Nana

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Nana

Erotische Bibliothek

Band 19

Émile Zola

Nana

Erstmals erschienen 1880 unter dem Titel Nana

Aus dem Französischen von Fritz Lindemann 1920

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

1. Erstes Kapitel

2. Zweites Kapitel

3. Drittes Kapitel

4. Viertes Kapitel

5. Fünftes Kapitel

6. Sechstes Kapitel

7. Siebentes Kapitel

8. Achtes Kaptiel

9. Neuntes Kapitel

10. Zehntes Kapitel

11. Elftes Kapitel

12. Zwölftes Kapitel

13. Dreizehntes Kapitel

14. Vierzehntes Kapitel

Über den Autor

Die erotische Bibliothek

1
Erstes Kapitel

Um neun Uhr war der Saal des Varietétheaters noch leer. Ein paar Leute saßen wartend in den Logen und im Parkett und verloren sich zwischen den rotsamtnen Sesseln. Im Halbdunkel sah der Vorhang wie ein großer roter Fleck aus; kein Geräusch drang von der Bühne herüber, die Rampenlichter waren noch nicht angezündet, die Plätze der Musiker noch leer. Nur hoch oben auf der dritten Galerie, die Kuppel des Plafonds entlang, wo nackte Frauen- und Kindergestalten ihren Aufflug nach einem vom Gaslicht grün bestrahlten Himmel nahmen, hörte man aus einem anhaltenden Stimmengewirr Sprechen und Gelächter, und unter den breiten runden, mit Goldstäben durchkreuzten Luftklappen reihten sich stufenförmig mit Häubchen und Hüten bedeckte Köpfe an- und übereinander. Zuweilen zeigte sich eine geschäftige Logenschließerin, die mit den Eintrittskarten in der Hand einen Herrn im Frack oder eine wohlbeleibte Dame vor sich herschob, die sich dann setzten und langsam ihre Blicke durch den Saal gleiten ließen.

Zwei junge Männer traten in den Orchesterraum. Sie blieben stehen und schauten sich um.

»Was hab' ich dir gesagt, Hector?« rief der ältere, ein hochgewachsener junger Mann mit kleinem, schwarzem Schnurrbärtchen. »Wir kommen viel zu früh. Du hättest mich meine Zigarre ruhig ausrauchen lassen sollen.«

Eine Logenschließerin schritt vorbei.

»Oh, Herr Fauchery«, wandte sie sich familiär zu den beiden Besuchern, »es vergeht sicher noch eine halbe Stunde, bevor angefangen wird.«

»Weshalb wird aber dann auf den Zetteln der Anfang auf neun Uhr angekündigt?« erwiderte Hector, dessen langes, hageres Gesicht ein verdrießliches Aussehen zeigte. »Heute morgen noch hat mir Clarisse, die in dem Stück beschäftigt ist, versichert, daß präzis neun Uhr begonnen werde.«

Einen Moment lang trat Stillschweigen ein; die jungen Leute sahen prüfend zu den Logen hinauf, die durch die grüne Tapete noch dunkler erschienen. Die Parterresitze unterhalb der Galerie waren in völlige Nacht getaucht. Nur in einer Balkonloge saß eine korpulente Dame, die sich mit beiden Ellenbogen auf die Samtbekleidung des Geländers stützte. Die zwischen den hohen Säulen mit langfransigen Vorhängen drapierten Proszeniumslogen zur Rechten und Linken waren leer. Der große Saal, mit weißen und vergoldeten Ornamenten geschmückt, die sich von dem mattgrünen Hintergrund abhoben, schwamm in einem feinen Lichtnebel, der von den niedrigen Flammen des großen Kristall-Armleuchters ausging.

»Hast du übrigens dein Proszeniumsbillett für Lucy bekommen?« fragte Hector.

»Ja«, versetzte der andere, »ohne besondere Mühe ... Oh, es besteht keine Gefahr, daß Lucy zu früh kommt! Die wäre gerade danach!«

Er unterdrückte ein leises Gähnen; dann sagte er nach einer kurzen Pause:

»Du hast wirklich Glück, hast ja bisher noch keine Premiere gesehen ... ,Die blonde Venus' wird das Ereignis des Jahres sein; man spricht schon seit einem halben Jahr von nichts anderem. Ach, mein Lieber, eine Musik! Faktisch hundsmäßig! ... Bordenave, der sein Geschäft aus dem Effeff versteht, hat sich das für die Ausstellung aufbewahrt.«

