Die Göttinnen

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Sie erkundigte sich:

"Was ist es mit diesen Leuten? Ich möchte etwas über sie wissen."

"Dies arme Volk, es liebt mich sehr. Sie bemerken, Hoheit, wie dicht es mich umdrängt."

Sie hatte es bemerkt: das Volk roch übel.

"Ah! Um mich spinnt sich ein gutes Stück Romantik!"

Er breitete die Arme aus, den Kopf im Nacken, dass der schöne, breite Bart keilförmig in die Luft stand. Sie erklärte sich seine Gebärde nicht ganz.

"Wenn Sie wüssten, Hoheit, wie das süß ist: vom Hasse einer Welt umtobt, sich auf einen Wall von Liebe zu stützen."

Sie erinnerte ihn:

"Und das Volk, das Volk?"

"Es ist arm und unmündig, darum liebe ich es, darum schenke ich ihm meine Tage und meine Nachte. Die Umarmungen eines Volkes, Sie mögen mir glauben, Hoheit, sind heißer, sind weicher und beglückender als die einer Geliebten. Ich entreiße mich ihnen manchmal, zu langen, einsamen Fußwanderungen durch mein trauriges Land."

So schloss er, stiller und getragener.

Er war entschieden von der Darlegung der eigenen Persönlichkeit nicht abzulenken. Sie hatte die Lippen zu einem spöttischen Wort geöffnet, aber sein Organ, dies erstaunliche Organ, das dem Könige und seiner Regierung Furcht einflößte, bezwang ihren Widerspruch. In seiner Stimme schmolz Liebe, die Liebe zu seinem Volk, wie ein köstliches Dragée. Ein Duft, fade und berauschend, entströmte seinen leersten Worten, ein ihr peinlicher Duft; aber er wirkte auf sie.

Einige Schritte landeinwärts äußerte sie:

"Sie sind ein Tribun? Man fürchtet Sie sogar?"

"Man fürchtet mich. O ja, ich glaube wohl, dass jene vornehmen Herren mich fürchten, die damals, als ich die schamlosen, verworfenen Sitten des Thronfolgers nach Verdienst öffentlich gebrandmarkt hatte, in mein Haus gedrungen sind."

"Ach, wie ist das abgelaufen?" fragte sie, begierig auf Geschichten.

Er blieb stehen.

"Sie mussten sich in der nächsten Apotheke die Köpfe verbinden lassen. Die Polizei vermied es ängstlich sich einzumischen," sagte er kalt und ging weiter.

Er gab ihr zehn Sekunden zum Nachdenken; dann hielt er wieder an.

"Aber niemand, der ein gutes Gewissen besitzt, braucht mich zu fürchten. Man weiß ja gar nicht, wie weich ich bin, wie viel von meinem Zorn aus einer zu zärtlichen Seele kommt, und wie dankbar und treu ich dem Mächtigen, Frau Herzogin, wäre, der für meine Sache seine Hand erhöbe."

"Und Ihre Sache?"

"Ist mein Volk," sagte Pavic und setzte seinen Weg fort.

Sie wanderten über spitze Kiesel. In einem armseligen Acker standen gebückte Gestalten, sie warfen unablässig, mit immer gleichen Bewegungen, Steine auf die Straße hinaus. Der Weg lag voll, und das Feld ward nicht leer. Ein Bauer sagte:

"So werfen wir das ganze Jahr. Gott weiß, wo der Teufel all' die Steine hernimmt."

"Das ist auch mein Los," versetzte Pavic sofort. "Jahr ein Jahr aus schleudere ich Ungerechtigkeit und Frevel an meinem Volk aus dem Acker meines Vaterlandes, — aber Gott weiß, woher der Teufel immer neue Steine nimmt."

Die Öffnung einer Lehmhöhle klaffte. Die Herzogin trat, um dem immer nachdrängenden Volke auszuweichen, auf die Schwelle. Ungeheure irdene Krüge ragten in den Ecken, auf dem Boden von hartgestampfter gelber Erde. Durch den schwarzen Raum zog der Geruch von gebratenem Öl. Vor dem schmälenden Feuer eines feuchten Reisigbündels froren drei Männer in braunen Mänteln. Einer sprang auf und kam mit einem tönernen Gefäß auf die Gäste zu. Die Herzogin wich hastig zurück, aber der Tribun ergriff den Weinkelch.

