Mississippi-Bilder

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Gesammelte Schriften

Friedrich Gerstäcker

Mississippi-Bilder

Licht- und Schattenseiten transatlantischen Lebens

Volks- und Familien-Ausgabe Band Zehn

der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der ersten Buchausgabe, Arnoldische Buchhandlung, Dresden u. Leipzig, 1847 u. 1848 in 3 Bänden. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Ostwald und Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck, sowie mit Hinweisen auf die Erstveröffentlichungen der Erzählungen.

Ein Teil der Illustrationen wurde dem Band Western Lands and Western Waters, 1864, London, entnommen.

Wir bedanken uns für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung der vorliegenden Buchausgabe beim Verkehrsverein Braunschweig – Netzwerk der Tradition.

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17

38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. © 2013 / 2020

Die Sklavin

Amerikanische Nachtstücke. Die Sclavin in:

Das Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge.- F. A. Brockhaus, Leipzig, 1845.

Das Mail- oder Postboot war eben von New Orleans angelangt, und über die von demselben ans Ufer geschobene Planke strömten in ununterbrochenem Zuge fast alle Geschäftsleute und Müßiggänger der kleinen Stadt Bayou Sara1 an Bord, um teils für sie angekommene Briefe und Pakete in Empfang zu nehmen, teils ihre Neugierde zu befriedigen, und an dem zierlich ausgeschmückten Schenkstande ein Glas Brandy und Eiswasser zu schlürfen.

Der Kapitän des Postbootes, ein kleiner Franzose mit grauem Rock, schwarzem Filzhut und außerordentlich blank gewichsten Stiefeln, schien überall zu sein, und während ihm große Schweißtropfen an der geröteten Stirn glänzten, schimpfte er in fürchterlich gebrochenem Englisch auf Gott und die Welt, vorzüglich aber auf den Postmeister, der ihm aus seinem Comptoir, eben als er kaum den Rücken gewandt, ein Paket Briefe in zu großem Amtseifer entführt und mit hinauf auf die Post genommen hatte.

„God dam him!“ wetterte der kleine Mann, mit der Faust auf das grünbeschlagene Pult niederschlagend, dass die Tinte hoch empor spritzte. „Was hat der Pflasterschmierer (der Postmeister hatte zu gleicher Zeit eine Apotheke und einen Kramladen, und ließ sich gern ,Doktor‘ nennen) in meinem Comptoir zu suchen? Schleppt Briefe hinauf, eh? Denkt nachher Wunder, was er getan hat; aber wart‘ – Du kommst mir wieder.“

„Kapitän! Briefe für mich angekommen?“ fragte ein junger, schlanker Mann, dem Erzürnten lachend dabei auf die Schulter klopfend.

„Geht in die Hölle oder zum Quacksalber hinauf!“ fluchte dieser weiter, ohne sich nur die Mühe zu nehmen, herumzuschauen, wer ihn angeredet habe.

„Hallo! Was ist wieder im Wind?“ lachte der junge Pflanzer. „Die Kessel voll zum Zerplatzen? Dampf genug, um drei gewöhnliche Boote in die Luft zu blasen! Immer noch der Alte! Ihr Franzosen seid doch sonderbares Volk; gleich Feuer und Flamme, wie Duponts Schießpulver!“2

„Der Postmeister hat die Briefe mit hinaufgenommen,“ antwortete der Buchhalter statt des Kapitäns.

„Dam him!“ rief dieser, und warf die Glastür hinter sich ins Schloss, dass die Scheiben klirrten. „Never mind“, sagte der Pflanzer, „er will gern seine Viertel-Dollars dafür ziehen – alles zu Onkel Sams3 Bestem, ‘s ist ein gar uneigennütziger Mann, ich kenne ihn wohl; wer einen Brief abholt, muss auch eine Kleinigkeit im Laden kaufen, oder eine Schachtel Medizin mitnehmen. Doch ich will hingehen und sehen, ob etwas für mich angekommen ist.“

Damit trat er hinaus auf den Gang, stieg die Kajütentreppe hinunter, und war eben über die Planke ans Ufer gesprungen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte, und ihn eine freundliche, wohlbekannte Stimme anredete:

„Hoho, Ned, wohin so eilig? Rennst Du doch, als ob Du von einer Wahl kämst und die wichtigsten Neuigkeiten mitbrächtest!“