»Und Nana, der neue Stern, die die Venus spielen soll, kennst du die?«

»Um Gottes willen, laß mich zufrieden! Soll das wieder losgehen!« schrie Fauchery, die Arme in die Luft werfend. »Den ganzen Morgen schon bringt man mich schier um mit dieser Nana. Mit mehr als zwanzig Leuten habe ich heute schon geredet, und Nana hinten, Nana vorne! ... Nana ist der Trumpf unseres Bordenave. Es wird schon was Sauberes sein!«

Er beruhigte sich, aber die Leere des Saals, das Halblicht des Kronleuchters, die andächtige, von gedämpften Stimmen und leise zufallenden Türen unterbrochene Stille reizten ihn von neuem.

»Aber nein«, rief er plötzlich, »hier langweilt man sich ja wie ein Mops! Ich mache, daß ich weiterkomme. Höre, wir wollen sehen, ob wir nicht unten Bordenave aufgabeln; vielleicht kann er uns Aufklärung geben.«

Unten in dem großen, mit Marmorplatten belegten Vestibül, wo die Billettkontrolle ihren Platz hatte, strömte das Publikum langsam zusammen. Durch die drei geöffneten Türgitter hindurch sah man das hastige Leben auf den Boulevards, die in der schönen Aprilnacht flammten und wimmelten. Das Wagengerassel brach kurz ab, die Portieren schlossen sich geräuschlos, und in kleinen Gruppen traten Leute ein, die sich erst vor der Kontrolle stauten, dann die doppelte Treppe im Hintergrunde hinaufstiegen, auf der die Frauen, ihren Körper hin- und herwiegend, zögernd umherstanden. In diesem grell erleuchteten, mit seiner dürftigen Empiredekoration nackt und kahl aussehenden Vorraum hingen hohe gelbe Plakate, auf denen mit großen schwarzen Lettern der Name »Nana« zu lesen stand. Herren, die sich in dem Durchgang herumdrückten, stellten sich vor ihnen auf und lasen sie; andere plauderten, an der Tür lehnend und den Eingang versperrend, während neben dem Billettschalter ein dicker Mann mit breitem, glattrasiertem Gesicht den Leuten, die durchaus noch einen Platz haben wollten, auf ihre Fragen Antwort erteilte.

»Sieh, da ist Bordenave«, sagte Fauchery, der die Treppe herunterkam.

Aber auch der Direktor war seiner ansichtig geworden.

»Ei, Sie sind mir ein netter Herr!« schrie er ihm schon von weitem zu. »Eine schöne Art und Weise, wie Sie meine Rezensionen besorgen. Ich habe heute morgen im ,Figaro' gesucht. Ja prosit! Nichts ist drin!«

»Warten Sie doch ruhig ab!« versetzte Fauchery. »Erst muß ich doch Ihre Nana gesehen haben, bevor ich über sie schreibe ... Übrigens habe ich Ihnen gar nichts versprochen.«

Dann stellte er dem Direktor, um die Unterredung kurz abzuschneiden, seinen Gefährten als seinen Vetter, Hector de la Faloise, vor, der zur Vollendung seiner Bildung sich längere Zeit in Paris aufzuhalten gedenke. Der Direktor taxierte den jungen Mann mit einem einzigen Blick; Hector dagegen musterte ihn mit einiger Erregung. Das war also Bordenave, jener Mann, der einen förmlichen Weibermarkt hielt, der die armen Geschöpfe wie ein Bagnoaufseher traktierte, das war also der Mann mit dem allezeit über Reklame brütenden Gehirn, der schreiend, spuckend, sich auf die Schenkel klopfend, mit zynischen Gebärden und Häscherblicken hier auf und ab schritt! Hector glaubte, ein paar verbindliche Worte sprechen zu sollen.

»Ihr Theater ...« begann er mit dünner Stimme.

»Bitte, sagen Sie: mein Bordell!« unterbrach ihn Bordenave als Mann, der es liebt, sich ungeniert zu bewegen und auszudrücken.

Faucherys Lippen umspielte ein beifälliges Lächeln, während Faloise mit seiner höflichen Phrase, die ihm im Halse steckenblieb, verdutzt dastand und so tat, als versuche er dem von Bordenave hingeworfenen garstigen Worte Gefallen abzugewinnen. Dieser hatte sich schleunigst einem dramatischen Kritikus, dessen Feuilleton großen Einfluß hatte, genähert, um einen Händedruck mit ihm auszutauschen. Als er zurückkam, trat Faloise, der für einen Provinzler angesehen zu werden fürchtete, wenn er sich allzu bestürzt zeigte, wieder zu ihm.