"Das ist der Saft meines Mutterbodens," sagte er zärtlich, und trank.

"Das ist Blut von meinem Blut."

Er verlangte ein Stück Maisbrot, zerbrach es und teilte mit den Umstehenden. Die Herzogin sah einem großen Seevogel zu, der kreischend durch die Nacht der Höhle flatterte. Eine kleine Natter ringelte auf dem Tisch.

"Wahrscheinlich ist mir jetzt alles vorgeführt," sagte die Herzogin. Sie wandte sich wieder dem Ufer zu.

"Sie wollen zur Stadt, Herr Doktor, und haben kein eigenes Boot? Steigen Sie bitte in meines."

Er nahm einen Knaben mit hinein, ein kränkliches Wesen mit schwachen Augen, weißen Ringellöckchen und von käsiger Farbe.

"Sie haben einen Knaben bei sich?"

"Es ist mein Kind. Ich habe es sehr lieb."

Sie dachte: "Das brauchte nicht gesagt zu werden. Und mitzunehmen brauchte er es auch nicht."

Nach einer Pause fragte sie:

"Sie werden doch Pavese genannt?"

"Ich habe mich so nennen müssen. Ohne die Sitten und sogar die Namen unserer Feinde anzunehmen, können wir in unserm eigenen Lande nicht gedeihen."

"Wer, wir?"

"Wir…"

Er errötete. Sie bemerkte, dass er eine eigentümlich zarte Haut und rosige Nüstern hatte.

"Wir Morlaken," ergänzte er rasch.

"Morlaken?" dachte sie. So nannte man also jene Bunten, Schmutzigen dort drüben. Das war also ein Volk. Sie hatte es für eine namenlose Herde gehalten. Sie vergewisserte sich: "Und die Leute am Strande, das waren wohl auch —"

"Morlaken, Hoheit."

"Warum verstehen sie nicht italienisch?"

"Weil es nicht ihre Sprache ist."

"Ihre Sprache?"

"Das Morlakische, Hoheit."

Also besaßen sie auch eine Sprache. Sie hatte, so oft jene die Münder öffneten, ein ungeregeltes Grunzen zu hören gemeint, aus dem Eingeweihte möglichenfalls allerlei traumdunkle Absichten herausahnten, wie aus den Lebensäußerungen der Tiere. Pavic versetzte:

"Wie ich sehe, ist Ihnen, Frau Herzogin, dieses Volk noch unbekannt."

"Ich habe unter meiner Dienerschaft nie welche gehabt. Ich erinnere mich, mein Vater nannte sie —"

Sie besann sich und schwieg. Er schluckte hinunter. Plötzlich gerade ausgerichtet und eine Hand in der Nähe des Herzens, mit der ganzen Spannung eines vielleicht einzigen Augenblickes begann er zu reden.

"Wir Morlaken sehen zu, wie zwei fremde Räuber sich um unser Land vertragen. Wir sind der Kettenhund, den zwei Wölfe anfallen; und der Bauer schläft."

"Die beiden Wölfe?"

"Sind die Italiener, unsere alten Bedrücker, und der König Nikolaus mit seinen fremden Schergen. oh, Hoheit, missverstehen Sie mich nicht. Es hat der Dynastie Koburg niemals ein treueres Herz geschlagen als hier in dieser slawischen Brust. Als die Mächte den Prinzen Nikolaus von Koburg auf Dalmatiens Thron setzten, da ging ein Aufatmen durch die slawische Welt. Die vielhundertjährige Schmach wird nun doch gesühnt werden, so hieß es von Archangel bis Cattaro: denn von Cattaro bis Archangel und vom Eismeer bis zu der öligen Flut des Südens schlagen die slawischen Herzen im gleichen Takt. Die lateinischen Räuber, die ein heiliges Slawenvolk schänden, man wird ihnen endlich den Stein um den Hals binden und sie im Meer versenken. So jauchzten wir! So jauchzten wir voreilig. Denn, Frau Herzogin, wie es war, so ist es geblieben: die Fremden herrschen."