„Guston! Bei allen Teufeln und Engeln der vier Elemente“, rief der also Angeredete in freudigem Erstaunen aus. „Guston! Aber wie um des Himmels Willen kommst Du denn jetzt hierher, wo ich Dich ehrbar und fest in Connecticut angesiedelt glaubte; hast Du die östlichen Staaten schon satt?“

„Vollkommen, mein alter Junge, vollkommen“, entgegnete Guston. „Der Böse hole die freien Staaten; ein Pflanzer kann nun einmal da nicht existieren, wo kein Sklavenhandel ist. Ich hatte erst allerlei phantastische Ideen von der Freiheit und Gleichheit der Menschen“, fuhr er fort, als er seinen Arm in den des jungen Mannes hing und mit ihm an das Ufer hinauf schlenderte. „Ich glaubte es eine Sünde, meinen ,schwarzen Bruder‘, wie die Methodisten sagen, zu schinden und zu plagen, bat daher meinen Alten um Reisegeld und ging nach New York. Von dort aus schrieb ich Dir, dass ich gesonnen sei, mir ein Landgut zu kaufen und mich im Norden des Staates oder in Connecticut, zwischen den dort eingewanderten gemütlichen Pennsylvaniern niederzulassen. Es war damals meine Absicht, und hätte ich es getan, so ständen wir jetzt nicht hier auf louisianischem Grund und Boden zusammen; gerade damals lernte ich aber einen jungen Mann kennen, dem ich mich anschloss und dessen intimer Freund ich wurde, so dass ich, da er in Geschäften nach Europa musste, mit ihm ging und mit dem Great Western hinüber nach dem ,alten Lande‘ segelte.“

„So bist Du indessen in Europa gewesen?“ unterbrach ihn erstaunt der junge Pflanzer.

„Gewiss“, nickte Guston, „in England, Irland und Deutschland; durch die ersten beiden Länder begleitete ich meinen neugefundenen Freund, bis dieser sich plötzlich in ein irländisches Mädchen, und zwar so rasend verliebte, dass er in vier Wochen Hochzeit hielt, gegenwärtig mit allen möglichen alten Squires und jungen Gentlemen nach Füchsen und Kirchtürmen rennt, über alle nur aufzufindenden Hecken, Gräben und Mauern wegsetzt, und sich jetzt, wenn er nicht unter der Zeit den Hals gebrochen hat, ganz wohl befindet. Ich selbst hatte es da bald satt, ging zurück nach England und ließ mich von da nach Deutschland übersetzen. Dort hatte ich Gelegenheit, das Leben der unteren Volksklassen, das Leben der A r m e n kennen zu lernen, und, Ned, von dem Augenblick an bedauerte ich unsere Sklaven nicht mehr. Es muss hart sein, die Freiheit zu verlieren und der Willkür eines oft vielleicht zu strengen Herrn preisgegeben zu werden; aber das Elend, das ich dort gesehen, die N a h –

r u n g s s o r g e n der Unglücklichen, vor deren Augen die eigenen Kinder darben und verderben; der Frost noch dazu im Winter, wo der Vater, der einzige Brotverdiener, e i n g e k e r k e r t wird, wenn er den Jammer zu Hause nicht mehr mit anschauen mochte, und in den Wald ging, um ein paar Zweige abzubrechen und die Seinigen wenigstens zu erwärmen, wenn er sie nicht sättigen konnte – der eingebildete, förmlich wahnsinnige Stolz des Adels dabei, gegenüber den unglücklichen Armen – und außerdem noch eine ,gesetzliche‘ Willkür, die dem Unglücklichen mit dem vollen Pomp und Schein offenbarer Gerechtigkeit mit gierigen Händen das L e t z t e nimmt und dem Vernichteten in der Pracht und dem Luxus der Großen wie zum Hohn alles das zeigt, was er eben entbehren muss, nicht einmal imstande, seine Kinder so zu füttern, wie die H u n d e der Großen gefüttert werden – und das, Ned, füllte mich mit Ekel und Überdruss, und ich kann Dir gestehen, ich war froh, als ich das ,alte Land‘ wieder hinter mir hatte. Es mag denen dort zusagen, die es ihre H e i m a t nennen, der Eskimo liebt ja seine Eisberge und Trannahrung, aber dem, für den es diesen Zauber entbehrt, ist es ein trauriger Aufenthalt – ich möchte dort nicht leben. Nach kurzem Aufenthalt in Deutschland kehrte ich über Hamburg nach New Orleans zurück, und bin heut, wie Du mich siehst, mit dem Postboot heraufgekommen, um von hier zu Land meines Vaters Plantagen zu erreichen.“

