Ein feines Haus

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Из серии: Die Rougon-Macquart #10
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»Da hast du aber was erreicht«, sagte Hortense ruhig. »Nicht eine behalten wir. Das ist die erste, die ein Vierteljahr geblieben ist ... Sobald sie ein bißchen sauber sind und eine Mehlschwitze machen können, hauen sie ab.«

Frau Josserand kniff die Lippen zusammen. In der Tat konnte es allein die gerade erst aus ihrer Bretagne frisch eingetroffene, dumme und verlauste Adèle in diesem dünkelhaften Elend von Spießbürgern aushalten, die ihre Unwissenheit und Schmutzigkeit ausnutzten, um sie schlecht zu beköstigen. Zwanzigmal schon hatten sie davon gesprochen, sie zu entlassen, wenn sie auf dem Brot einen Kamm fanden oder ein Fleischgericht so abscheulich war, daß sie Leibschneiden bekamen; dann aber fanden sie sich angesichts der Schwierigkeit, sie zu ersetzen, immer wieder damit ab, denn selbst die Diebinnen weigerten sich, bei ihnen in Dienst zu treten, in dieser Bruchbude, wo die Stücken Zucker abgezählt wurden.

»Ich sehe aber auch gar nichts!« murmelte Berthe, die einen Schrank durchwühlte.

Die Bretter zeigten die trübsinnige Leere und den falschen Luxus von Familien, bei denen man die schlechteste Sorte Fleisch kauft, um Blumen auf den Tisch stellen zu können. Dort standen nur völlig kahle Porzellanteller mit Goldrand herum, ein Tischbesen, von dessen Griff die Versilberung abging, Fläschchen, in denen öl und Essig eingetrocknet waren; und nicht eine vergessene Rinde, nicht ein Krümchen von den abgeräumten Speisen, kein Stück Obst, keine Süßigkeit, kein Käserest. Man merkte, daß Adèles nie gestillter Hunger die seltenen von der Herrschaft übriggelassenen Saucenreste so gründlich auswischte, daß sie die Vergoldung von den Schüsseln mit abkratzte.

»Aber sie hat ja das ganze Kaninchen aufgegessen!« schrie Frau Josserand.

»Allerdings«, sagte Hortense, »das Schwanzstück war noch übrig ... Ach nein, hier ist es ja. Es hätte mich auch gewundert, daß sie es gewagt haben sollte ... Wißt ihr, ich nehme es. Es ist zwar kalt, aber da ist halt nichts zu machen!«

Nun schnüffelte auch Berthe vergebens herum. Schließlich belegte sie eine Flasche mit Beschlag, in der ihre Mutter einen alten Topf Eingemachtes mit Wasser verdünnt hatte, um Johannisbeersaft für ihre Abendgesellschaften herzustellen. Sie schenkte sich ein halbes Glas davon ein und sagte:

»Halt, ich habe eine Idee! Da werde ich mir Brot drin eintunken! Wo doch weiter nichts da ist!«

Aber die besorgte Frau Josserand schaute sie streng an.

»Tu dir keinen Zwang an, schenke dir das Glas voll ein, wenn du schon mal dabei bist! Morgen setze ich den Damen und Herren Wasser vor, nicht wahr?«

Zum Glück wurde ihre Strafpredigt durch eine neue Missetat Adèles unterbrochen. Frau Josserand, die immer noch hin und her ging und suchte, was Adèle wohl sonst noch verbrochen haben könnte, gewahrte auf dem Tisch ein Buch; und nun gab es einen nicht mehr zu überbietenden Ausbruch.

»Oh, dieses Dreckstück! Schon wieder hat sie meinen Lamartine11 in die Küche mitgenommen!«

Es war ein Exemplar von »Jocelyn«. Sie nahm es, rieb daran herum, als wolle sie es abtrocknen; und sie sagte immer wieder, zwanzigmal habe sie ihr schon verboten, es überall so herumliegen zu lassen, um ihre Rechnungen darauf zu schreiben.

Berthe und Hortense hatten sich unterdessen das übriggebliebene Stückchen Brot geteilt; mit ihrem Abendbrot in der Hand zogen sie los, sie wollten sich zuerst einmal ausziehen. Die Mutter warf einen letzten Blick auf den eiskalten Herd und kehrte, ihren Lamartine unter dem überquellenden Fleisch ihres Armes fest an sich gepreßt, ins Eßzimmer zurück.