»Mir ist erzählt worden«, ergriff er wieder das Wort, da er absolut etwas reden wollte, »daß Nana eine herrliche Stimme haben soll.«

»Die!?« rief der Direktor achselzuckend. »Die reinste Krähe!«

Der junge Mann beeilte sich, seiner vorigen Bemerkung hinzuzufügen: »Doch eine ausgezeichnete Komödiantin soll sie sein!«

»Die!? ... Der reinste Klotz! Weiß ja nicht einmal, wie sie die Beine und Hände halten soll.«

Faloise errötete leicht. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er stammelte: »Ich hätte um keinen Preis der Welt die heutige Premiere verpassen mögen ... Ich wußte, daß Ihr Theater ...«

»Bitte, mein Bordell!« unterbrach ihn Bordenave nochmals mit der Starrköpfigkeit eines Menschen, der für seine Überzeugung Gründe hat.

Währenddessen schaute sich Fauchery die eintretenden Frauen an. Er kam seinem Vetter zu Hilfe, als er ihn mit offenem Munde, nicht wissend, ob er lachen oder sich ärgern sollte, dastehen sah.

 

»Gönne doch Bordenave den Spaß und nenne sein Theater, wie er es wünscht, wenn ihm das Freude macht ... Und Sie, mein verehrter Herr Direktor, führen Sie uns nicht auf den Leim! Wenn Ihre Nana nicht singen und nicht spielen kann, so werden wir eben einen Durchfall zu registrieren haben, weiter nichts.«

»Einen Durchfall!? Einen Durchfall!« schrie der Direktor, während sein Gesicht sich puterrot färbte. »Muß denn ein Frauenzimmer nur singen und spielen können? Ach, mein Herrchen, du bist ein wenig allzu dämlich ... Nana hat andere Dinge, ei Donnerwetter! Etwas, was für jeden anderen Mangel entschädigt. Ich hab' sie aufgestöbert, und das, was ich meine, ist ganz famos bei ihr vertreten, oder meine alte Spürnase ist nicht mehr wert als die des dümmsten Einfaltspinsels ... Du sollst sehen, junger Herr, du sollst sehen: sie braucht nur aufzutreten, und der ganze Saal läßt die Zunge lang aus dem Halse heraushängen.«

Er hatte seine feisten Hände emporgehoben, und wie erleichtert senkte er jetzt die Stimme und brummte:

»Oh, sie wird's weit bringen ... Eine Haut, oh! Eine Haut hat diese Nana ...«

Und jetzt verstand er sich auf Faucherys Fragen dazu, Einzelheiten zu geben, mit einer Roheit in den Ausdrücken, die für Hector de la Faloise viel Verletzendes hatte: er habe Nana kennengelernt und habe sich vorgenommen, sie groß herauszustellen, da es sich gerade getroffen, daß er eine Venus brauchte. Er pflege sich nicht erst lange den Kopf warm zu machen mit »so 'nem Frauenzimmer«, sondern halte es für besser, gleich brühwarm damit vor das Publikum zu rücken. Aber er sei in des Teufels Küche geraten in seiner Baracke, die durch die Ankunft dieses langen Weibsbildes ganz aus den Fugen gegangen sei. Rose Mignon, sein Stern, eine vollendete Schauspielerin und bewunderte Sängerin, hatte, weil sie eine Nebenbuhlerin witterte, wütend gedroht, ihn im Stich zu lassen. Und wie's an die Plakate gegangen war, Herrgott, was hatte das für einen Spektakel gesetzt! Es sei ihm zuletzt nichts übriggeblieben, als sich dazu zu bequemen, die Namen der beiden Künstlerinnen in Buchstaben gleicher Größe auf den Theateranschlägen drucken zu lassen. Sonst aber lasse er sich nicht eben viel vormachen. Wenn eines seiner »kleinen Weibsen«, wie er sie nannte, Simonne oder Clarisse, nicht tanzen wolle, wie er pfeife, so gebe er ihnen sehr einfach einen Tritt in den Hintern; anders sei mit solchem Korps kein Auskommen. Er handle ja mit ihnen und wisse sehr wohl, was sie wert seien, diese albernen Mädel!

