Im Eckfenster

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Gesammelte Schriften

Friedrich Gerstäcker

Im Eckfenster

Der Krimi vom Hagenmarkt zu Braunschweig

Volks- und Familien-Ausgabe

2. Serie Band Siebzehn

der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Thomas Ostwald. 6 Vollbilder von Ant. C. Baworowski aus der Ausgabe des Verlages C. Grumbach, Leipzig.

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17

38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. © 2005 / 2020

Erstes Kapitel



Eine Überraschung

itten in Rhodenburg, einer ziemlich großen deutschen Provinzialstadt, dem alten, jetzt nur noch selten benutzten Schlosse gegenüber, wohnte in einem nicht sehr ausgedehnten, aber dafür höchst elegant eingerichteten Gebäude Freiherr von Solberg, aus einer alten, sehr reichen Familie und durch sein bedeutendes Vermögen auch vollständig unabhängig von der Welt gestellt. Da der Mensch

aber nur in Ausnahmefällen selber weiß, wann es ihm wohl ist, und außerdem auch noch eine Beschäftigung verlangt, so suchte von Solberg bald nach seiner Verheiratung den Hofdienst und bekleidete jetzt die Stellung eines Kammerherrn, ohne jedoch verpflichtet zu sein, dem Hofe überallhin zu folgen.

Nur im Spätsommer jedes Jahres zog auch der Hof, oft nur der Fürst allein, auf kurze Zeit nach Rhodenburg, und zwar auf ein benachbartes Jagdschloss, und hielt dort einen kleinen Hofstaat. Dann allerdings lagen dem Kammerherrn von Solberg die üblichen Funktionen ob, die oft seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Freiherr von Solberg nannte sich, aber mit Stolz, einen ‚fürstlichen Diener‘, war jedoch in der Zeit nicht einmal sein eigener Herrn, viel weniger ein Freiherr.

Gegenwärtig hielt der Fürst aber seinen Hofstaat in der Residenz – es war Frühjahr in Deutschland, und zwar ein so prachtvolles Aprilwetter, dass es den Sommer schon um diese frühe Jahreszeit hereinzauberte. Die glänzenden, klebrigen Knospenkolben der Kastanien brachen auf, die Vögel zwitscherten in allen Zweigen, und die Sonne sandte ihre Strahlen so warm auf die Erde nieder, dass sie den Schnee selbst aus den höheren Gebirgen aufsog und in Sturzbächen hinab ins Tal sandte.

In dem Frühstückszimmer des Solbergschen Hauses war die Familie heute Morgen versammelt – der Kammerherr, die gnädige Frau und ihre Tochter Franziska, ein liebes, lebensfrisches junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren – und das kleine, freundliche, mit jedem Luxus ausgestattete Gemach sah dabei überaus wohnlich und behaglich aus. Die Fenster standen geöffnet und ließen die Morgensonne voll herein, der große Blumentisch war bedeckt von prachtvollen Blüten und breiten, saftigen Blättern, und das silberne Kaffeegeschirr blitzte und funkelte in den lichten Strahlen – aber an den Insassen dieser reichen Heimat schien das alles machtlos abzugleiten. Die sonst so stolze und gefeierte Dame hatte den Kopf in die linke, feine, mit kostbaren Ringen bedeckte Hand gelehnt und sah still und trüb vor sich nieder; in Franziskas Augen glänzten ein paar große Tränen, und selbst der im Ganzen etwas steife und förmliche Kammerherr schien von irgendeinem Schmerz gedrückt und schaute, während er nur langsam dann und wann an seiner Tasse nippte, still und sinnend vor sich nieder.

Wieder und wieder aber flog ein Blick der Frau zu einem mit einem frischen Kranz umschlungenen Bilde hinüber, das über dem Sofa hing und einen jungen Mann, eigentlich noch einen Knaben, zeigte, der, in einer kurzen Jacke, mit offenem Hemdkragen und keckem, gutmütigen Ausdruck in den jugendlichen Zügen, den linken Arm auf ein neben ihm stehendes kleines schottisches Pony gestützt, einen großen Neufundländer an der Seite, stand, als ob er nur eben noch auf etwas warte und dann fröhlich in das freie Land hinaustraben wolle.