Herr Josserand schrieb weiter. Er hoffte, seine Frau werde sich damit begnügen, ihn mit einem verächtlichen Blick niederzuschmettern, wenn sie durch das Zimmer kam, um schlafen zu gehen. Aber sie ließ sich wiederum ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken und starrte ihn an, ohne ein Wort zu sprechen. Er spürte diesen Blick, ihn überkam eine solche Bangigkeit, daß seine Feder das dünne Papier der Streifbänder zerkratzte.

»Du also hast Adèle daran gehindert, eine Cremespeise für morgen abend zu machen?« sagte sie schließlich.

Verdutzt entschloß er sich, den Kopf zu heben.

»Ich, meine Liebe?«

»Ach, du willst es wohl wieder abstreiten wie immer ... Warum hat sie dann die Cremespeise nicht gemacht, die ich ihr aufgetragen habe? Du weißt genau, daß wir morgen vor unserer Abendgesellschaft Onkel Bachelard zum Essen da haben, dessen Namenstag sehr ungünstig fällt, gerade auf einen Empfangstag. Wenn es keine Cremespeise gibt, dann muß Eis dasein, und damit sind wieder mal fünf Francs rausgeschmissen!«

Er versuchte sich nicht zu rechtfertigen. Da er seine Arbeit nicht wieder aufzunehmen wagte, fing er an, mit seinem Federhalter zu spielen. Es herrschte Schweigen.

»Morgen früh«, fuhr Frau Josserand fort, »wirst du mir den Gefallen tun, bei den Campardons vorzusprechen und sie sehr höflich – wenn du das kannst – daran zu erinnern, daß wir am Abend auf sie rechnen ... Heute nachmittag ist ihr junger Mann angekommen. Bitte sie, sie möchten ihn mitbringen. Ich will, daß er kommt, hörst du!«

»Welcher junge Mann?«

»Eben ein junger Mann; es würde zu lange dauern, dir das zu erklären ... Ich habe meine Erkundigungen eingezogen. Ich muß wirklich alles versuchen, da du mir deine Töchter ja wie einen Packen Dummheiten auf dem Halse läßt, ohne dich mehr um ihre Verheiratung zu kümmern als um die des Großtürken.« Dieser Gedanke entfachte ihren Zorn aufs neue. »Du siehst, ich beherrsche mich, aber mir stehtʼs bis obenhin, jawohl, bis obenhin! Sage nichts, mein Lieber, sage, nichts, sonst explodiere ich wahrhaftig ...«

Er sagte nichts, und sie explodierte trotzdem.

»Das ist ja nachgerade unerträglich! Laß dir das gesagt sein, ich haue eines schönen Morgens ab und lasse dich mit deinen beiden Töchtern, diesen Gänsen, sitzen ... Bin ich etwa für dieses Bettlerleben geboren? Immer jeden Heller dreimal umdrehen, sich sogar ein Paar Stiefeletten versagen, nicht einmal seine Freunde auf anständige Art und Weise empfangen können! Und das alles durch deine Schuld! – Ach, wackle nicht mit dem Kopf, bring mich nicht noch mehr hoch! Jawohl, durch deine Schuld! Du hast mich getäuscht, mein Lieber, schändlich getäuscht. Man heiratet keine Frau, wenn man entschlossen ist, es ihr an allem fehlen zu lassen. Den Prahlhans hast du gespielt, hast mit einer schönen Zukunft angegeben; du warst der Freund der Söhne deines Chefs, dieser Brüder Bernheim, die dich seitdem so schön zum besten gehalten haben ... Wie? Du wagst zu behaupten, sie hätten dich nicht zum besten gehalten? Du müßtest jetzt doch längst ihr Teilhaber sein! Du warst es doch, der ihre Kristallwarenfabrik zu dem gemacht hat, was sie ist, nämlich zu einer der ersten Pariser Firmen, und du bist ihr Kassierer geblieben, ein subalterner Angestellter, ein Lohnempfänger ... Jawohl, dir fehlt es an Mut, halt den Mund!«

»Ich habe achttausend Francs im Jahr«, murmelte der Angestellte. »Das ist ein schöner Posten.«

»Ein schöner Posten nach mehr als dreißig Dienstjahren!« entgegnete Frau Josserand. »Du reibst dich auf dabei, und du bist noch entzückt ... Weißt du, was ich getan hätte? Na, zwanzigmal hätte ich die Firma schon in die Tasche gesteckt. Das war ja so leicht, das habe ich gemerkt, als ich dich geheiratet habe; seitdem habe ich nicht aufgehört, dich dazu anzutreiben. Aber dazu hätte man eben Unternehmungsgeist und Verstand gebraucht, es kam darauf an, nicht wie ein Blödhammel auf seinem Sitzleder einzuschlafen.«

»Na, hör mal«, fiel Herr Josserand ein, »willst du mir jetzt etwa einen Vorwurf daraus machen, daß ich ehrlich gewesen bin?«

Sie stand auf und ging, mit ihrem Lamartine herumfuchtelnd, auf ihn zu.