„Das zu lernen, brauchtest Du wahrhaftig nicht nach Europa zu gehen“, lachte Ned, „das weiß jedes Kind, dass es unsere Neger besser haben als die armen Leute in Irland oder Deutschland, hol‘ sie der Henker, und doch murren die Kanaillen; aber heut Abend bleibst Du bei mir, und morgen früh nimmst Du mein Pferd, dein Alter hat Dich nun so lange nicht gesehen, dass es auf den einen Tag auch nicht ankommen wird.“

„Topp!“, rief Guston. „Doch lass uns den Schatten suchen, die Hitze hier am Ufer ist unausstehlich. Du wirst mich übrigens führen müssen, denn ich kenne Bayou Sara ja gar nicht wieder; kaum zehn Häuser waren’s, wie ich fort von hier ging, und jetzt steht eine ordentliche Stadt da.“

„Nun, die Mulattin Nelly lebt immer noch“, lachte Willis, „und führt so guten Brandy wie früher, da wollen wir denn vor allen Dingen einmal einsprechen, vielleicht findest Du dort einige alte Bekannte.“

Mit diesen Worten nahm er seines neu gefundenen Freundes Arm wieder in den seinigen und schlenderte mit ihm dem nahen Kaffeehause zu, aus dem ihnen lautes Lachen und Jubeln entgegen tönte.

Es war ein nicht sehr großes, nach der Straße zu offenes Zimmer, in das sie traten, und dessen Hintergrund ein langer Schenktisch ausfüllte. Der eigentliche Schenktisch (Bar) bestand aus einem aus gemasertem Holz verfertigten, etwas hohen Aufsatze, über den weiße Marmorplatten gelegt waren, um die darauf verschütteten Flüssigkeiten wieder leicht hinwegwischen zu können. Auf einem großen, mit weißem Tuch überdeckten Präsentierteller standen mehrere Dutzend reiner Trinkgläser, während auf einem anderen dicht daneben eine gläserne große Schale mit einem plattierten Deckel, geriebenen Zucker enthaltend, prangte. Neben ihr befanden sich wiederum zwei kleine Fläschchen, die, fest zugekorkt und mit einer durch den Stöpsel laufenden Federspule versehen, dazu dienten, die in ihnen enthaltenen Flüssigkeiten (Staunton-Bitters und Pfefferminze4) in die Getränke zu tröpfeln, um diesen einen pikanten Geschmack mitzuteilen. Hinter dem Schenktische nun waren in langer Reihe alle möglichen Arten von Getränken, Weine und Liköre, in zierlichen, farbigen und feingeschliffenen Flaschen und Karaffen angeordnet, und zwischen ihnen Orangen und Zitronen aufgeschichtet, was dem Ganzen einen frischen, heiteren Anschein gab. Unter dem Schenktische stand eine große Schüssel mit Eis, das in Stücken in die Gläser geworfen wurde, den Trank abzukühlen, und ein junger Mann in einer weißleinenen Jacke und eben solchen weiten Beinkleidern war emsig beschäftigt, den durstigen Gästen, die sich bei der übergroßen Hitze in beträchtlicher Anzahl eingefunden hatten, einzuschenken. Ein langer Doktor von der anderen Seite des Mississippis, von Pointe Coupé, schien übrigens besonders tätig, sein Glas immer wieder aufs Neue zu leeren, bei welchem Geschäft ihm denn alle anderen helfen mussten, weil er schwur, dass er nicht a l l e i n trinken wollte; und immer wieder ließ er das seinige wie die aller Anwesenden frisch füllen, obgleich er sich kaum noch selbst auf den Füßen halten konnte. Oft zwar versuchte ihm einer oder der andere zu entschlüpfen, aber mit Adlerblicken entdeckte und erwischte er die Deserteure, und ein frisches Glas war die Strafe, die ihrer wartete. Mehrere, unfähig noch einen Tropfen zu genießen, saßen in der Ecke, als unsere beiden Freunde zu Verstärkung anrückten und augenblicklich von dem Doktor mit offenen Armen empfangen wurden.