»Ei, sieh da!« unterbrach er sich. »Mignon und Steiner! Immer beisammen! Sie wissen doch, daß Steiner seit einiger Zeit bis über die Ohren bei der Rose drin sitzt, und nun weicht der Herr Gemahl dem guten Manne nicht mehr von der Pelle, aus Furcht, daß er durch die Lappen gehen könnte.«

Auf dem Trottoir warf die Lampenreihe, die an der Fassade des Theatergebäudes entlang aufflammte, eine Fläche von lebhafter Helle. Zwei Bäumchen hoben sich deutlich mit leuchtendem Grün ab; eine Säule, die so hell erleuchtet war, daß man die Plakate wie beim vollen Tageslicht zu lesen vermochte, schimmerte weiß, und darüber hinaus breitete sich die dichte Nacht des Boulevards mit winzigen Flämmchen, die in dem Bereich der auf und nieder wogenden Menge bald hier, bald dort emporzitterten. Viele traten nicht sogleich ein, sondern blieben, um plaudernd ihre Zigarre zu Ende zu rauchen, draußen unter dem Lichtbereich der Lampenreihen stehen, der ihren Gestalten eine fahle Blässe gab und ihre kurzen schwarzen Schatten auf dem Asphalt abhob. Mignon, ein langer, breitschulteriger Lebemann mit dem dicken Schädel eines Jahrmarktherkules, brach sich einen Weg mitten durch die Gruppen, an seinem Arm den Bankier Steiner schleppend, einen Mann von winziger Figur mit einem spitzen Bäuchlein und einem runden, von einer Krause ergrauenden Barthaars umrahmten Speckgesicht.

»Ah, Herr Steiner«, wandte sich Bordenave an den Bankier, »Sie haben sie ja gestern in meinem Büro gesehen.«

Mignon hörte mit gesenkten Lidern zu und drehte in nervöser Erregung an seinem Finger einen dicken Diamanten. Er hatte begriffen, daß es sich um Nana handelte: und als jetzt Bordenave eine Photographie seiner Debütantin hervorlangte, die eine Flammenröte auf den Wangen des Bankiers entzündete, konnte er nicht länger dem Drang, sich ins Mittel zu legen, widerstehen.

»Aber ich bitte Sie, mein Lieber, lassen Sie doch dieses Dämchen! Das Publikum wird ihr schön heimleuchten! ... Steiner, mein kleiner Schwede, Sie wissen, daß meine Frau in ihrer Loge auf Sie wartet.«

Er wollte ihn fortziehen. Aber Steiner weigerte sich, Bordenave zu verlassen. Eine Menschenschlange drängte und quetschte sich vor ihnen an der Kontrolle, ein Getöse verworrener Stimmen wurde laut, aus dem der Name Nana mit all dem munteren Klang seines Silbenpaares hervortönte. Die Menschen, die sich vor den Plakaten aufpflanzten, sprachen ihn aus mit lauter Stimme; andere warfen ihn im Vorübergehen mit einem fragenden Ton hin, während die Frauen, vor sich hinlächelnd, ihn mit einer Miene des Erstaunens nachsprachen. Niemand kannte Nana. Wo kam denn Nana eigentlich hergeschneit? Allerhand Histörchen kursierten, Späße und Witze wurden von Ohr zu Ohr getuschelt. Es war ein allerliebstes Kosewort, dieser kurze Name, dessen Silbenpaar im Flug jedem Munde vertraut war. Ein Fieber der Neugierde jagte die Menschen, die der leicht auszusprechende Name in kindische Freude versetzte, jene der Pariser Luft eigentümliche Neugierde, die der Heftigkeit eines hitzigen Fieberanfalls gleichkommt. Alle Welt wollte Nana sehen. Einer Dame wurden die Volants ihres Kleides abgerissen, ein Herr verlor seinen Hut.

»Ah, ich bitte, meine Herrschaften! Sie verlangen wahrhaftig auch zu viel von mir!« rief Bordenave, den etwa zwanzig Menschen mit Fragen und Bitten umlagerten. »Sie sollen sie ja sehen ... Ich mache mich jetzt aus dem Staube; man braucht mich anderwärts.«

Er verschwand, entzückt darüber, sein Publikum in Flammen gesetzt zu haben. Mignon zuckte mit den Achseln und rief Steiner wiederholt zu, daß Rose auf ihn warte, um ihm das Kostüm zu zeigen, das sie im ersten Akt tragen werde.

»Sieh doch, da unten steigt Lucy aus dem Wagen«, sagte Faloise zu Fauchery.