„Zehn Jahre“, sagte endlich mit leiser, schmerzgedrückter Stimme die Mutter, „zehn lange, endlose Jahre sind es heute, Rudolf, dass unser Hans uns verließ, an seinem Geburtstag gerade. Heute würde er dreißig Jahre alt, wenn er noch lebte“, setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, und auch quollen jetzt ein paar große, heiße Tränen an den Wangen nieder.

„Aber warum soll er nicht mehr leben, Mutter!“ sagte die Tochter leise und musste sich Mühe geben, die Eltern nicht merken zu lassen, wie wenig Hoffnung dafür sie selber hatte. „Es sind so viele Menschen weit in die Welt hinausgezogen und gesund und kräftig wieder zu den Ihren zurückgekehrt, und wo sich einer durchschlägt, da darfst du’s dem Hans gewiss auch zutrauen.“

„Und glaubst du den“, rief die Mutter besorgt aus, „er hätte, wenn er wirklich noch unter den Lebenden weilte, nicht ein einziges Mal an mich, an den Vater geschrieben? Und wovon sollte er gelebt haben? Das wenige Geld, das er mitgenommen, langte ja nicht einmal auf Monate, viel weniger denn auf die langen Jahre aus! Nein, nein, mein Kind ist tot, tot verscharrt an irgendeinem fremden, unbekannten Platz, mir sagt es das Mutterherz, meine Augen werden sein liebes Antlitz nie, nie wieder im Leben sehen.“

Franziska seufzte schwer auf, sie konnte nichts darauf erwidern, so gern sie die Mutter auch getröstet hätte, und der Kammerherr stand auf. Er schämte sich, seine eigene Bewegung zu zeigen, und ging mit langen, raschen Schritten im Zimmer auf und ab.

Die Mutter weinte still vor sich hin, aber sie konnte das nicht heimlich und allein tragen, was ihr jetzt in lang zurückgehaltenem Schmerz die Brust erfüllte.

„Wie still und öde das jetzt hier im Hause ist!“ sagte sie nach einer kurzen Pause. „Weißt du noch, Rudolf, wenn Hans morgens vor uns aufgestanden war und ungeduldig auf das Frühstück wartete, wie er dann da drinnen an das Instrument ging und mit aller Gewalt, um uns herbeizurufen, den Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum spielte? Ich kann den Marsch seit der Zeit nie mehr hören, ohne dass es mir einen förmlichen Stich durchs Herz gibt.“

Franziska rollten ein paar große Tränen an den Wangen nieder und sie wandte sich halb von der Mutter ab, damit diese sich nicht noch mehr aufregen sollte. Aber plötzlich zuckte sie empor und fühlte zugleich, wie die Mutter fast krampfhaft ihren Arm ergriff und festhielt. Auch der Vater blieb mitten in der Stube erschrocken stehen und horchte nach dem Nebenzimmer hinüber, aus dem jetzt kräftig gegriffene Akkorde herübertönten, die aber auch schon in demselben Moment eine bestimmte Form annahmen.

„Heiliger Gott“, rief die Mutter und richtete sich, ohne aber den Arm der Tochter loszulassen, halb von ihrem Stuhl empor. „Was ist das? Ist das nicht ...“

Sie hatte in der Tat Ursache, erstaunt zu sein, denn wer konnte jetzt da drüben überhaupt spielen? Die Gesellschafterin Franziskas lag seit acht Tagen krank in ihrem Zimmere, und die Töne – es war der nämliche Marsch, von dem die Mutter eben gesprochen und den sie nie wieder seit der langen Zeit in dem Hause gehört.

„Hans!“ kreischte die Frau mehr, als sie den Namen rief. „Allerbarmer!“

Die Musik war plötzlich verstummt, aber wenige Sekunden später und ehe sich selbst der Vater besonnen hatte, nach der Tür zu eilen, wurde sie aufgerissen. Eine schlanke, kräftige, sonnengebräunte Gestalt mit einem wirren, dunklen Lockenkopf stand auf der Schwelle, und mit dem Jubelschrei „Mutter, meine liebe, liebe Mutter!“ sprang er auf die Dame zu, fasste sie in seine Arme und drückte sie, während er ihre Stirn mit Küssen bedeckte, fest und innig an sich.