"Welche Fremden?"

"Die Italiener."

"Die nennen Sie fremd? Hier ist doch alles italienisch. In eine Wildnis, an ein ödes Meer haben die Italiener schöne Städte gebaut…"

"Und nun sitzen — Sie sehen, Hoheit, wie wund Ihre Worte mein Herz trafen, dass ich Sie, Frau Herzogin, zu unterbrechen wage —, und nun sitzen sie in diesen schönen Städten als Spinnen und trinken das arme Blut des slawischen Landes. In den Städten am Meer wird auf Italienisch geschrien, genossen und Theater gespielt. Man führt den Neugierigen, die vorbeifahren, die Komödie einer Wohlhabenheit, einer Gesittung und Zufriedenheit vor, die dieses Land nicht kennt. Dahinter aber, in den langgestreckten, traurigen Gefilden, geht es ernst und stille zu. Dort wird auf slawisch geschwiegen, gehungert und gelitten. Das Reich, Fran Herzogin, ist nicht derer die genießen, es ist der Leidenden."

Sie fragte sich: "Hält er leiden für ein Verdienst?"

Der Tribun fuhr fort:

"Die Barbarei und das Elend in ein Land tragen, wo nur Genügsamkeit und Unschuld waren; in den Leibern der Armen nach Gold graben und um Gold ihre unsterblichen Seelen verkaufen, — das nannten unsere einstigen Herren, die Venetianer: kolonisieren. Zum Ersatz für alles was sie uns nahmen, sandten sie uns ihre Künstler, die bauten uns einige nichtsnutzige Monumente; daran durften die Hungernden sich satt sehen."

Er sprang auf. Die gespreizte Rechte ausgestreckt nach der weißen Stadt, die vor ihnen sich aus dem Wasser erhob, rief er in den Wind hinein:

"Wie ich sie verabscheue, diese ruchlose Schönheit!"

Die Herzogin wendete, leicht angewidert, den Kopf weg. Pavic vermochte sich in dem heftig schwankenden Boot nicht lange auf den Beinen zu halten; er taumelte und saß hart nieder. Dann legten sie an. Pavic seufzte tief:

"Der König Nikolaus weiß von alledem nichts. Ich achte ihn, er ist fromm, und auch ich war als einfaches Slawenherz immer ein gläubiger Sohn der Kirche. Aber er steckt im Lügengarn der Italiener. Hätte er sonst einen treuen Untertanen wie mich, verfolgt und eingekerkert?"

Ihr Wagen war vorgefahren, sie stand schon am geöffneten Schlage; plötzlich sah sie sich nochmals nach ihm um.

"Sie haben im Kerker gesessen?"

"Hoheit, zwei Jahre lang."

Die Herzogin erhob das Lorgnon: sie hatte noch niemals einen Staatsverbrecher gesehen. Pavic stand barhäuptig im Schmuck seiner kurzen, braunroten Locken, das Licht flimmerte in seinem rotblonden Bart, er blickte ihr freimütig in die Augen.

"Sie müssen unversöhnlich sein," versetzte sie endlich. "Ich wäre es."

 

"Gott verhüte es. Aber immer fromm und immer loyal gewesen, und bloß, weil ich mein Volk liebe, verfolgt und eingekerkert, — Hoheit, das schmerzt," sagte er innig.

"Schmerzt? Sie müssen doch wütend sein!"

"Hoheit, ich vergebe ihnen —"

Er hielt die Rechte mit nach außen gekehrter Handfläche ein Stück seitwärts von der Hüfte weg. Er blickte gen Himmel.

"Denn sie wissen nicht, was sie tun."

"Erzählen Sie mir gelegentlich mehr, Herr Doktor."

Sie grüßte ihn aus dem Wagen.