 

„Willis – eh?“, redete er diesen an. „Durstig? Immer durstig?“

„Hier, Doktor, ist ein Freund von mir, ein gewisser…“

„Ein Freund von Euch? Er muss mit mir trinken. Sir, geben Sie mir Ihre Hand – so – ich bin der Doktor Siel von Pointe Coupé, Sie müssen von mir gehört haben. Was wollt Ihr trinken? Hier, Barkeeper, schnell, hier ist ein Mann, der durstig ist – so recht, Gläser und Eis hinein, mir aber kein Eis, ich will’s heiß haben, heiß wie Lava, will Hitze mit Hitze kurieren. Zum Henker, wem gehört denn das lange Gesicht, was da zum Fenster hereinstiert? Kommen Sie herein, Sir, was wollen Sie trinken?“

„Danke, danke“, sagte der Neuangekommene, indem er rasch in die Tür trat und sich ohne weitere Umstände sein Glas füllen ließ.

Es war ein Mann von außergewöhnlicher Länge, der noch um mehrere Zoll über den schon ungeheuer langen Doktor hinausragte, mit vorstehenden Backenknochen und grauen, scharf und klug umherblickenden Augen, dessen ganze Gesichtszüge aber den Yankee nicht verkennen ließen. Ein blauer, langschößiger Frack war trotz des heißen, schwülen Wetters fest zugeknöpft, und ein hoher, weißer Filzhut, den er, etwas nach hinten gerückt, auf dem Kopfe trug, machte die lange Gestalt nur noch länger. Seine Stiefel waren nach der modernsten Facon gearbeitet und ganz neu, mochten ihn aber wohl gedrückt haben, denn auf beiden hatte er, gerade über den Zehen, mit einem Messer einen Kreuzschnitt gemacht, um seinen Füßen Raum zu gewähren; überhaupt schien er das Bequeme zu lieben, denn er setzte sich augenblicklich mit größtmöglicher Gemütsruhe auf den Ladentisch, wobei ihm seine Ausdehnung sehr zustatten kam, und leerte das ihm mit Wachholder und Wasser dargereichte Glas.

„Gentlemen“, begann jetzt der Yankee, nachdem er einige Kreuz- und Querfragen des Doktors mit ebenso vielen anderen Fragen beantwortet hatte, „ich denke, wir können ein Geschäft zusammen machen.“

„Ihr habt doch um Gottes Willen keine Wanduhren zu verkaufen?“, fragte mit komischen Schrecken der Doktor.

„Nein“, entgegnete lachend der Yankee, „damit befasse ich mich nicht.“

„Ihr Herren scheint Euch sonst nicht gerade an etwas Bestimmtes zu binden“, wandte Guston ein, indem er dem Langen näher trat.

„Für diesmal doch“, antwortete der Yankee, „ich habe mich auf den Menschenfleischhandel gelegt, und mit dem lässt sich nicht gut ein anderer vereinigen, Vieh- und Pferdehandel ausgenommen; doch habe ich meine letzten Mustangs5 in Baton Rouge6 verkauft und nur noch ein Negermädchen von ungefähr fünfzehn Jahren übrig behalten, die ich heute Nachmittag um vier Uhr in Müllers Kaffeehaus ausspielen will, um am Mittwoch wieder mit dem Mailboot nach New Orleans und von da nach meiner Heimat zurückkehren zu können.“

„Und was kostet das Los?“, fragte Willis.

„Fünf Dollar – wir wollen sie auswürfeln!“, lautete die Antwort. „Es ist ein kapitales Mädchen, gesund und kräftig, und die schönste Negerin, die Ihr je gesehen habt.“

„Aber wo steckt denn die Dirne?“, unterbrach ihn der Doktor. „Schafft sie doch einmal her, und sieht sie gut aus, nun so nehme ich drei oder vier Lose.“

„Sie ist nur wenige Schritte von hier entfernt“, sagte der Yankee, von seinem Sitz aufstehend. „Warten Sie einen Augenblick, und ich bringe sie herüber; es wollten sie überdies noch einige Herren hier ansehen.“ Mit diesen Worten verließ er das Schenkzimmer und kehrte bald mit einem schönen, jungen Negermädchen zurück.

Das kurze, wollige Haar hatte eine Rabenschwärze, die Nase war, ihrer äthiopischen Abkunft treu, breit gedrückt, aber klein und zierlich, und nur leicht aufgeworfen zeigten sich die kirschroten Lippen, zwischen denen, wenn sie sprach, ein Paar blendend weiße Reihen Zähne sichtbar wurden und umso mehr gegen die samtartige, schwarze Haut und die dunklen, glühenden Augen abstachen. Sie war nicht groß, aber schlank gewachsen und ungemein zierlich gebaut, so dass selbst der seiner Sinne kaum noch halb mächtige Doktor einen Fluch ausstieß und schwur, sie wäre eine verteufelt hübsche kleine Hexe.