Die Mutter lag halb ohnmächtig, selig in seinen Armen, doch auch Franziska war herbeigeeilt und hatte den Bruder umfasst, während der Kammerherr einen Moment in einer Art von Betäubung stand, denn diese Art von Überraschung, die ganze Szene mit ihrer Aufregung, selbst neben dem Ungesetzlichen des Einschleichens, ohne dass auch nur einer der Dienstboten einen Fremden gemeldet hätten, widerstrebte für den ersten Augenblick seinem aristokratischen Gefühl, aber es war doch auch wirklich nur ein Augenblick. Sein Sohn, sein Kind, sein Erbe, an dem ja von je sein ganzes Herz gehangen, stand da vor ihm, nicht verloren, sondern kräftig und gesund, wie sich der Sohn jetzt, ohne jedoch die Mutter loszulassen, zu ihm überbeugte, schlang auch er seinen Arm um ihn, und eine glücklichere Gruppe gab es vielleicht in diesem Augenblick nicht auf der ganzen weiten, sonnenbeschienenen Welt.

Es dauerte auch eine geraume Zeit, bis sich die einzelnen Glieder dieser fest ineinander geschlungen Kette wieder lösten und Gedanken, Sprache gewannen, dann aber stürmte eine solche Flut von Fragen auf den jungen Mann ein, dass er, noch unter Tränen lachend, beide Hände vorstreckte und ausrief: „Aber Mutter, Fränzchen, um Gottes Willen nicht alles auf einmal, und nur nach der Reihe! Ich gebe euch mein Wort, dass mir der Kopf schon außerdem so wirr ist, ich weiß kaum, wo er mir steht, und ich muss mich selber erst besinnen, ob ich auch wirklich hier bei euch in dem lieben, alten Rhodenburg sitze und die Geschichte nicht, wie schon vieltausendmal vorher nur eben träume, um nachher den ganzen langen Tag an dem Traum zu brüten und gegen das Heimweh anzukämpfen!“

 

„Aber wo kommst du jetzt her?“ sagte der Vater. „Du bist ganz von der Sonne verbrannt.“

„Direkt von Peru.“

„Von Peru?“ rief die Mutter und schlug die Hände in blankem Erstaunen zusammen. „So weit und den langen Weg über das Meer?“

„Ja, Mama“, lachte ihr der Sohn freundlich zu. „Eine lange Strecke ist’s freilich, aber auf den englischen Postdampfern fährt man jetzt so rasch und so bequem...“

„Und die vielen furchtbaren Stürme, die wir in der letzten Zeit hier gehabt“, sagte die Mutter innerlich zusammenschauernd. „Oh, da kann ich dem Himmel ja gar nicht genug danken, dass ich dich mit keiner Ahnung meines Herzens auf dem großen Wasser wusste, ich wäre sonst in meiner Todesangst hier vergangen.“

„Das ist allerdings ein Glück, Mama“, lächelte Hans. „Denn du würdest dich ganz ohne Not gesorgt haben. Wir hatten die ganze Zeit das herrlichste ruhige Wetter und außerdem eine sehr vergnügte Reise mit äußerst angenehmen Reisegefährten.“

„Und nicht ein einziges Mal geschrieben hast du, Hans“, rief die Mutter in vorwurfsvollem Ton. „Nicht einen einzigen Brief, so dass wir doch wenigstens wussten, du lebst und denkst noch an uns.“

„Ja, Mama“, sagte Hans verlegen. „Das ist mit dem Briefeschreiben von da drüben her eine ganz eigene Sache, und ich könnte dir Hunderte von jungen Leuten nennen, die sich desselben Vergehens schuldig gemacht haben. So lange man noch nichts ist und noch nichts verdient hat, schämt man sich, nach Haus zu schreiben. Man will nicht gern eingestehen, dass man sich in allen Hoffnungen getäuscht gesehen hat, und nachher, wenn man es erst zu etwas bringt, ja, dann denkt man wieder vor allem an die Heimat, schiebt aber das Briefschreiben ebenfalls wieder und wieder hinaus, immer in der Hoffnung, auch gleich recht bald und im ersten Briefe den Tag bestimmen zu können, wo man imstande ist, wieder heimzukehren – und so wird immer nichts daraus.“

„Aber wie bist du nach Peru gekommen?“ fragte der Vater.