»Ehrlich? Was meinst du damit? Sei doch erst mal ehrlich gegen mich. Dann kommen doch hoffentlich erst die anderen! Und ich sage es dir noch einmal, mein Lieber, es ist keine Ehrlichkeit, wenn man ein junges Mädchen hineinlegt, indem man sich den Anschein gibt, als sei man gewillt, einst reich zu werden, und dann tierisch dabei verblödet, indem man die Kasse anderer verwaltet. Wirklich, ich bin auf eine schöne Art und Weise angeschmiert worden! Ach, wenn ich doch noch mal vor diese Entscheidung gestellt würde und wenn ich bloß deine Familie gekannt hätte!« Sie ging ungestüm auf und ab.

Trotz seiner großen Sehnsucht nach Frieden konnte er eine aufkommende Ungeduld nicht unterdrücken.

»Du solltest schlafen gehen, Eléonore«, sagte er. »Es ist ein Uhr durch, und ich versichere dir, die Arbeit hier ist eilig ... Meine Familie hat dir nichts getan, rede nicht über sie.«

»Sieh mal an, warum denn? Deine Familie ist auch nicht heiliger als eine andere, denke ich ... Jedermann in Clermont weiß genau, daß dein Vater sich nach Verkauf seiner Anwaltspraxis von einem Dienstmädchen hat ruinieren lassen. Du hättest deine Töchter schon längst verheiratet, wenn er mit über siebzig Jahren nicht der Nutte nachgelaufen wäre. Auch so einer, der mich angeschmiert hat!«

Herr Josserand war bleich geworden. Er erwiderte mit bebender Stimme, die nach und nach anschwoll: »Hör mal, wir wollen uns doch nicht schon wieder gegenseitig unsere Familien unter die Nase reiben ... Dein Vater hat mir deine Mitgift, die dreißigtausend Francs, die er versprochen hatte, niemals ausgezahlt.«

»He? Was? Dreißigtausend Francs?«

»Allerdings, tu nicht so erstaunt ... Und wenn meinem Vater auch allerlei Unglück zugestoßen ist, so hat deiner sich uns gegenüber nichtswürdig verhalten. Bei seinem Nachlaß habe ich nie so ganz klargesehen, es sind allerlei Schiebungen dabei vorgekommen, damit das Pensionat in der Rue des Fossés-Saint-Victor dem Mann deiner Schwester zufiel, diesem schäbigen Pauker, der uns heute nicht mehr grüßt ... Wir sind bestohlen worden, als seien die Räuber über uns hergefallen.«

 

Angesichts der unbegreiflichen Auflehnung ihres Mannes schnappte Frau Josserand, die ganz weiß geworden war, nach Luft.

»Mache Papa nicht schlecht! Er war vierzig Jahre lang die Zierde des Unterrichtswesens. Geh doch mal in die Gegend vom Panthéon12 und frage nach dem Institut Bachelard! Und was meine Schwester und meinen Schwager betrifft, so sind sie eben, wie sie sind, sie haben mich bestohlen, das weiß ich; aber dir kommt es nicht zu, das zu sagen, das lasse ich mir nicht bieten, hörst du! Rede ich etwa über deine Schwester aus Les Andelys, die mit einem Offizier durchgebrannt ist! Oh, das geht ja sauber zu bei euch!«

»Mit einem Offizier, der sie geheiratet hat, meine Liebe ... Da ist ja auch noch Onkel Bachelard, dein Bruder, ein sittenloser Mensch ...«

»Aber du verlierst ja den Verstand, mein Lieber! Er ist reich, er verdient bei seinem Kommissionsgeschäft so viel, wie er will, und er hat versprochen, Berthe eine Mitgift zu geben ... Hast du denn vor gar nichts Achtung?«

»Ach ja, Berthe eine Mitgift geben! Wollen wir wetten, daß er nicht einen Sou rausrückt und daß wir seine widerwärtigen Gewohnheiten umsonst ausgestanden haben? Ich schäme mich für ihn, wenn er herkommt. Ein Lügner, ein Saufbruder, ein Ausbeuter, der die Situation ausnutzt, der mich seit fünfzehn Jahren, da er uns vor seinem Vermögen auf den Knien liegen sieht, jeden Sonnabend auf zwei Stunden in sein Büro mitnimmt, damit ich seine Bücher durchsehe! Dadurch spart er hundert Sous ... Wir müssen erst noch sehen, wie weit es mit seinen Geschenken her ist.«