Mehrere Pflanzer aus der Umgebung waren jetzt noch hinzugetreten, von denen fast alle Lose genommen hatten, und der Yankee führte das Mädchen wieder fort, um in St. Francisville oben noch mehr Teilnehmer für das Würfelspiel um ein menschliches Wesen zu finden.

Unmittelbar hinter dem Mädchen war, als ihr Herr sie zur Schau in die Schenkstube führte, ein junger blasser, aber sehr anständig gekleideter Mann eingetreten, der mit gespannter Aufmerksamkeit den ganzen Verhandlungen horchte und zuletzt, als jeder ein Los nahm, seine Barschaft ebenfalls hervorholte. Unstreitig hatte er beabsichtigt, zwei Lose zu kaufen, denn er überzählte sein Geld mehrere Mal; es musste aber wohl nicht zureichen, denn seufzend schob er einige Dollarnoten wieder in sein schmächtiges, stark abgenutztes Taschenbuch zurück und löste für fünf einzelne derselben ein einziges Los.

Bald darauf, als sich der Doktor wieder nach ihm umsah und bei allem, was im Himmel und auf Erden lebte, schwur, dass er mit ihm trinken oder sich mit ihm schlagen müsse, war er verschwunden.

Unterdessen rückte die vierte Nachmittagsstunde heran und eine große Anzahl von Menschen hatte sich vor dem eben erwähnten Kaffeehause versammelt, wo sie ungeduldig den Yankee erwarteten. Endlich kam er – an seiner Seite ging das Negermädchen und nicht weit von ihr entfernt, doch etwas zurück, der bleiche junge Mann.

Lärmender Jubel empfing die Neuankommenden, und der Doktor war der Ausgelassenste und Lustigste von allen. Das Billard im großen Schenkzimmer wurde jetzt schnell zum Würfeltisch hergerichtet, die Liste der Würfelnden noch einmal verlesen, und der Wirt postierte sich dann mit einem Stück Kreide an der Billardtafel, um den Namen dessen, der den höchsten Wurf tun würde, aufzuschreiben und die Zahl der geworfenen Augen dabei zu bemerken. Das Mädchen stand in einer Ecke auf einem zu diesem Zweck erhöhten Platz; um von allen gesehen zu werden, und zwei große, helle Tränen hingen an ihren dunklen, niedergeschlagenen Wimpern.

E i n Herz nur, in all‘ dem Drängen und Treiben, fühlte ihren Schmerz und teilte ihn – es war der bleiche, junge Mann, der, nur wenige Schritte von ihr entfernt, an ein Fenster gelehnt, mit zusammengepressten Lippen und für den Augenblick von Fieberhitze geröteten Wangen, die Arme fest ineinander verschränkt, da stand, vor sich niederstarrte und nur dann und wann schnell und mit einem die höchste Angst verratenden Blick das große, dunkle Auge zu ihr erhob. Als aber das Zeichen zum Anfang gegeben wurde und aller Aufmerksamkeit sich dem Billard zuwandte, als selbst das Opfer einen Moment schüchtern und bebend aufschaute, begegneten sich ihre Blicke; im Nu war er an ihrer Seite und flüsterte ihr, dicht bei ihr vorbeistreichend, zu: „Mut, Selinde, Mut, Du sollst mein werden, und wenn ich Dich aus ihrer Mitte stehlen müsste!“

Ein mattes Lächeln überflog für einen Augenblick das tränenfeuchte Antlitz des armen Kindes, bald aber schwand es wieder, und traurig senkte sie das Köpfchen und weinte still.

Das Spiel hatte unterdessen seinen Anfang genommen; dicht um das Billard gedrängt standen die Teilnehmer, mit gespannter Aufmerksamkeit die rollenden Würfel betrachtend, um schnell die fallenden Augen zu zählen.

„Fünfundvierzig!“, rief Willis, als sein dritter Wurf gefallen war. „Überbietet das, Doktor, wenn Ihr könnt!“

„Nun, ich habe fünf Lose und kann es schon eine Weile mit ansehen“, entgegnete dieser, „aber einmal will ich es doch jetzt auch versuchen.“

Er nahm die drei Würfel in den Becher, schüttelte sie und warf drei Einer.