„Und hast du denn schon gefrühstückt, Hans?“ rief die Mutter, indem sie auch schon die neben ihr stehende Glocke anschlug. „Armes Kind, meine Seele hat nicht daran gedacht!“

„Gewiss, Mama!“ lachte Hans, während ein Diener in der Tür erschien. „Ich bin in der Nacht angekommen, und da ich euch so spät nicht stören wollte und auch wusste, dass ihr nicht so früh zu sprechen wart, trank ich meinen Kaffee im Wirtshaus. Aber das schadet nichts, ich trinke noch einmal. Zu lange habe ich mich darauf gefreut, hier mit euch wieder einmal in dem traulichen Stübchen am runden Tisch zusammenzusitzen, und du darfst mir immer eine Tasse kommen lassen.“

Die Befehle waren rasch gegeben, und wenn auch der Diener äußerst erstaunt war, einen fremden Herren mit an der Frühstückstafel zu sehen, den er gar nicht angemeldet hatte, ja, von dem er nicht einmal etwas wusste, so durfte er doch natürlich dieser Verwunderung keine Worte geben. Franziska aber war sein verdutztes Gesicht nicht entgangen, und sich lachend an den Bruder wendend, sagte sie: „Aber wie bist du nur unbemerkt ins Haus gekommen, Hans? Müller, unser Diener hier, kann wenigstens nichts von dir gewusst haben, denn er guckte dich mit groß verwundertem Gesicht an.“

„Durch den Garten, Schatz!“ rief ihr Bruder.

„Durch den Garten?“ sagte der Kammerherr. „Aber um in den Garten zu kommen, musst du doch erst durchs Haus und den Gartensalon.“

„Ja“, meinte Hans, „wenn ich den ehrbaren Weg durch die Tür gemacht hätte, aber ich bin über das eiserne Staket gestiegen.“

„Hans!“ sagte die gnädige Frau erschreckt. „Am hellen Tage, was sollen denn die Nachbarn davon denken?“

„War mir verwünscht gleichgültig heute morgen, Mama“, lachte der junge Mann, „was die Nachbarn von mir dachten, wenn ihr mich nur nicht gewahr würdet.“

„Und über die spitzen Eisenstangen – du hättest ein Unglück haben können.“

„Bah – der Weg da hinüber ist kaum weniger bequem als durch die Tür- die Querstangen sind so pfiffig angebracht, dass sie eine förmliche Leiter bilden. Ich begegnete auch keinem Menschen, als glücklicherweise unserem alten Klaus, dem Gärtner, der mich natürlich nicht mehr kannte und gleich abfassen wollte. Die Freude von dem Alten aber, als ich ihm meinen Namen nannte – und der führte mich denn auch gleich die kleine Treppe hinauf, zu der er den Schlüssel hatte, in den Gartensalon.“

„Und von Peru kommst du jetzt?“ wiederholte der Vater noch immer kopfschüttelnd, denn er selber hatte nur einen höchst unbestimmten Begriff, wo Peru überhaupt auf der Karte lag. Alles, was er davon wusste, war, dass es Pizarro einst entdeckt und erobert hatte. – „Kind, Kind, wie bist du dahin gekommen, was hast du dort getrieben und woher überhaupt die Mittel erhalten, um nur zu leben, vielmehr denn die teure Reise zu bezahlen? Und du siehst“, fuhr er, einen prüfenden Blick auf ihn werfend, „wohl ein wenig verwildert und ein klein wenig zu ungeniert, doch immer ganz anständig aus.“

Hans lachte. „Ja, Papa“, sagte er, „wunderlich genug ist es mir allerdings gegangen, und im Anfang habe ich auch schwer und tüchtig arbeiten müssen.“

„Arbeiten!“ rief die Mutter in blankem Entsetzen. „Arbeiten? Was? In einem Büro?“

„Hahaha, Mama!“ lachte Hans, während der Diener gerade hereinkam und das Verlangte auf den Tisch stellte. „Ja, Büro! Du machst dir einen schönen Begriff von den dortigen Zuständen, mit der Spitzhacke und Schaufel, mit der Axt und Schürstange, ich war Feuermann auf einem Mississippi-Dampfer, Arbeiter an der Eisenbahn, ich habe Holz geschlagen und...“

Er traf den blick seiner Mutter, der mit einem wirklichen Ausdruck des Entsetzens auf ihm haftete und dann von ihm nach dem Diener hinüber flog. Wie war es möglich, dass ihr Sohn in Gegenwart eines Bedienten erzählen konnte, er habe an der Eisenbahn gearbeitet und Holz gehackt, was hier ja nur die niedrigsten Tagelöhner verrichten. Und er wurde nicht einmal rot dabei!