Lucy Stewart war es wirklich, ein kleines, häßliches Frauenzimmer von ungefähr vierzig Jahren, mit einem zu langen Hals, einem mageren, abgelebten Gesicht mit dickem, fleischigem Mund, aber so lebendig und graziös, daß sie noch immer einen hohen Reiz ausübte. Sie brachte Caroline Héquet, eine kalte Schönheit, und deren Mutter, eine sehr würdige Person mit urdummem Gesicht, mit ins Theater.

»Fauchery, du kommst mit uns, ich habe einen Platz für dich aufgehoben!« wandte sich Lucy an den jungen Mann.

»Wo denkst du hin? Wohl daß ich nichts sehen soll!« erwiderte dieser. »Ich habe einen Fauteuil belegt, denn ich sitze immer gern dem Orchester so nahe wie möglich.«

Lucy ärgerte sich. Wagte er es vielleicht nicht, sich an ihrer Seite sehen zu lassen? Dann sprang sie, mit einem Male wieder beruhigt, ohne Übergang auf einen anderen Gegenstand über.

»Warum«, fragte sie, »hast du mir denn nicht gesagt, daß du Nana kennst?«

»Ich? Nana? – Ich habe sie im Leben nicht gesehen!«

»Ganz gewiß? Man hat mir hoch und heilig versichert, du wüßtest in ihrem Schlafzimmer vortrefflich Bescheid.«

Aber in diesem Augenblick stellte sich Mignon vor sie und bedeutete ihr, indem er den Finger auf die Lippen legte, zu schweigen. Auf einen fragenden Blick Lucys zeigte er auf einen jungen, eben vorübergehenden Mann und flüsterte: »Nanas Liebster!«

Aller Blicke richteten sich auf ihn. Er war ein hübscher Bursche. Fauchery kannte ihn: Daguenet war es, ein Junggeselle, der mit Weibern dreihunderttausend Franken durchgebracht hatte und jetzt an der Börse spielte, um seinen alten Flammen hier und da einen Blumenstrauß oder ein Diner zu verehren. Lucy fand, daß er schöne Augen habe.

»Ah, da kommt Blanche!« rief sie aus. »Die hat mir gesagt, daß du Nana so genau kennst.«

Blanche de Sivry, eine große, fette Blondine, deren hübsches Gesicht dick mit Schminke belegt war, kam in Gesellschaft eines schmächtigen, mit großer Sorgfalt gekleideten Mannes von sehr distinguiertem Aussehen.

»Der Graf Xavier von Vandeuvres«, flüsterte Fauchery seinem Vetter ins Ohr.

Der Graf tauschte einen Händedruck mit dem Journalisten, während sich zwischen Blanche und Lucy eine lebhafte Auseinandersetzung entspann. Sie nahmen den ganzen Gang ein mit ihren bauschigen, dicht mit Volants besetzten Kleidern; die eine ging in Blau, die andere in Rosa; und der Name Nana kam so oft über ihre Lippen, daß jedermann ihnen zuhörte. Der Graf von Vandeuvres führte Blanche beiseite. Aber jetzt erklang der Ruf »Nana« an allen vier Ecken des Vestibüls. Fing man denn noch immer nicht an? Die Männer zogen ihre Uhr aus der Tasche; Verspätete sprangen aus ihren Wagen heraus, noch ehe die Kutscher angehalten hatten; Gruppen verließen den Gehsteig, auf dem Spaziergänger langsam durch die leergebliebene Gaslichtfläche schritten, den Hals weit vorreckend, um einen Blick in das Theater zu werfen. Ein Gassenjunge, ein Liedchen pfeifend, pflanzte sich vor eins der Plakate und schrie, indem er weiterschlurfte, mit heiserer Schnapsstimme: »Nana! Ohe, Nana!«

Über dem tosenden Lärm erschallte jetzt die gellende Zwischenaktsklingel. Ein Stimmengewirr pflanzte sich fort bis auf den Boulevard. »Es hat geklingelt! Es hat geklingelt!« Und jetzt folgte ein Drängen und Schieben und Stoßen, ein jeder wollte zuerst hinein. Mignon, der sichtlich unruhig geworden war, bemächtigte sich endlich Steiners, der sich Roses Kostüm nicht angeschaut hatte. Beim ersten Erklingen der Glocke hatte sich Faloise, Fauchery mit sich schleppend, den Weg durch die Menge gebahnt, um ja nicht den Beginn zu verpassen. Diese ungestüme Hast des Publikums irritierte Lucy Stewart.