Frau Josserand, der es den Atem verschlug, sammelte sich einen Augenblick. Dann stieß sie folgenden letzten Schrei aus: »Du hast doch einen Neffen bei der Polizei, mein Lieber!«

Es trat abermals Schweigen ein. Die kleine Lampe wurde blasser, unter Herrn Josserands fiebrigen Gebärden flogen Streifbänder umher; und er blickte seiner Frau ins Gesicht, seiner Frau in dem tief ausgeschnittenen Kleid, war entschlossen, alles zu sagen, und zitterte vor seinem eigenen Mut.

»Mit achttausend Francs kann man allerhand anfangen«, versetzte er. »Du beklagst dich immerzu. Aber du hättest den Haushalt nicht auf eine Ebene stellen sollen, die unsere Verhältnisse übersteigt. Es ist eine Krankheit von dir, Gesellschaften zu geben und Besuche zu machen, einen Empfangstag einzurichten, Tee und Kuchen zu reichen ...«

Sie ließ ihn nicht ausreden.

»Da haben wirʼs also! Sperr mich doch gleich in einen Kasten! Wirf mir vor, daß ich nicht splitternackt ausgehe ... Und deine Töchter, mein Lieber, wen sollen sie denn heiraten, wenn wir mit niemand verkehren? Viele Leute sind es sowieso schon nicht ... Opfere du dich doch mal auf und laß dich hinterher dann mit so einer Niedertracht beurteilen!«

»Alle haben wir uns aufgeopfert, meine Liebe. Léon hat vor seinen Schwestern zurücktreten müssen; und er hat das Haus verlassen, weil er nur noch auf sich selbst angewiesen war. Was Saturnin, das arme Kind, betrifft, so kann er nicht einmal lesen ... Ich selbst verzichte auf alles, ich verbringe die Nächte mit ...«

»Warum hast du Töchter gemacht, mein Lieber? – Du willst ihnen doch nicht etwa ihre Ausbildung vorwerfen? Ein anderer Mann an deiner Stelle würde sich des Lehrerinnendiploms von Hortense und der Talente von Berthe rühmen, die heute abend wieder einmal alle Welt mit ihrem Walzer ›An den Ufern der Oise‹ hingerissen hat und deren neuestes Bild morgen bestimmt unsere Gäste bezaubern wird ... Aber du, mein Lieber, du bist nicht einmal ein Vater, du hättest deine Kinder die Kühe hüten geschickt, statt sie in ein Pensionat zu stecken.«

»Ach was! Ich hatte ja für Berthe eine Versicherung abgeschlossen. Warst nicht du es, meine Liebe, die bei der vierten Prämienzahlung das Geld dazu verwendet hat, die Möbel des Salons neu beziehen zu lassen? Und inzwischen hast du sogar die eingezahlten Prämien verschachert.«

»Stimmt! Wo du uns ja verhungern läßt ... Na, du kannst dir ja in die Finger beißen, wenn deine Töchter alte Jungfern werden.«

»Mir in die Finger beißen! Aber zum Himmeldonnerwetter, mit deinen Toiletten und deinen lächerlichen Abendgesellschaften schlägst ja gerade du die Bewerber in die Flucht!« Noch nie war Herr Josserand so weit gegangen.

Erstickt stammelte Frau Josserand die Worte: »Ich, lächerlich, ich!«

Da öffnete sich die Tür: Hortense und Berthe kamen zurück, in Unterrock und Unterjacke, mit aufgelöstem Haar, die Füße in Latschen.

»Oje, bei uns ist es aber kalt!« sagte Berthe bibbernd. »Da gefrieren einem ja die Bissen im Munde ... Hier ist heute abend wenigstens Feuer gemacht worden.«

Und beide zogen Stühle heran, setzten sich an den Ofen, der einen Rest lauer Wärme bewahrte. Hortense hielt mit den Fingerspitzen ihren Kaninchenknochen, den sie kunstvoll abknabberte. Berthe tunkte Brotschnitten in ihr Glas Fruchtsaft. Im übrigen schienen die in Fahrt gekommenen Eltern ihr Eintreten nicht einmal zu bemerken. Sie zankten sich weiter.

