiv hinzuzufügen: »Ach, glaubst du?«

Hortense und Berthe waren taub geworden. Über ihre Lippen huschte jedoch ein leises Lächeln, und sie taten so, als beschäftigten sie sich mit ihren Schuhen, die in einem jämmerlichen Zustand waren.

Um abzulenken, suchte Frau Josserand einen anderen Streit mit ihrem Mann: sie bat ihn, er solle seine Zeitung jeden Morgen wieder mitnehmen und sie nicht einen ganzen Tag lang in der Wohnung herumliegen lassen wie zum Beispiel gestern; ausgerechnet eine Nummer, in der etwas über einen abscheulichen Prozeß gestanden habe, was seine Töchter hätten lesen können. Daran erkenne sie genau seinen geringen sittlichen Wert.

»Na, gehen wir schlafen?« fragte Hortense. »Ich, ich habe Hunger.«

»Oh, und ich erst!« sagte Berthe. »Ich komme fast um vor Hunger.«

»Wie! Hunger habt ihr?« schrie Frau Josserand außer sich. »Habt ihr denn dort keine Brioches10 gegessen? Sind das dumme Gänse! Aber man ißt doch, wenn man eingeladen ist! Ich habe jedenfalls gegessen.«

Die Töchter wehrten sich. Sie hätten Hunger, sie seien krank vor Hunger. Und schließlich begleitete die Mutter sie in die Küche, um nachzusehen, ob nicht etwas übriggeblieben war. Sogleich machte sich der Vater verstohlen wieder an seine Streifbänder. Er wußte genau, daß der Luxus des Haushalts ohne seine Streifbänder dahin wäre; und deshalb harrte er trotz der Geringschätzung und der ungerechten Zänkereien eigensinnig bis zum Tagesanbruch bei dieser heimlichen Arbeit aus, glücklich wie ein rechtschaffener Mensch, wenn er sich einbildete, ein Endchen Spitze mehr könnte über eine reiche Partie entscheiden. Da man ja bereits am Essen abknapste, ohne deshalb die Toiletten und die Dienstagsempfänge bestreiten zu können, schickte er sich darein, in Lumpen gekleidet wie ein Märtyrer zu schuften, während Mutter und Töchter mit Blumen im Haar die Salons abklapperten.

»Aber hier stinktʼs ja wie die Pest!« schrie Frau Josserand, als sie in die Küche trat. »Es ist doch nicht zu sagen, daß ich Adèle, diese Schlampe, nicht dazu kriegen kann, daß sie das Fenster halb offen läßt! Sie behauptet, der Raum wäre am Morgen eiskalt.«

Sie war zum Fenster gegangen und hatte es geöffnet, und von dem engen Dienstbotenhof stieg eine eisige Feuchtigkeit empor, ein schaler, muffiger Kellergeruch. Die Kerze, die Berthe angezündet hatte, ließ riesige Schatten nackter Schultern über die gegenüberliegende Wand tanzen.

»Und wie die Küche wieder aussieht!« fuhr Frau Josserand fort, die überall herumschnüffelte, ihre Nase in alle unsauberen Ecken steckte. »Ihren Tisch hat sie seit vierzehn Tagen nicht abgewischt ... Da stehen ja noch Teller von vorgestern. Wahrhaftig, das ist ja ekelhaft! Und ihr Ausguß, seht doch mal! Riecht mir doch mal an ihrem Ausguß!« Ihr Zorn peitschte sich hoch. Mit ihren von Reispuder weiß gefärbten und mit Goldreifen überladenen Armen stieß sie das Geschirr umher; sie schleifte ihr feuerrotes Kleid mitten durch die Flecken, blieb an Küchengeräten hängen, die unter die Tische geworfen worden waren, brachte zwischen den Küchenabfällen ihren mühselig erworbenen Luxus in Gefahr. Schließlich ließ der Anblick eines schartigen Messers sie losplatzen: »Morgen früh schmeiße ich sie raus!«

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