»Die Leute tun gerade, als ob man hier immer nur besondere Stücke zu sehen bekäme!« meinte sie, während sie die Treppe hinaufstieg.

Im Saal schauten sich Fauchery und Faloise von neuem um. Die beiden Vettern suchten Gesichter von Bekannten. Mignon und Steiner standen beisammen in einer Parterreloge, mit den Fäusten auf den Samt der Brüstung gestützt. Blanche de Sivry schien für sich allein die Proszeniumsloge im Parterre belegt zu haben. Aber Faloise betrachtete vornehmlich Daguenet, der in der zweiten Reihe vor ihm einen Parkettsitz innehatte. Neben ihm saß ein blutjunger Mensch von höchstens siebzehn Jahren, der aussah, als sei er eben dem Gymnasium entlaufen, und riß seine schönen Cherubaugen weit auf. Fauchery lächelte, während er ihn betrachtete.

»Wer ist denn die Dame in der Balkonloge«, fragte plötzlich Faloise, »neben der ein junges Mädchen im blauen Kleid Platz genommen hat?«

Er zeigte auf eine korpulente, prall in ihr Korsett gezwängte Dame; das Haar war verfärbt, der Teint vergilbt, und das runde, verschminkte Gesicht quoll auf unter einem wahren Regen von kleinen Löckchen.

»Das ist Gaga«, gab Fauchery zur Antwort.

Und als er bemerkte, daß dieser Name seinen Vetter aufhorchen ließ, fügte er hinzu:

»Du kennst Gaga nicht? Während der ersten Regierungsjahre Louis Philippes hat sie die Herzen aller Männer berauscht. Jetzt schleppt sie ihre Tochter überall mit sich umher.«

Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen. Der Anblick Gagas regte ihn auf; seine Blicke verließen sie nicht mehr. Er fand, daß sie noch vortrefflich aussehe, wagte es aber nicht zu sagen.

Fauchery zeigte seinem wißbegierigen Vetter die Logen der Journalisten, nannte ihm die dramatischen Kritiker, einen dürren Herrn mit vertrocknetem Gesicht und schmalen, hämisch aufgeworfenen Lippen, einen anderen, dick und behäbig, mit einem wahren Kleinkindergesicht, der sich auf die Schulter seiner Nachbarin stützte, einer harmlosen Unschuld, die er mit väterlichem, liebevollem Blick hütete.

Aber er unterbrach seine Rede, als er Faloise mit Leuten Grüße wechseln sah, die eine Loge ihnen gegenüber innehatten. Er schien erstaunt zu sein.

»Wie«, rief er überrascht, »du kennst den Grafen Muffat de Beuville?«

»Oh, schon seit langer Zeit!« versetzte Hector. »Die Muffat haben ein Besitztum neben dem unsrigen. Ich verkehre oft bei ihnen ... Der Graf sitzt dort mit seiner Frau und seinem Schwiegervater, dem Marquis de Chouard.«

Aus Eitelkeit, glückselig ob des Erstaunens, welches sein Vetter bezeigte, erging er sich nun in Einzelheiten: Der Marquis war Staatsrat, der Graf dagegen war soeben zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden. Fauchery, der nach seinem Opernglase gegriffen hatte, betrachtete die Gräfin, eine volle Brünette mit weißer Haut und schönen schwarzen Augen.

 

»Du wirst so gut sein, mich während eines Zwischenaktes vorzustellen?« wandte er sich schließlich zu seinem Vetter. »Ich bin mit dem Grafen schon zusammengewesen, aber ich möchte sehr gern zu ihren dienstäglichen Empfangsabenden geladen werden.«

»Pst! Pst!« schallte es energisch von den höheren Galerien herunter. Die Ouvertüre hatte begonnen; noch immer kamen neue Besucher. Verspätete zwangen ganze Reihen von Zuschauern, die längst schon gesessen hatten, zum Aufstehen; die Logentüren knarrten und fielen ins Schloß zurück; grobe Stimmen stritten in den Gängen, und die Menge schwatzte und schwatzte wie ein Spatzenschwarm, wenn der Tag zur Neige geht. Es war ein Wirrwarr, ein Durcheinander von wogenden Köpfen und Armen; die einen setzten sich oder suchten ihre Sitze, die anderen wollten durchaus stehenbleiben, um einen letzten Blick über den Raum zu werfen. Der Ruf: »Niedersetzen! Niedersetzen!« ertönte mit Heftigkeit aus den finsteren Tiefen des hinteren Parterres. Eine lebhafte Bewegung ging durch die Menge: endlich sollte man die berühmte Nana zu sehen bekommen, mit der sich Paris schon acht Tage lang beschäftigte.