»Lächerlich, lächerlich, mein Lieber! Lächerlich, das werde ich nicht länger sein! Den Kopf soll man mir abhacken, wenn ich noch ein Paar Handschuhe abnutze, um die Mädchen unter die Haube zu bringen ... Jetzt bist du dran! Und sieh zu, daß du dich nicht noch lächerlicher machst als ich!«

»Bei Gott noch mal, meine Liebe! Jetzt, wo du sie überall herumgeführt und bloßgestellt hast! Bringe sie unter die Haube oder nicht, mir ist das schnuppe!«

»Mir ist das noch mehr schnuppe, mein lieber Josserand! Mir ist das so schnuppe, daß ich sie auf die Straße setzen werde, wenn du mir noch länger zusetzt. Falls du nur im geringsten Lust hast, kannst du ihnen ja folgen, die Tür steht offen ... Ach, Herrgott! Da wäre ich eine schöne Last los!«

Die jungen Damen hörten seelenruhig zu, sie waren an diese lebhaften Auseinandersetzungen gewöhnt. Sie aßen immer noch, und da die Unterjacken ihnen von den Schultern gerutscht waren, rieben sie ihre nackte Haut sacht an den lauwarmen Kacheln des Ofens; und so schamlos entblößt, wirkten sie bezaubernd in ihrer Jugend, mit ihrem Heißhunger und ihren schlaftrunkenen Augen.

»Es ist sehr verkehrt von euch, daß ihr euch streitet«, sagte Hortense schließlich mit vollem Mund. »Mama kriegt vor Kummer graue Haare, und Papa wird morgen im Büro noch krank sein ... Mir scheint, wir sind groß genug, um uns allein unter die Haube bringen zu können.«

Das gab eine Ablenkung. Der Vater, der mit seinen Kräften am Ende war, tat so, als mache er sich wieder an seine Streifbänder; und er verharrte mit der Nase über dem Papier, weil er nicht imstande war zu schreiben, so sehr zitterten ihm die Hände.

Unterdessen hatte sich die Mutter, die wie eine losgelassene Löwin im Zimmer umherlief, vor Hortense aufgepflanzt.

»Wenn du dich meinst«, schrie sie, »dann bist du ganz schön blöd! Dein Verdier wird dich niemals heiraten.«

»Das ist ja meine Sache«, erwiderte das junge Mädchen unumwunden.

Nachdem sie fünf oder sechs Freier – einen kleinen Angestellten, den Sohn eines Schneiders, andere Burschen, die ihrer Meinung nach keine Zukunftsaussichten hatten – voller Verachtung abgewiesen, hatte sie sich für einen Rechtsanwalt entschieden, den sie bei Dambrevilles getroffen hatte und der bereits vierzig Jahre alt war. Sie hielt ihn für sehr tüchtig, dazu ausersehen, ein großes Vermögen zu erwerben. Das Unglück dabei aber war, daß Verdier seit fünfzehn Jahren mit einer Geliebten zusammen lebte, die in seinem Stadtviertel sogar für seine Frau galt. Hortense wußte es übrigens und zeigte sich deswegen nicht sonderlich beunruhigt.

»Mein Kind«, sagte der Vater, erneut den Kopf hebend, »ich hatte dich doch gebeten, nicht an diese Verbindung zu denken ... Du kennst die Lage ja.«

Für einen Augenblick hörte sie auf, an dem Kaninchenknochen herumzulutschen, und erwiderte ungeduldig:

»Na und? Verdier hat mir versprochen, ihr den Laufpaß zu geben. Sie ist eine dumme Pute.«

»Hortense, es ist verkehrt von dir, so zu sprechen ... Wenn dieser Bursche nun eines Tages auch dir den Laufpaß gibt, um zu der zurückzukehren, von der er sich deinetwegen getrennt hat?«

»Das ist ja meine Sache«, wiederholte das junge Mädchen in ihrer kurz angebundenen Art.

Berthe hörte zu, sie war in diese Geschichte eingeweiht, deren mögliche Wendungen sie täglich mit ihrer Schwester erörterte. Im übrigen stand sie wie ihr Vater auf der Seite der armen Frau, die nach fünfzehn Jahren gemeinschaftlichen Lebens auf die Straße gesetzt werden sollte.

Aber Frau Josserand griff ein.

»Hört bloß auf! Diese elenden Geschöpfe landen schließlich doch immer wieder in der Gosse. Allerdings wird Verdier ja doch nie die Kraft aufbringen, sich von ihr zu trennen ... Er hält dich zum Narren, meine Liebe. Ich an deiner Stelle würde keine Sekunde auf ihn warten, ich würde mich bemühen, einen anderen zu finden.«

Hortenses Stimme wurde noch schriller, während zwei fahle Flecken auf ihre Wangen traten.