Hans lächelte leise vor sich hin. Er begriff recht gut, wodurch er die Gefühle seiner Mutter verletzt hatte, und wollte ihr ja nicht weh tun, wenn er selbst auch nichts Außerordentliches darin sah. Der Diener verließ auch gleich darauf das Zimmer wieder.

„Aber, Hans“, sagte die Mutter mit freundlichem Vorwurf im Ton, kaum, dass der Diener die Tür ins Schluss gedrückt hatte. „Solche Scherze solltest du doch nicht machen, wenn die Dienerschaft im Zimmer ist.“

„Was für Scherze, Mama?“

„Nun, mit deinem Arbeiten und Holzhacken!“

„Aber Mama, das war wahrhaftig kein Scherz, ich habe wenigstens tüchtige Blasen dabei an den Händen bekommen!“

„Aber du willst uns doch nicht sagen, dass du wirklich und gewiss im Ernst Tagelöhnerdienste hast verrichten müssen“, warf jetzt auch der Vater ein.

„Sicher will ich das, Papa“, sagte Hans, ihm treuherzig ins Auge sehend. „Der Mensch will doch leben, und ich war oft gezwungen, wenigstens am Anfang, alles zu ergreifen, um mich ehrlich durchzubringen.“

„Aber, weshalb um Gottes Willen, hast du denn da nicht an mich geschrieben, dass wir dir Geld hinüberschicken! Du weißt doch, dass ich alles geopfert hätte, ehe ich meinen Sohn einer solchen Schmach aussetze!“

„Schmach! Lieber Vater“, sagte Hans, langsam und mit besonderem Nachdruck auf das Wort. „Wir haben da drüben einen anderen Begriff von Schmach. Wir halten das dafür, wenn jemand durch Faulenzen und Schuldenmachen sein Leben durchzubringen versucht. Wer aber tüchtig und ohne Scheu zugreift und sich sein Brot durch seiner Hände Arbeit verdient, der gilt als Ehrenmann, und wenn es ein gewöhnlicher Holzhacker auf der Straße, ein Lastträger oder sonst etwas wäre. Weißt du, Papa, dass ich selbst Reisenden ihr Gepäck von der Dampfbootlandung bis in ihre Wohnung für einen Vierteldollar hinaufgetragen habe?“

„O mon Dieu!“ rief seine Mutter und faltete entsetzt die Hände, denn dafür fand sie nicht einmal einen deutschen Ausdruck, der sich anständigerweise hätte gebrauchen lassen. „Hans, Hans, hast du denn nicht an deinen Namen, deine Eltern gedacht? Wenn dich nun jemand erkannt hätte, wenn es hier bekannt würde! Sprich nur um Gotteswillen mit keinem Menschen darüber. Oh, warum hast du nicht an uns um Geld geschrieben!“

„Weil ich es für ehrenvoller hielt, Mama, mir selbst ehrlich durch die Welt zu helfen, als von anderen Hilfe zu fordern“, sagte der junge Mann, und seine hübschen Züge färbten sich mit einem dunklen Rot.

„Und das nennst du ehrlich?“ rief seine Mutter, noch immer durch das Furchtbare des Gedankens überwältigt.

Hans lachte.

„Sorge dich nicht, Mütterchen, du, in den hiesigen Verhältnissen aufgezogen, hast andere Ansichten darüber, aber ich gebe dir mein Wort, du kannst Hunderte von jungen Leuten da drüben finden, die hier aus den ersten Adelsgeschlechtern stammen und trotzdem dort die gewöhnlichsten Handwerker-, ja Handlangerdienste verrichten, ohne dadurch im geringsten schlechter zu werden oder ihren alten Adel zu schädigen. Im Gegenteil sammeln sie da drüben in einem Jahr mehr Lebenserfahrung, als hier in der zehnfachen Zeit, und kehren sie dann zurück in die Heimat, so bringen sie allerdings andere Ansichten vom Leben und den gesellschaftlichen Verhältnissen mit, als sie hinüber genommen; aber du kannst dich darauf verlassen, Mütterchen, dass es ihnen und anderen Menschen nur nutzen wird.“