„Das ist ein guter Anfang!“, rief er ärgerlich, als lautes Gelächter ihn von allen Seiten begrüßte. „Aber lasst nur, für dies erste Los werfe ich nicht mehr; könnte ja so nur, im günstigsten Fall, neununddreißig bekommen – ich will unterdessen eins trinken.“

Er trat vom Billard zurück, andere drängten sich hinzu, und eine Zeit lang herrschte ein gespanntes, ängstliches Stillschweigen, das nur von dem Klappern des Elfenbeins unterbrochen wurde. Der bleiche junge Mann, den niemand im Zimmer zu kennen schien, trat jetzt hinzu und rief mit leiser, aber fester Stimme: „Mir die Würfel!“

Nur schwach war der Laut, mit dem diese Worte gesprochen wurden; wie ein elektrischer Schlag aber durchzuckten sie den Körper des jungen Mädchens, das krampfhaft emporfuhr und mit geöffneten Lippen und angehaltenem Atem aufmerksam dem geringsten Laut horchte.

Einen Blick nur warf der Spieler auf die vorgebeugt lauschende Gestalt, einen anderen an die Decke, wie um da Hilfe zu erflehen, und dann rasselten mit fester Hand die entscheidenden Würfel auf das grüne Tuch – zwei Sechsen und eine Vier. „Sechzehn!“, zählte monoton der Anschreiber. „Noch einmal!“ – Wieder lagen dieselben Augen – zum dritten Mal warf er die Würfel in den Becher, schüttelte und – drei Zweien rollten hervor. „Achtunddreißig! – Schlecht!“, schrie der Ausrufer, und leichenblass trat der Unglückliche vom Billard zurück. Ein anderer nahm seinen Platz ein, und in sich zusammen-schaudernd hielt die Negerin kaum ihre zitternde Gestalt aufrecht; doch ermannte sie sich nach wenigen Augenblicken wieder, und bat mit leiser Stimme einen nicht sehr entfernt von ihr stehenden weißen Mann um ein Glas Wasser.

„Verdamm‘ Dich – hol‘ es selber, glaubst Du, dass ich Dein Nigger7 bin!“, rief dieser, sich unwirsch von ihr abwendend. Ohne ein Wort zu erwidern, schwankte sie zum Schenktisch, nahm ein dort stehendes Glas, füllte es mit dem kühlenden Eiswasser und trank es leer; neu gestärkt hierdurch, schritt sie leichten, fast elastischen Schrittes zu ihrem Platz zurück und barg, an die Wand gelehnt, das Gesicht in ihren Händen: sie nahm sichtbar keinen weiteren Teil an ihrem ferneren Geschick, und nur manchmal, wenn der rohe, freudige Ausruf eines glücklichen Würflers an ihr Ohr drang, schien eine plötzliche Angst ihr ganzes Innere zu durchbeben, und ein leichtes Zittern überflog ihre Glieder.

Wohl eine halbe Stunde mochte das Spiel so ununterbrochen fortgedauert haben und näherte sich jetzt seinem Ende, als der bleiche Mann, der sich auf kurze Zeit entfernt hatte und dem so viel an dem Besitz des jungen Mädchens gelegen zu sein schien, plötzlich zu dem Sklavenhändler wieder herantrat und ihn leise, mit verhaltener, aber zitternder Stimme um ein anderes Los bat.

„Gut, mein Herr, ich habe gerade noch zwei, wollte sie selbst werfen, aber um Ihnen einen Gefallen zu tun, ist hier eins davon“, antwortete dieser artig, „jedoch“, fuhr er, sich höflich verneigend, fort, „werden Sie einsehen, dass ich eine Gelegenheit, mein Eigentum selbst wieder zu gewinnen, nicht ganz umsonst aus den Händen geben sollte – ich kann Ihnen jetzt das Los nur für zehn Dollar lassen.“

„Mann“, fuhr der Unglückliche empor, indem er krampfhaft seine Schulter fasste, „ich habe alles veräußert, was ich bei mir hatte, um die lumpige Summe von fünf Dollar zu erschwingen, und jetzt wollt Ihr zehn; ich habe es nicht, mein ganzes Vermögen besteht in sechs Dollar.“

 

„Freilich kaum bedeutend genug, ein Geschäft anzufangen“, bedauerte der Yankee, „doch erinnere ich mich, dass mein Bruder Jesaiah einst…“