»Mama, du weißt ja, wie ich bin ... Ich will ihn haben, und ich werde ihn kriegen. Niemals werde ich einen anderen heiraten, und wenn ich hundert Jahre auf ihn warten müßte.«

Die Mutter zuckte die Achseln.

»Und du schimpfst andere dumme Puten!«

Aber das junge Mädchen hatte sich bebend erhoben.

»Ach was, fall nicht über mich her!« schrie sie. »Ich bin mit meinem Kaninchen fertig, ich gehe lieber schlafen ... Da es dir ja nicht gelingt, uns unter die Haube zu bringen, mußt du uns eben gestatten, daß wir es so machen, wie es uns beliebt.« Und sie zog sich zurück, sie schlug heftig die Tür hinter sich zu.

Frau Josserand hatte sich majestätisch zu ihrem Gatten umgewandt. Sie gab folgende tiefsinnige Bemerkung von sich:

»Da siehst du, mein Lieber, wie du deine Töchter erzogen hast!«

Herr Josserand erhob keinen Einspruch; er war damit beschäftigt, sich einen Fingernagel mit Tintentüpfelchen zu besprenkeln, bis er weiterschreiben konnte.

Berthe, die ihr Brot aufgegessen hatte, tunkte einen Finger in das Glas, um ihren Fruchtsaft aufzulutschen. Ihr war behaglich zumute, der Rücken brannte ihr, und sie beeilte sich nicht, denn sie verspürte wenig Verlangen, in ihr Zimmer zu gehen und dort die zänkische Laune ihrer Schwester ertragen zu müssen.

»Aha, das ist der Lohn!« fuhr Frau Josserand fort und nahm ihre Wanderung durch das Eßzimmer wieder auf. »Zwanzig Jahre lang plackt man sich für diese Damen ab, man bringt sich an den Bettelstab, um vornehme Frauen aus ihnen zu machen, und sie bereiten einem nicht einmal die Genugtuung, sich nun so unter die Haube bringen zu lassen, wie es einem schmeckt ... Wenn man ihnen noch etwas verweigert hätte! Aber ich habe nie einen Centime für mich behalten, habe an meinen Toiletten abgeknapst, habe sie so gekleidet, als ob wir fünfzigtausend Francs Jahreszinsen zur Verfügung hätten ... Nein, das ist doch wirklich zu dumm! Wenn diese Frauenzimmer da eine sorgfältige Erziehung genossen haben, was man gerade so an Religion braucht und vom Benehmen reicher Töchter wissen muß, dann lassen sie einen im Stich und sprechen davon, Rechtsanwälte zu heiraten, Abenteurer, die einen ausschweifenden Lebenswandel führen!« Sie blieb vor Berthe stehen, drohte ihr mit dem Finger und sagte: »Wenn du etwa auch wie deine Schwester einschlägst, dann kriegst du es mit mir zu tun.« Dann begann sie wieder umherzustapfen, redete dabei mit sich selber, sprang von einem Gedanken auf den anderen über, widersprach sich mit der Bestimmtheit einer Frau, die immer recht hat. »Ich habe getan, was ich tun mußte, und müßte es noch einmal getan werden, so würde ich es noch einmal tun ... Im Leben ziehen immer nur die den kürzeren, die am schüchternsten sind. Geld ist Geld: wenn man keins hat, dann legt man sich am besten gleich schlafen. Wenn ich zwanzig Sous hatte, habe ich immer gesagt, ich hätte vierzig; denn darin liegt die ganze Weisheit, es ist besser, Neid zu erregen als Mitleid ... Man kann noch soviel Bildung genossen haben, wenn man nicht gut gekleidet ist, verachten einen die Leute. Das ist zwar nicht gerecht, aber es ist so ... Lieber würde ich schmutzige Unterröcke tragen als ein Kattunkleid. Eßt Kartoffeln, aber bringt ein Hühnchen auf den Tisch, wenn ihr Gäste zum Abendessen habt ... Und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Dummkopf!« Sie starrte ihren Mann an, dem diese letzten Bemerkungen galten.

Erschöpft, einer neuen Schlacht ausweichend, war dieser feige genug, zu erklären:

»Das ist schon wahr, heutzutage zählt nur das Geld.«

 

»Da hörst duʼs«, versetzte Frau Josserand, wieder auf ihre Tochter zurückkommend. »Gehe deinen geraden Weg und versuche uns Freude zu bereiten ... Wieso hast du diese Partie schon wieder verpatzt?«

Berthe begriff, daß nun sie an der Reihe war.