Allmählich stockte die Unterhaltung; nur ein paar schläfrige, fette Stimmen wurden noch ein paarmal laut; und inmitten dieses halblauten Geflüsters, dieses abebbenden Summens sprang aus dem Orchester ein flotter Walzer auf, dessen in die Beine fahrender einschmeichelnder Rhythmus reizte. Das heiter gestimmte Publikum lachte schon ... Jetzt klatschte die auf den ersten Stühlen des Parterres sitzende Claque wütend in die Hände. Der Vorhang ging in die Höhe.

»Ei, sieh doch«, rief Faloise, der in einem fort plauderte, »dort bei Lucy steht ein Herr.«

Er betrachtete die Balkonloge rechts, deren vordere Sitze Caroline und Lucy innehatten. Im Hintergrund sah man das würdige Gesicht der Mutter Carolines und das Profil eines großen, blondhaarigen Herrn in einer Haltung, die jeden, auch den kleinsten Tadel ausschloß.

»Sieh doch«, wiederholte Faloise mit Hartnäckigkeit, »es ist ein Herr drinnen.«

Fauchery ließ sich bestimmen, sein Opernglas nach der bezeichneten Balkonloge hinaufzurichten. Aber er wendete sich sogleich wieder ab.

»Ach, das ist Labordette«, meinte er mit sorglos-unbefangener Miene, als ob die Gegenwart dieses Herrn für jedermann natürlich sein müßte und von keinerlei Belang sei.

Hinter ihnen wurde »Ruhe! Ruhe!« geschrien. Jetzt erst trat Stille im Saal ein, vom Orchester bis zum Amphitheater reckten sich die Kopfreihen erwartungsvoll aufmerksamer Zuschauer empor.

Der erste Akt der »Blonden Venus« spielte im Olymp. Zuerst traten Iris und Ganymedes auf, geleitet von einer Schar himmlischer Diener, die einen Chorgesang ausführten, während sie die Sitze der Götter für den hohen Rat zurechtstellten. Unterdessen hatte Faloise dem Auftreten Clarisse Besnus' Beifall geklatscht, einem von Bordenaves kleinen »Weiberchen«, das die Iris spielte und ganz in duftiges Blau gekleidet erschien, mit einer breiten, siebenfarbigen Schärpe, die über die Taille geschlungen war.

»Du weißt doch, daß sie den oberen Teil des Hemdes umlegt, um das blaue Gewand anziehen zu können«, wendete er sich an Fauchery und sprach dabei derart laut, daß er gehört werden mußte. »Wir haben heute morgen zur Probe kostümiert ... Sie konnte das Hemd nicht so anbehalten, denn es guckte unter den Armen und am Rücken hervor.«

Eine gewisse Spannung lag jetzt über dem Saal; Rose Mignon war als Diana auf die Bühne getreten. Obwohl weder ihre Taille noch ihr ganzes Äußeres zu der Rolle paßte – sie war mager, und ihr Gesicht sah eigentümlich häßlich aus, wie das eines Pariser Gassenjungen –, erschien sie doch ganz niedlich, gleichsam wie eine Verspottung der mythischen Persönlichkeit selbst, die sie spielen sollte. Ihre erste Arie, in der sie sich mit lächerlich dummen Worten über Mars beklagte, der eben im Zuge sei, sie um der Venus willen zu verlassen, wurde mit einer schamhaften Zurückhaltung gesungen, hinter der sich aber so viel Schalkhaftigkeit barg, daß das Publikum in Hitze geriet. Der Herr Gemahl und Steiner, die Arm in Arm zusammenstanden, lachten wohlgefällig, und der ganze Saal brach in Johlen aus, als Prullière, der beliebte Schauspieler, in Generalsuniform als Mars auftrat, mit einem riesigen Federbusch am Hut und einen Säbel hinter sich herschleifend, der ihm bis an die Schulter reichte. Mars-Prullière war seinerseits Dianas überdrüssig; sie rümpfte ihm immer zu sehr die Nase. Diana dagegen schwor hoch und heilig, ihn zu überwachen und sich zu rächen. Das Duo endigte mit einem komischen Jodler, der Prullière mit seiner dem Miauen eines erregten Katers ähnelnden Stimme und seinen rollenden Bramarbasaugen überaus possierlich gelang, so daß aus den Logen helles Gelächter erschallte.