Es war Mittag, in den windgeschützten Straßen brannte die Sonne. Die Herzogin suhlte sich aufgeweicht und eingeschläfert von lauter auf sie herniedergegangenen Worten, einfangenden, umstrickenden, entkräftenden Worten. Noch in ihren kühlen Sälen umspann sie ein ungesunder Zauber. Alle Gegenstände, die sie anfasste, waren zu weich, das Schweigen im Hause zu schmeichelnd und zu träumerisch. Ein kleiner Vogel, der sich an ihrem Fenster den Kopf einstieß, hätte ihr fast leidgetan, als er schon tot war. Sie brauchte eine Nacht, um wieder gelassen und vernünftig zu werden.

Acht Tage später kam ein verzweifelter Brief vom Prinzen Phili. Von Hinnerich sei zu treu, er lasse ihn keinen Schritt mehr allein gehen. Wenn sie ihm ein Wiedersehen beim cercle intime versage, so verliere er den letzten moralischen Halt. Das werde sie nicht wollen, nur die Jesuiten könnten das wünschen.

Sie gab bei der Prinzessin ihre Karte ab. Darauf erschien bei ihr ein Hofjäger mit einer schriftlichen Einladung zu Ihrer königlichen Hoheit.

Als der Lakai vor ihr die Flügeltür aufriss, warf Phili einen Handarbeitstisch um. Zwei Teetassen gingen in Scherben. Die in dem weiten, kalten Gemach einsam frierenden Personen erhoben sich eifrig, erlöst aus trüber Langerweile. Die Prinzessin zog liebenswürdig einen zweiten Sessel neben den ihrigen, in dessen warmen Tiefen sie mit frostigem Beben ganz verschwand. Sie war lang, beängstigend schmal und mager, und weißlich von Haaren, Haut, Augen und Wesen. Ellenbogen und Kniee stachen wie Lanzen durch den Stoff des schlichten, geschlossenen Kleides, die Handgelenke wollten abbrechen in den Spitzenmanschetten.

"Sie haben uns aber lange warten lassen," äußerte sie.

Sie sprach langsam, leise klagend. Man wusste beim ersten Wort, ihr sei auf keine Weise beizukommen.

"Mit Bedauern, königliche Hoheit," entgegnete die Herzogin.

"Dennoch hätte ich meine Zurückgezogenheit noch lange nicht aufgegeben, nur der Wunsch Euerer königlichen Hoheit konnte mich dazu bewegen."

"Sie tun es mir zuliebe, Hoheit? Gott lohne es Ihnen. Wie habe ich mich danach gesehnt, mit einem Menschen der großen Welt, mit Ihnen, liebe Herzogin, von da draußen reden zu dürfen, — von Paris…"

Dies Wort erregte ein Stöhnen, es pflanzte sich fort durch den Raum. Phili wiederholte dumpf: "Paris". "Paris," lispelten zwei reich geputzte Damen, deren kunstvolle Locken, von großen Rosen gekrönt, über porzellanweiße Nacken fielen. Hinter ihnen warfen ihre Männer die blassbraunen Köpfe zurück, dass die gewichsten Stacheln ihrer dicken schwarzen Schnurrbärte zur Decke starrten: "Paris". "Paris," murmelte Percossini mit angenehmem, sehnsuchtstiefen Baryton. Aus einem wenig erhellten Winkel, von Seidenkissen erstickt, drang der matte Seufzer einer dicken, schönen Frau: "Paris". Und nur von Hinnerich blieb ohne eine Miene zu verziehen, aufmerksam und pflichtgetreu, neben dem Stuhl stehen, auf dem des Thronfolgers kümmerliche Glieder zappelten.

Die Prinzessin sagte:

"Hoheit erlauben, dass ich Sie mit unsern Freunden bekannt mache."

"Mes dames Paliojoulai und Tintinovitsch."

Die beiden Damen beschrieben in ihren hinten zentaurenmäßig entwickelten Roben weite Komplimente. Ein anmutiges Lächeln wollte die milchige Fettschicht aus ihren Gesichtern in Fluss bringen. Die Herzogin bemerkte, dass Madame Tintinovitsch schön sei mit ihrer feinen Adlernase und den schwarzen Brauen unter den blondgefärbten Locken.