Die Dame schüttelte immer noch vor sich hin den Kopf, denn dies waren von den ihren so himmelweit entfernte Ansichten, dass sie sich dahinein natürlich nicht so rasch finden konnte. Der Vater aber, obgleich er wohl ebenso wenig wie seine Gemahlin mit den hier ausgesprochenen Grundsätzen übereinstimmen mochte, folgte einem anderen, bis jetzt noch unbegreiflichen Gedanken, wovon nämlich sein Sohn die ganze Zeit gelebt und sich auch Geld erworben habe, denn von Handarbeit hatte er sich nicht so gekleidet, wie er da vor ihm stand. Fehlten ihm doch nicht einmal feine Glacéhandschuhe, die jetzt neben ihm auf dem Tisch lagen, und einzelner Schmuck, den er an ihm bemerkte und der seinem forschenden Blick ebenfalls nicht entgangen war, rührte ebenso wenig von Spitzhacke und Schaufel her.

„Hm, Hans", sagte er endlich, indem er sich vorsichtig zuerst ein wenig räusperte, „das ist alles recht schön und gut, und davon sprechen wir vielleicht später, aber jetzt möchte ich doch – möchte ich doch wirklich erfahren, in welcher Weise du deinen – Lebensberuf, könnten wir sagen, da drüben erfüllt hast. Du siehst mir für einen Holzhacker oder Lastträger doch ein wenig zu anständig aus, musst also jedenfalls auch noch etwas anderes getrieben haben."

„Ich? Gewiss, Papa", sagte Hans, der sein Frühstück beendet hatte, die Tasse zurückschob und wie unwillkürlich mit der Hand in die Tasche griff, als ob er etwas herausholen wollte, aber doch dabei wieder innehielt. Er sah zugleich halb lächelnd, halb verlegen die Mutter an. Er hatte jedenfalls etwas auf dem Herzen, getraute sich aber, wie es schien, noch nicht mit der Sprache heraus.

„Was hast du, Hans?" frug die Mutter, die keinen Blick von dem Sohne wandte und der auch deshalb die Bewegung nicht entging.

„Oh, oh, nichts, Mama", lachte der junge Mann. „Es war nur – ich weiß nicht – ich - habe..."

„Nun, was hast du? Weshalb sprichst du nicht frei von der Leber weg?"

„Kannst du das Rauchen vertragen, Mama?"

„Das Rauchen?" rief Frau von Solberg wirklich erschrocken aus. „Aber, Hans, du rauchst doch nicht?"

„Nur einmal am Tage, Mama", lachte der Sohn, „und zwar von morgens bis abends."

„Aber Hans, das ist ja entsetzlich!" rief Fränzchen, während die Mutter sprachlos vor Entsetzen daneben saß. „Wie kannst du nur...?"

„Ja, sieh, Schatz", sagte der junge Mann. „Wenn man sich so Jahr nach Jahr da draußen allein in der Welt herumtreibt, fremd überall, wohin man kommt, und immer nur allein auf sich selber angewiesen, da fühlt man das Bedürfnis, irgendwelche Zerstreuung wenigstens zu haben, und fällt dann, als die unschuldigste, auf das Rauchen."

„Unschuldigste?" sagte die Mutter, indem sie mit dem Kopf schüttelte. „Die Raucher verpesten in ihrer Unschuld gewöhnlich ihre ganze Nachbarschaft."

„Aber doch nicht mit guten Zigarren, Mama, und dass ich keine schlechten rauche, kannst du dir ja denken. Mir selber ist wirklich das Rauchen zum Bedürfnis geworden, aber wenn es dich so geniert, werde ich es gewiss in deiner Nähe vermeiden. Irgendein Plätzchen findet sich ja doch überall, wo man diesem, wenn du willst, Laster frönen kann." Er zog die Hand wieder aus der Tasche zurück und faltete beide, wie in stiller Resignation, in seinem Schoß.

 

„Aber dann fühlst du dich nicht behaglich, und dein Zimmer ist natürlich noch nicht eingerichtet..."

„Oh doch, Mutter, sorge dich deshalb nicht", beruhigte sie Hans.

Die Mutter rang mit einem großen Entschluss. „Nein", sagte sie plötzlich. „Du sollst den ersten Tag in deiner Heimat nicht gleich etwas entbehren, woran du dich gewöhnt hast. Ich dulde sonst allerdings kein Rauchen in meinen Räumen, heute aber soll dir eine Ausnahme gestattet sein – aber auch nur heute. Morgen musst du dich wieder den Hausgesetzen fügen."