„Hier ist noch ein Ring“, unterbrach ihn plötzlich der andere, indem er einen einfachen, goldenen Reif von seinem Finger zog, „nehmt und gebt mir ein anderes Los. – Er ist das Doppelte wert“, fuhr er ungeduldig fort, als er sah, dass ihn der Yankee misstrauisch und aufmerksam in der Hand wog und dann betrachtete; es bedurfte jedoch keiner weiteren Beteuerung. Der Sklavenhändler kannte zu gut den Wert des Goldes, um nicht augenblicklich sich überzeugt zu haben, dass der junge Mann die Wahrheit rede, und reichte ihm eins seiner Lose, während er selbst an das Billard trat und seine drei Würfe tat. Das Glück war ihm nicht hold, und ruhig das Resultat des Spiels abwartend, zog er sich in eine Ecke des Zimmers zurück.

Der Doktor hatte jetzt seinen letzten Wurf getan und rief triumphierend: „Sechsundvierzig! – Das Mädchen ist mein!“

„Sechsundvierzig! Bester Wurf!“, schrie der Anschreiber eintönig nach.

„Halt! Ich habe noch ein Los!“ rief jetzt der fremde junge Mann und drängte sich zur Tafel.

„Warum habt Ihr denn da nicht schon lange geworfen?“ entgegnete ärgerlich der Doktor.

„Hatte ich nicht das Recht so gut wie Ihr, bis zuletzt zu warten?“, fragte ihn dieser empfindlich.

„Meinetwegen“, lachte der Doktor jetzt dagegen, „Ihr werft doch keine Sechsundvierzig, und hättet Eure fünf Dollar sparen können, aber halt!“, rief er aus und erfasste den Arm des jungen Mannes, der eben würfeln wollte. „Die Dirne gefällt mir, sie hat ein verdammt hübsches Gesicht – ich gebe Euch fünfzig Dollar, wenn Ihr zurücktretet.“

„Die Würfel mögen entscheiden!“ rief der junge Fremde, indem er sich von der Hand des Doktors losmachte und ihm für einen Augenblick das Blut so in die Schläfe trat, dass es ihm die Adern zu zersprengen drohte, in derselben Minute kehrte es aber zu seinem Herzen zurück und ließ nicht einen Tropfen in seinen Wangen. Die Würfel rasselten und eintönig zählte der Wirt die Augen.

„Siebzehn!“

„Beim Himmel, ein guter Wurf!“, riefen alle, die jetzt mit gespannter Erwartung die grüne Tafel umstanden.

Wieder rasselten die verhängnisvollen Stücke Elfenbein in dem ledernen Becher. Totenstille herrschte und aller Augen hingen an der Hand des Werfenden, während das arme, geängstigte Mädchen betend in die Knie gesunken war und ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hielt. Ihr verhaltenes Schluchzen war das Einzige, was die grabesähnliche Stille unterbrach. Die Würfel lagen.

„Siebzehn! Noch einmal!“

„Verdammt!“, brummte der Doktor.

„Den dritten Wurf, den dritten Wurf!“ riefen alle ungeduldig, als sie sahen, dass der Fremde ängstlich sinnend einen Augenblick einhielt. Fast krampfhaft fasste er zweimal den Becher, jedes Mal wie zusammenschaudernd vor dem entscheidenden Wurf – aber er konnte nicht länger warten – die halb trunkene Schar wurde ungeduldig, und wieder rasselte der Becher; vorgebeugt umdrängten alle das Billard, die Würfel fielen – es waren nur elf.

„Hurra!“, jubelte der Doktor, sich auf das Billard wälzend in widerlicher Lust. „Ich habe gewonnen! Wer will trinken? Ich traktiere8 alles, was im Hause ist. Müller, he! Holla! Hierher! Füllt die Gläser, gebt jedem so viel, als er trinken will, ich bezahle alles!“ Und sich dann auf dem Billard niederlassend, rief er aus: „Bringt das Mädchen her, ich will sie betrachten!“

Als Selinde den jubelnden Triumphruf des Doktors hörte, wollten sie fast ihre Kräfte verlassen, und sie wäre gesunken, hätte sie nicht der Fremde unterstützt, doch jetzt ermannte sie sich mit wunderbarer Kraft und flüsterte nur, ehe sie dem Befehl ihres neuen Herrn Folge leistete, ihrem Beschützer leise zu: „Fliehe, Alfons, fliehe, ehe man Dich entdeckt!“, und trat dann festen und sicheren Schrittes vor ihren Gebieter, seine Befehle zu vernehmen.