"Prinzessin Fatme," sagte Friederike von Schweden, "meine liebe Fatme, die Gemahlin Ismael Iben Paschas, des Gesandten Seiner Majestät des Sultans bei unserm Könige."

"Eine Gemahlin," so verbesserte Phili. "Drücke dich stets genau aus, meine Liebe: eine von seinen vier Gemahlinnen."

Die Herzogin ging freundlich der schönen, dicken Frau entgegen; sie wickelte sich aus ihren Kissen heraus. Ihre knappe, blaue Atlastunika über gelben Spitzen war nicht weit vom Boulevard entstanden: aber das mondvolle, schimmernde Antlitz mit den gemalten Bogen hoch über den kohleumränderten, schmalen Augen, und das köstlich gesalbte Haar im bleichen Tau der Perlengehänge, entschlüpfte sichtlich einer aus Versehen offen gebliebenen Tür des Harems. Starker Patschuligeruch entströmte ihren Gliedern; im Hauch ihres Mundes indessen vermischte sich eine Erinnerung an süßen Tabak mit ganz, ganz leisem Knoblauchduft.

"Herr Tintinovitsch, Herr Paliojoulai," sagte Philis Gemahlin.

Der eine war vom andern nicht zu unterscheiden. Die Schnurrbarte, die kalten, müden Augen, die blendende Wäsche und die Brillanten, überall angebracht, wo es irgend ging, gehörten ihnen gemeinsam. Sie verneigten sich gleichzeitig. Sie schienen einer Art von Männern anzugehören, die durch vornehme Gewandtheit jeden Salon zieren, und denen man zutraut, dass sie in kritischer Stunde, nach einem Spielverlust, den Frauen die Ohrläppchen abreißen, an denen Juwelen hängen. Die Diamanten, die auf ihren geschmeidigen Körpern blitzten, vielleicht hatten sie sie eigenhändig aus den Schächten Indiens geholt. Ein Blick in ihre harten, eleganten, mit haarscharfen Fältchen übersäten Gesichter ließ eine Menge fremdartiger Geschichten ahnen. Wenn es mit der Dynastie Koburg je bergab ging, so vertauschten die Herren Paliojoulai und Tintinovitsch das dalmatinische Königsschloss möglichenfalls mit den Spielsälen Monacos, immer gleich sicher, als Höflinge und als Croupiers.

Die künftige Königin sagte:

"Baron Percossini, Major von Hinnerich."

Die schlanke, elegante Gestalt des Kammerherrn klappte zusammen. Sein verehrendes Lächeln war weich wie sein gekräuseltes Bärtchen; aber sein Blick schätzte und stahl. Er bot sich mit weißen Zähnen und sanften Händen als stiller Freund an, als belangloser Verehrer und feiner Vermittler in allen Heimlichkeiten. Er hielt alles für möglich und zweifelte an allem, außer am Wert des Geldes.

Von Hinnerich zweifelte an gar nichts, und möglich war für ihn nur das Bestehende. Er war baumgroß und hatte ein rotblondes, ungelenkes Gesicht, nicht ganz frisch rasiert. Er verbeugte sich rasselnd.

"Ja, Frau Herzogin, das ist der Hinnerich, so ein treuer Mensch!" schrie unvermittelt Prinz Phili und sprang von seinem Sitze. Er schlang einen Arm um die Hüfte seines Adjutanten und grinste gebückt und ganz verklärt zu ihm hinauf, wie ein Äffchen am Fuß der deutschen Eiche. Plötzlich besann er sich auf etwas anderes.

"Sie sind ja gesehen worden, Frau Herzogin. Wissen's, das ist aber gar nicht schön von Ihnen, dass Sie mit andern Leuten spazieren gehen und nicht mit uns."

"Königliche Hoheit meinen?" fragte die Herzogin. Friederike erläuterte:

"Sogar mit jemand, der solche Ehre vielleicht nicht ganz verdient."

"Mit einem Staatsverbrecher, Hoheit," fügte Percossini liebenswürdig hinzu. Prinzessin Fatme meinte mit sehr hoher Flötenstimme:

"Einem gefährlichen Kerl, Frau Herzogin."