„Meine gute Mama", sagte Hans wirklich gerührt. „Das ist denn doch zu liebenswürdig von dir, und ich weiß nicht einmal, ob ich es nur annehmen darf." Er schwankte in der Tat einen Moment zwischen seiner Delikatesse und Sehnsucht nach einer schon schwer entbehrten Zigarre. Ihm selbst unbewusst war er aber dabei mit der Hand schon wieder in die Tasche gefahren, die seine Zigarren barg, als ihm auch die Schwester noch zu Hilfe kam.

„Ja, Mama, das ist recht, heute morgen darf er rauchen. Es sieht auch interessanter aus, wenn er von seinen Fahrten erzählt und dann gleich wie ein halber Bootsmann dabei sitzt, er hält es doch sonst nicht aus."

„Oh Fränzchen, da bist du im Irrtum", sagte Hans, aber schon mit der Zigarrentasche in der Hand. „Was ich entbehren muss, kann ich auch entbehren, und habe das schon oft genug bewiesen, wenn man’s aber haben kann..." Der Diener war eben wieder hereingekommen, um das Frühstücksservice hinauszutragen, als sich Hans an ihn wandte:

„Ach, lieber Freund, dürfte ich Sie wohl um etwas Feuer bitten!"

Der Diener sah ihn erstaunt an. Einmal war er diese freundliche Anrede und sogar Bitte nicht gewohnt, denn hier im Hause wurde nur befohlen, und dann hielt der Fremde eine wirkliche Zigarre in der Hand, die er doch jedenfalls mit dem Feuer anzünden wollte, und das hatte er in der freiherrlichen Familie noch nicht erlebt. Im Hause wusste auch noch niemand, wer er war, denn der alte Klaus, der ihnen hätte Auskunft geben können, verkehrte mit keinem von ihnen und hielt sich vornehm zurückgezogen von der ganzen Dienerschaft. Aber dem Wunsch des Gastes, da kein Gegenbefehl von der Herrschaft kam, musste natürlich Folge geleistet werden, und der Mann sprang auf das freundliche Wort und dem ersten Eindruck folgend (seine aristokratische Natur würde sich sonst dagegen empört haben) viel rascher als gewöhnlich, um das Verlangte herbeizuschaffen. Das war nicht leicht, denn Streichhölzchen gab es fast gar nicht im Bereich der Familie.

Als Hans den Diener um Feuer bat, flog Fränzchens Blick unwillkürlich zur Mutter hinüber, und sie bemerkte rasch, wie sich deren Augen erstaunt auf den Sohn hefteten. Auch der Freiherr wurde dadurch gewissermaßen aus seiner Lethargie aufgerüttelt, denn er hatte die letzte Viertelstunde wie in einem Halbtraum gesessen.

Wie gleichförmig war bis dahin sein Leben verflossen, wie alltäglich, die Zeit natürlich ausgenommen, welche die Herrschaften hier in Rhodenburg oder dem Jagd-Schloss zubrachten! Dann allerdings hatte seine Existenz einen Zweck, er war alle Tage zur Tafel befohlen, ja, eigentlich deren Seele, denn ohne ihn hätte die ganze Tafel nicht bestehen können; und wie gnädig verkehrten die Königlichen Hoheiten mit ihm, wie huldvoll wurde er manchmal angelächelt und trug dann den ganzen Tag Glück und Seligkeit im Herzen herum! So lange die Herrschaften mit ihm zufrieden waren, existierte weiter keine Welt für ihn, und es gab Momente, wo er mit seinen Füßen kaum den Boden zu berühren, sondern fast nur über der Erde zu schweben schien.

Wenn der Hof dagegen die Stadt verließ, war es, als ob Rhodenburg – für ihn wenigstens – ausgestorben gewesen wäre. Das Schloss stand leer, es gab kein Theater, keine Soirée, kurz, er wurde nicht mehr gebraucht und fühlte sich deshalb, da niemand sonst in Rhodenburg besondere Notiz von ihm nahm, verlassen und elend.