»Ich weiß nicht, Mama«, murmelte sie.

»Ein stellvertretender Bürovorsteher«, fuhr die Mutter fort, »keine dreißig Jahre alt, eine prächtige Zukunft. Der bringt einem alle Monate sein Geld an; der ist zuverlässig, was Besseres gibtʼs nicht ... Hast du wieder mal irgendeine Dummheit gemacht wie bei den anderen?«

»Nein, Mama, das versichere ich dir ... Er wird sich erkundigt haben, er wird erfahren haben, daß ich keinen Sou besitze.«

Aber Frau Josserand erhob laut Einspruch.

»Und die Mitgift, die dein Onkel dir geben will? Alle Welt kennt sie, diese Mitgift ... Nein, da steckt etwas anderes dahinter, er hat zu plötzlich abgebrochen ... Während des Tanzes seid ihr in den kleinen Salon hinübergegangen.«

Berthe geriet in Verwirrung.

»Ja, Mama ... Und als wir allein waren, hat er häßliche Dinge gewollt, er hat mich geküßt und mich dabei so hier gepackt. Da habe ich Angst gekriegt und habe ihn gegen ein Möbelstück gestoßen ...«

Ihre Mutter, die wieder in Wut geraten war, unterbrach sie:

»Gegen ein Möbelstück gestoßen, ach, du Unglückselige! Gegen ein Möbelstück gestoßen ...!«

»Aber, Mama, er hielt mich ...«

»Na und? Er hielt dich, was ist denn schon groß dabei? Steckt solche Gänse doch in ein Pensionat! Sag mal, was hast du eigentlich gelernt?«

Eine Woge von Blut hatte Schultern und Wangen des jungen Mädchens überflutet. Berthe war verwirrt wie eine geschändete Jungfrau, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Es ist nicht meine Schuld, er sah so bösartig aus ... Ich weiß doch nicht, was man tun muß.«

»Was man tun muß? Sie fragt, was man tun muß! He, habe ich dir nicht hundertmal gesagt, wie lächerlich dein scheues Getue ist? Du bist dazu bestimmt, in der Gesellschaft zu leben. Wenn ein Mann brutal ist, dann kommt es daher, daß er dich liebt, und es gibt immer Mittel und Wege, ihn auf nette Art und Weise zurechtzuweisen ... Wegen eines Kusses hinter einer Tür! Wahrhaftig, mußt du uns, deinen Eltern, das denn eigentlich erzählen? Und du stößt die Leute gegen ein Möbelstück, und du verpatzt Partien!« Sie setzte eine schulmeisterliche Miene auf und fuhr fort: »Es hat keinen Zweck, ich gebe die Hoffnung auf, du bist beschränkt, meine Tochter ... Dir müßte man alles eintrichtern, und das wird lästig. Da du nun mal kein Vermögen besitzt, mußt du die Männer eben mit etwas anderem fangen, begreife das doch. Man ist liebenswürdig, man macht zärtliche Augen, man vergißt seine Hand, man erlaubt die Kindereien, ohne sich etwas anmerken zu lassen; kurzum, man angelt sich einen Mann ... Glaubst du etwa, es ist deinen Augen zuträglich, wenn du heulst wie ein Schloßhund?«

Berthe schluchzte.

»Du regst mich auf, hör bloß auf zu heulen ... Mein lieber Josserand, befiehl doch deiner Tochter, sie soll sich mit dieser Heulerei nicht das Gesicht verhunzen. Das wäre der Gipfel, wenn sie häßlich wird!«

»Mein Kind«, sagte der Vater, »sei vernünftig, hör auf deine Mutter, die immer Rat weiß. Du darfst nicht häßlich werden, Liebes.«

»Und mich ärgert, daß sie gar nicht mal so übel ist, wenn sie will«, begann Frau Josserand wieder. »Na, wisch dir die Augen ab, schau mich an, als ob ich ein Herr wäre, der im Begriff ist, dir den Hof zu machen ... Du lächelst, du läßt deinen Fächer fallen, damit der Herr, wenn er ihn aufhebt, deine Finger streift ... Nicht so! Du plusterst dich ja auf, daß du aussiehst wie ein krankes Huhn ... Wirf doch den Kopf zurück, mach deinen Hals frei: er ist ja jung genug, daß du ihn zeigen kannst.«