Die Damen Paliojoulai und Tintinovitsch kreischten leise. Ihre Gatten bestätigten mit Überzeugung:

"Einem höchst gefährlichen Kerl, Hoheit."

Sie war aufrichtig erstaunt.

"Doktor Pavic? Es war eine zufällige Begegnung. Er scheint ein gutmütiger, ziemlich eitler Mensch zu sein."

"Ach nein!"

"Riesig naiv für sein Alter," so ergänzte sie. "Was man eine gläubige Natur nennt, meine ich."

"Das ist ja —"

Phili lachte kindisch. Der Rest der Gesellschaft sah sich ernst an.

"Frau Herzogin verzeihen, das ist ja gottvoll."

"Mein Lieber, das ist nicht gottvoll," berichtigte seine Gemahlin. Sie saß lang und weißlich da.

"Dieser Pavic, Hoheit, ist unser gefährlichster Revolutionär. Er verhetzt unser gutes Volk, er will uns vertreiben. Wir sollen im Exil enden oder auf der — der Guillotine."

Sie sprach säuerlich und jeden Widerspruch aus schließend.

"Wenn Euere königliche Hoheit davon überzeugt ist …" sagte die Herzogin.

"Das ist so."

"Dann müsste man einmal mit ihm reden. Übrigens hat er schon im Kerker gesessen, das fand ich famos. Sie könnten ihn ja wieder hineinsetzen."

"Wenn das heute noch ginge."

"Auch ist es sicher nicht nötig. Er begeht keine Gewalttaten, er ist fromm."

"Weil er die Geistlichkeit braucht."

"So ein Heuchler!" rief Phili. "Er hält's mit die Je-su-iten."

"Königliche Hoheit erlauben," äußerte Percossini mit zärtlicher Stimme. "Es fragt sich, für wie wichtig man den Herrn hält. Mit etwas Geld wäre er natürlich leicht zu beschwichtigen."

"Ich bezweifle es," sagte die Herzogin.

"Geld!" schrie entrüstet Tintinovitsch. "Prügel!"

"Prügel, wollen Sie sagen, Baron," schrie Paliojoulai.

Ihre Gattinnen fragten in süßen Tönen:

"Ihr habt ihn doch schon einmal durchgehauen. Wenn königliche Hoheit der Meinung ist, so tut ihr's eben nochmals. Nicht wahr, Eugene? Nicht war, Maxime?"

"Ah! Sie haben damals die Exekution übernommen," versetzte die Herzogin. "Sagen Sie bitte, meine Herren, befindet sich bei Doktor Pavic' Wohnung nicht eine Apotheke, wo man Verbandzeug bekommt? Ich frage nur beiläufig."

Die beiden bewegten fassungslos ihre weißen Augäpfel, sie rissen die Münder auf und zeigten ihre vollständigen Gebisse wie zwei große, braune Nussknacker. Die Herzogin überlegte ungeduldig: "Wie komme ich dazu, mich wegen des Pavic aufzuregen? Aber die Dummheit all dieser Leute zwingt mich ja, Partei zu ergreifen." Nach einer verlegenen Pause begann die Prinzessin schleppend zu sprechen.

"Nein, ich halte es nicht für möglich, alle Klagen vermittelst Prügel zu beseitigen. Aber beseitigt müssen sie werden. Ich werde sogar schon in allernächster Zeit eine Suppenküche eröffnen lassen. Baron Percossini hat von meinen diesbezüglichen Weisungen Notiz genommen."

Der Kammerherr verneigte sich.

"Am nächsten Mittwoch beginnen wieder unsere Strickabende bei den Dames du Sacré Coeur. Samstag ist dann an den jungen Mädchen die Reihe. Bitte, sich daran zu erinnern, meine Damen. Das Volk soll Suppen und wollene Westen erhalten, das ist mein fester Wille. Ferner das Geistige. Wir sind jetzt ja allerdings katholisch…"

"Allerdings," bestätigte schnarrend von Hinnerich.