„Sie ist ein hübsches Mädchen“, lallte dieser, von heftigem Schlucken unterbrochen, indem er sich mit dem rechten Ellbogen auf den Billardrand legte und mit gläsernen Augen zu ihr aufsah. „Gut, gut – meine Frau wird scheel sehen, wenn ich ihr den Nigger ins Haus bringe, aber…“

Er konnte nicht vollenden, die geistigen Getränke, die er an diesem Tage genossen hatte, gewannen durch die letzte Aufregung endlich die Oberhand, und bewusstlos sank er aufs Billard zurück, von dem er fortgetragen und in ein Bett gebracht wurde, um seinen Rausch auszuschlafen.

Der Wirt nahm die Negerin in seine Obhut und schloss sie in ein Zimmer ein, um sie ihrem Herrn nach dessen Erwachen zu überliefern.

Indessen hatte einige junge Leute, unter denen sich auch Willis befand, eifrig miteinander geflüstert und forschende Blicke auf den bleichen, jungen Mann geworfen, den die Negerin Alfons genannt und der teilnahmslos in einer Ecke lehnte. Sein krauses, rabenschwarzes Haar hing ihm in langen Locken über die bleiche Stirn herunter, seine Lippen waren bleich und seine Augen gerötet; plötzlich trat einer der jungen Leute auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rief in barschem Ton: „Alfons!“

Wie von einer Schlange gebissen, sprang bei dem Klange dieses Namens der Unglückliche empor und starrte wild umher, auf den Kreis fremder, unbekannter Gesichter, die ihn umgaben, bis seine umherirrenden Blicke auf dem des ihm Gegenüberstehenden haften blieben, der ihn fest und durchdringend betrachtete. Als ihm aber dessen Züge klarer und deutlicher aufdämmerten, schlug er sich mit der geballten Faust vor die Stirn, stieß einen tiefen Seufzer aus und sank wie vernichtet auf seinen Stuhl zurück. Der junge Mann dagegen, der solche Veränderung in seinem ganzen Wesen hervorgebracht hatte, wandte sich triumphierend zu seinen Kameraden und rief:

„Ich kannte den Burschen, und Ihr mögt mich einen Schurken nennen, wenn es nicht ein erbärmlicher Nigger ist.“

„Was, ein Neger?“, riefen alle, sich um den regungslos Dasitzenden drängend. „Ein Neger? Und mischt sich zwischen Weiße?“

„Hinaus mit ihm! Schlagt ihn zu Boden, den Hund! Werft ihn aus dem Fenster!“ Das waren die Ausrufe, die mit Blitzesschnelle einander folgten, und nicht allein bei Ausrufen blieb es, sondern in demselben Augenblick fühlte sich auch der Unglückliche von kräftigen Händen gefasst, zu Boden geworfen, wieder aufgerissen und dem Fenster zugeschleppt, aus dem er wenige Sekunden später auf die Straße geschleudert wurde. Die Höhe, von der er hinunter stürzte, betrug jedoch kaum sieben Fuß, und nur wenig beschädigt fiel er zu Boden, schon aber hörte er das Rachegeschrei der Verfolger, die nicht gedachten, ihr Opfer so leichten Kaufs entwischen zu lassen, auf dem Hausflur.

Wohl sprang er empor und wandte das blutende Antlitz seinen Feinden entgegen, aber nicht Todesfurcht, nein, kalter Trotz und Verachtung des Schrecklichsten, was ihm begegnen könnte, lag in dem Blick, mit dem er seine Peiniger zu erwarten schien. Da scholl aus einem der oberen Fenster die Stimme Selindes, die ihm, den Untergang des Geliebten voraussehend, in Todesangst zurief:

„Flieh, Alfons, flieh – um meinetwillen!“

Einen Blick warf er hinauf zu der halb aus dem Fenster gebogenen schlanken Gestalt des armen Mädchens, einen Blick voll Liebe, Angst und Trotz; dann aber, wie von einem neuen Gedanken durchzuckt und ehe ihn noch der heranstürmende Haufen erreichen konnte, floh er mit Windesschnelle die Straße hinauf und war bald in den ihn verbergenden Baumgruppen, welche die Stadt umgeben, verschwunden.

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