»Also so, Mama?«

»Ja, das ist schon besser ... Und sei nicht steif, laß deine Taille schmiegsam sein. Bretter haben die Männer nicht gern ... Stell dich vor allen Dingen nicht albern an, wenn sie zu weit gehen. Ein Mann, der zu weit geht, ist hin, meine Liebe.«

Die Standuhr im Salon schlug die zweite Stunde; und in der Aufregung dieses lang ausgedehnten Aufbleibens und in ihrem zur Sucht gewordenen Verlangen nach einer sofortigen Verheiratung vergaß sich die Mutter so weit, daß sie laut dachte, wobei sie ihre Tochter wie eine Puppe aus Pappe hin und her drehte.

Schlaff, willenlos ließ diese sich alles gefallen; aber ihr war ganz schwer ums Herz, Angst und Scham schnürten ihr die Kehle zu. Mitten in einem perlenden Lachen, das zu versuchen ihre Mutter sie zwang, brach sie mit verstörtem Gesicht jäh in Schluchzen aus und stammelte: »Nein, nein! Das fallt mir so schwer!«

Frau Josserand stand eine Sekunde empört und verdutzt da. Seit sie von Dambrevilles weggegangen war, saß ihr die Hand locker, es lagen Maulschellen in der Luft. Da ohrfeigte sie Berthe mit vollem Schwung.

»Da! So langsam ödest du mich an! – So eine Trine! Wahrhaftig, die Männer haben recht!«

Bei dem Ruck war ihr Lamartine, den sie nicht losgelassen hatte, zu Boden gefallen. Sie hob ihn auf, wischte ihn ab und begab sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, ihr Ballkleid königlich hinter sich herschleppend, ins Schlafzimmer.

»Das mußte ja so enden«, murmelte Herr Josserand, der seine Tochter nicht zurückzuhalten wagte, die ebenfalls ging, sich die Wange hielt und noch heftiger weinte.

Aber als Berthe im Finstern durch die Diele tappte, traf sie auf ihren Bruder Saturnin, der aufgestanden war und barfuß herumstand und horchte. Saturnin war ein großer, schlaksiger fünfundzwanzigjähriger Bursche mit seltsamen Augen, der infolge einer Gehirnentzündung ein Kind geblieben war. Wenn er auch nicht verrückt war, so setzte er, wenn man ihn ärgerte, doch das Haus durch Anfälle blinder Gewalttätigkeit in Schrecken. Allein Berthe pflegte ihn mit einem Blick zu bändigen. Als sie eine kleine Range gewesen, hatte er sie während einer langen Krankheit gepflegt und dabei wie ein Hund ihren Launen eines leidenden kleinen Mädchens gehorcht; und seitdem er sie gerettet hatte, war er von einer Schwärmerei für sie befallen, bei der jegliche Art von Liebe mitspielte.

»Hat sie dich schon wieder geschlagen?« fragte er mit leiser und glühender Stimme.

Besorgt darüber, ihn hier zu treffen, versuchte Berthe ihn zurückzuschicken.

»Geh schlafen, das geht dich nichts an.«

»Doch gehtʼs mich was an. Ich will nicht, daß sie dich schlägt! Sie hat mich wach gemacht, so laut hat sie geschrien ... Sie soll ja nicht noch mal anfangen, sonst dresche ich zu!«

Da ergriff sie seine Handgelenke und sprach zu ihm wie zu einem aufbegehrenden Tier. Er unterwarf sich sogleich, er stammelte, während ihm wie einem kleinen Jungen die Tränen kamen:

»Es tut dir sehr weh, nicht wahr? Wo ist dein Wehweh? Ich will ein Küßchen drauf geben.« Und da er in der Dunkelheit ihre Wange gefunden hatte, küßte er sie, benetzte sie mit seinen Tränen, wobei er immer wieder sagte: »Es ist wieder heil, es ist wieder heil!«

Unterdessen hatte Herr Josserand, der allein geblieben war, seine Feder sinken lassen, da ihm das Herz vor Kummer allzu schwer war. Nach einigen Minuten stand er auf, um leise an den Türen zu horchen. Frau Josserand schnarchte. Im Zimmer seiner Töchter weinte niemand. Die Wohnung war schwarz und friedlich. Da kehrte er ein wenig erleichtert zurück. Er schraubte die blakende Lampe zurecht und begann mechanisch wieder zu schreiben. Im feierlichen Schweigen des eingeschlafenen Hauses rollten zwei dicke Tränen, die er gar nicht spürte, auf die Streifbänder hinab.

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