"Trotzdem, meine ich, könnten wir einen Bibelverein gründen. Sie gehen doch fleißig mit den Sammellisten für die Friederiken-Versöhnungskirche umher, meine Herren Paliojoulai und Tintinovitsch? Vergessen Sie nicht den Baron Rustschuk; diese Juden können geben."

Die künftigen Croupiers rollten weiße Blicke gen Himmel.

"Und die Feste?" äußerte Prinzessin Fatme, die unvermutet im Lichtkreise der Kerzen erschien.

"Wo bleiben die Wohltätigkeitsfeste, liebste Friederike? Ein Bazar, eine Weihnachtskrippe, nicht wahr, so nennt ihr das? Beate Schnaken verkauft Puppen; die Schnaken kleidet reizend Puppen an. Ich habe eine türkische Konfiserie. Mesdames Paliojoulai und Tintinovitsch…"

"Und ein Ball!" bat Frau Tintinovitsch.

Fatme war schmerzlich berührt.

"O nein, kein Ball!"

Sie watschelte mit kurzen Beinen unbehilflich auf Friederike von Schweden los und fiel ihr plump um den Hals.

"Bitte, du Süße, kein Ball!"

Die Prinzessin tröstete sie.

"Liebste, auch ich halte nichts vom Tanzen. Dagegen werde ich den Polizeidirektor veranlassen, dass er die Wirtshäuser um neun Uhr schließt. Ferner denke ich auf die Frauen einzuwirken, dass sie nicht mehr aufs Rad steigen, sondern Kompott einmachen, was ich für sittlicher halte. Überhaupt muss die Unsittlichkeit aufhören. Das wäre, denke ich, alles. Oder sollte ich noch etwas vergessen haben?"

Niemand hatte Ergänzungen zu machen.

"Es ist ganz gut, liebe Herzogin, dass Sie mich heute Abend auf die Sache gebracht haben. Einmal muss die soziale Frage doch aus der Welt kommen."

 

So schloss die Prinzessin, merklich gereizt.

Die Gattin des türkischen Gesandten schlug sich klatschend vor die üppige Brust, sie machte ein unsäglich verwundertes Gesicht.

"Ich begreife gar nicht, was ihr euch für unnütze Mühe gebt, ihr seid doch zu unerfahren. Hört einmal, wie mein Mann es gemacht hat, als er in Kleinasien Pascha war. Die Christen kamen von den Feldern, es waren auch Gläubige dabei, und alle hatten nichts zu essen und waren schrecklich aufgebracht. Mein Mann ließ ihnen sagen, er habe Mehl die Menge, sie sollten nur in den Hof des Kastells kommen. Sie kamen; und kaum waren alle zwischen den hohen Mauern eingepfercht, da ließ mein Mann die Tore schließen, und von oben herab —"

Fatme lachte zwischen den Worten. Ihre Erzählung war ein kindliches Gezwitscher.

"— von den Mauern herab wurden sie alle massakriert. Haha! Massakriert."

"O! O!" machten die Damen Paliojoulai und Tintinovitsch, und in ihren Seufzern mischten sich Grauen und Verlangen.

"Sie drängten sich und schrien wie Schweine auf einem zu engen Fleischerwagen, wenn eines nach dem andern vom Fleischer herabgeholt wird."

Die Prinzessin lächelte nachsichtig.

"Nein, du Gute, das würde bei uns doch zu viel Anstoß erregen."

Von Hinnerich trat geräuschvoll von einem Fuß auf den andern.

"Leider!" schrie er plötzlich, dunkelrot im Gesicht. Der preußische Major war begeistert von der Anekdote der Haremsdame.

"Es bleibt bei den Suppen und den wollenen Westen," so entschied Friederike von Schweden.

"Nicht wahr, meine liebe Herzogin von Assy, Sie übernehmen bei einem meiner guten Werke den Ehrenvorsitz. Sie interessieren sich doch auch für die Lösung der sozialen Frage."

"Königliche Hoheit, ich habe noch nicht daran gedacht. Möglichenfalls fällt es mir einmal ein…"

Man erstaunte auf allen Seiten.