Jetzt dagegen war ihm plötzlich in dieses, sonst bodenlose Nichts ein Ereignis gefallen, das mit dem Hofe nicht in der geringsten Beziehung stand, und er brauchte erst einige Zeit, bis er sich das in seinem Inneren ordnete und sichtete. Auch die Einzelheiten der Überraschung frappierten ihn, das Übersteigen des Geländers, das unangemeldete Eintreten, die Unbefangenheit des Sohnes, und jetzt sogar der Zigarrendampf, den dieser in der größten Gemütsruhe hier in seinem Zimmer ausblies, ja, der Sohn selbst, der ihm so lange gefehlt, dass er ihn fast vergessen hatte, denn er war bei Hofe nie erwähnt worden. Er bedurfte wirklich einiger Zeit, bis er alle diese einzelnen Umstände in seinem Geiste zusammenfassen und ordnen konnte, und erst als das geschehen war, kam er wieder auf die Oberfläche der Erde zurück.

Die Mutter hatte, als die erste Dampfwolke zu ihr hinüberstrich, abwehrend etwas mit ihrem Tuche geweht, jetzt aber, da kein Hindernis mehr oblag, nahm sie die vorherige Frage ihres Gatten wieder auf und sagte:

„Ja, Hans, jetzt möchte auch ich dich bitten, uns zu sagen, welches Leben du da drüben geführt hast, es ist natürlich, dass die Mutter das zu erfahren wünscht. Apropos, wo sind denn eigentlich deine Sachen?“

„Mein Gepäck? Im Hotel, Mama, wo ich die Nacht geschlafen habe, wir können es nachher holen lassen.“

„In welchem Hotel bist du abgestiegen?“

„Im Goldenen Löwen, es war das nächste am Bahnhof.“

„Im Goldenen Löwen?“ rief der Vater in wirklichem Erstaunen aus. „Das ist ja eine ganz ordinäre Fuhrmannskneipe!“

„Sehr vorzüglich ist es nicht“, lachte Hans. „Aber was tat die eine Nacht, und früher, so weit ich mich erinnere, war es das Beste.“

„Du hast doch hoffentlich deinen Namen nicht in das Fremdenbuch geschrieben?“ sagte die Mutter erschrocken.

„Und weshalb nicht, Mama? Ich wollte doch nicht hier inkognito auftreten!“

„Es ist schrecklich! Morgen stehst du zwischen lauter Viehhändlern und Krämern im Tageblatt, Hans, ich begreife dich gar nicht!“ rief die Mutter.

„Ja, das ist nun nicht mehr zu ändern“, lachte Fränzchen. „Die Rhodenburger werden sich nicht schlecht den Kopf darüber zerbrechen. Aber nun lass ihn auch erzählen, Mama, denn wir erfahren ja sonst kein Wort von der Geschichte.“

„Ja, mein Herz“, sagte Hans und legte seinen Arm um die Schulter der neben ihm sitzenden Schwester. „Aber der fatale Tabaksrauch!“

„Um Gottes Willen, ich ersticke!“ rief Fränzchen, bog den Kopf so viel sie konnte zur Seite und fing an zu husten. Der ungewohnte Rauch war ihr wirklich in die Kehle gekommen.

„Ja, mein Herz", fuhr Hans fort, ohne von dem Husten weitere Notiz zu nehmen, nur dass er sie losließ. „Da ist eben nicht viel zu erzählen, so interessant auch vielleicht für euch die Einzelheiten meines allerdings sehr bewegten Lebens sein möchten. Mit kurzen Worten will ich euch aber wenigstens einen Überblick geben. Ich ging, wie ihr wisst, von hier nach Nordamerika, die Taschen so voll von Empfehlungen, das Herz voll froher Hoffnungen, ich sollte mich in beiden getäuscht sehen. Die Empfehlungen halfen mir gar nichts, als dass ich bei einem oder dem anderen der betreffenden Herren vielleicht einmal zu Tische geladen wurde. Damals zürnte ich allerdings der ganzen Welt, später aber sah ich doch selber ein, dass jene Leute ihren vollkommen guten Grund dafür gehabt, denn was in der Gottes Welt hätten sie mit mir anfangen sollen?"

„Aber ein gebildeter, junger Mann findet doch überall sein Fortkommen", sagte etwas ungläubig die Mutter, denn ihr Sohn hatte damals Briefe von den ersten Familien des Landes mitgenommen. „Solche Rekommandationen bekommt nicht jeder."

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