Die folgenden Szenen langweilten. Kaum gelang es dem alten Bosc, einem schwachköpfigen Jupiter, dessen Haupt von einer gewaltigen Krone bedeckt war, das Publikum auf einen Augenblick in jener Szene zu erheitern, wo er mit seiner Gattin Juno bei Gelegenheit der Bemessung des Wirtschaftsgeldes in häuslichen Streit gerät. Das Defilee der Götter Neptun, Pluto, Minerva und so weiter drohte sogar völlig schiefzugehen. Man wurde ungeduldig, und unruhiges Gemurmel schwoll langsam an, die Zuschauer verloren alles Interesse und schauten sich im Saal um. Lucy schäkerte mit Labordette; der Graf Vandeuvres streckte hinter Blanches kräftigen Schultern den Kopf hervor, während Fauchery nach der Muffatschen Familie hinüberschaute, den Grafen beobachtete, der so ernst dasaß, als habe er kein Wort bisher begriffen, oder die Gräfin anstarrte, die träumerisch umherblickte und kaum merklich lächelte. Aber plötzlich erschallte mitten in dieses allgemeine Mißbehagen das Händeklatschen der Claque. Alles wendete sich wieder der Bühne zu. War es endlich Nana? Diese Nana ließ ja entsetzlich lange auf sich warten!

Es war eine Deputation Sterblicher, welche Ganymed und Iris eingeführt hatten, respektable Bürgersleute, sämtlich gehörnte Ehemänner, die dem Herrn der Götter eine Klageschrift gegen Venus unterbreiten wollten, die die Herzen ihrer Eheweiber mit allzu viel Feuer auszustatten beliebt habe. Die Köpfe der Chorsänger waren possierlich, die Gesichter paßten trefflich zu dem Charakter, den ihre Eigner darstellten, ein Dicker vornehmlich mit einem runden Vollmondgesicht rief stürmisches Lachen hervor. Unterdessen war Gott Vulkan erschienen; grimmig nach seiner Frau forschend, die schon seit drei Tagen von ihm fortgelaufen sei. Die Rolle des Vulkan wurde von Fontan gespielt, einem Komiker von grobkörnigem Talent, der sich in einer toll-phantastischen Weise als Dorfschmied herausstaffiert hatte; er trug eine flammende Perücke, während seine nackten Arme mit von Pfeilen durchbohrten Herzen tätowiert waren. Eine Frauenstimme ertönte ganz laut im Saal: »Hu, ist das ein häßlicher Kerl!«, und alles lachte und klatschte stürmisch Beifall.

Die nun folgende Szene schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Jupiter wandte sich darin umständlich an den Götterrat, um ihm die Bittschrift der gehörnten Ehemänner zu unterbreiten ... Und noch immer keine Nana! Man sparte also wohl Nana auf, bis der Vorhang fallen würde? Ein so lang hinausgezogenes Warten ärgerte schließlich das Publikum, und heftiges Gemurmel ließ sich wieder von allen Seiten vernehmen.

»Die Sache geht schief«, flüsterte Mignon mit glückselig strahlendem Lächeln Steiner zu. »Geben Sie acht, es wird ein herrlicher Durchfall!«

In diesem Augenblick zerteilten sich die Wolken im Hintergrund und Venus erschien. Nana, ein für seine achtzehn Jahre sehr großes und kräftiges Frauenzimmer, stieg, angetan mit der weißen Göttinnentunika, das lange blonde Haar über den Schultern in einem schlichten Knoten geknüpft, in ruhiger, gemessener Haltung, dem Publikum fröhlich zulachend, nach der Rampe hernieder, während sie ihr Hauptlied anstimmte: »Wenn Venus abends die Beine sich vertritt.. .«

Als sie den zweiten Vers sang, schaute sich alles im Saal um. War das ein schlechter Witz? Oder war Bordenave eine Wette eingegangen? Noch niemals hatte man eine Stimme gehört, die so falsch und mit so geringer Schulung sang. Auch wußte sie sich nicht einmal auf der Bühne zu bewegen, sie warf die Hände nach vorn, ihr Körper blieb in einem beständigen Schaukeln, das man wenig schicklich und höchst ungraziös fand. Oho!-Rufe wurden schon laut im Parterre und in den Logen, ja man pfiff bereits, als plötzlich aus den Fauteuils der Orchesterreihe eine jugendliche Stimme laut und deutlich durch den Saal tönte: »Herrlich! Famos!«

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»