"Aber warum geben Hoheit sich alsdann mit dem Pavic ab?"

"Warum waren Sie drüben bei den Morlaken?"

"Zweimal schon?"

"Weil ich mich langweilte," erklärte die Herzogin. "Da dachte ich an das Volk. Denn das Sonderbarste, was ich im Leben kennen gelernt habe, ist das Volk. So oft ich ihm begegnet bin, ist es mir ein Rätsel gewesen. Es gerät nämlich in Wut über Dinge, die ihm vollständig gleichgültig sein könnten, und glaubt an Dinge, die eigentlich nur ein Verrückter für wahr halten kann. Wenn man ihm einen Knochen hinwirft, wie einem Hunde — und wo ist denn der Unterschied? — so frisst es ihn zwar, wedelt aber nicht mit dem Schweife. Ah! Das hat mich immer am meisten neugierig gemacht. So glaube ich auch nicht, dass mit Suppen und wollenen Westen alles erledigt wäre…"

"Da irren Hoheit," sagte überlegen die Prinzessin. "Da irren Sie ganz entschieden."

Die Herzogin sprach weiter:

"Der Kaiser Napoleon war um sein Volk sehr besorgt. Paris blühte und ward immer fetter. Ich glaube kaum, dass es dort viele Leute ohne Suppe und wollene Weste gab."

Jemand stöhnte:

"Ah! Paris!"

"Dennoch tobte das Volk unter Krämpfen in diesen überflüssigen und unvernünftigen Krieg hinein. Auf unsern Reisen ist mir manches aufgefallen, doch nichts so sehr wie jener schwarze Tumult, und daraus hervorschreiend im gelben Licht der Gasflammen die bleichen, schwitzenden Gesichter: 'Nach Berlin!' "

"Ah! Paris!"

"Und Hoheit, Sie, die alles bis zuletzt miterlebt haben, können uns aufklären: wo ist Adelaide Troubetzkoi geblieben?"

"Und d'Osmond?"

"Und die Komtesse d'Aulnaie?"

"Und die Zozie?"

Die Herzogin zuckte die Achseln.

"Die kleine Zozie soll einen Kommunard lieben. Sie steht in den Straßen auf umgeworfenen Schränken und Omnibussen und lädt Flinten."

"Quelle horreur! Auf den Marquis de Châtigny folgt ein Kommunard!"

Madame Paliojoulai sagte bitter:

"Die Vorfälle in Paris sind einfach eine Niedertracht. Sehen Sie doch, mit was für Handschuhen ich gehen muss. Aus Paris bekomme ich schlechterdings keine Handschuhe mehr. Ist es zu glauben?"

"Aber die Friederike hat noch gerade einen Hut erwischt. Sie, Frau Herzogin, den müssen's sehen!" rief erregt Prinz Phili.

Plötzlich schrien alle durcheinander. Die Damen wiesen mit hastigen Griffen ihre Fächer, ihre Spitzen, ihre Armbänder vor. Percossini versuchte, eifrig plaudernd, gemeinsame Erinnerungen an festliche Tage in der Herzogin wachzurufen. Der Prinzessin farbloser Kopf bekam einen rosa Hauch. Paliojoulai und Tintinovitsch mahnten einander mit männlich zurückgedrängter Wehmut an gewisse Spiellokale, die sie beide kannten, und an die ihnen beiden vertrauten Alkoven gewisser Damen. Der Name Paris elektrisierte ihre in der schweren Luft einer weit entlegenen Provinz ermatteten Herzen. Die Lichtstadt ließ hierher an ein fernes Meer ihren Nimbus leuchten als ein Märchen, als eine Fabelsehnsucht. Sie ward unter diesen östlichen Menschen genannt, und es war, als wenn die Kinder des Westens Geschichten lauschten von Tausend und einer Nacht. Und kaum von einer Pariser Reise heimgekehrt, dachten zur Bezahlung der nächsten diese Damen an ersparte Mittagsessen und nicht erneuerte Unterkleidung, diese Kavaliere an Totalisator und Baccarattische, diese Fürsten an das Volk.

Prinzessin Fatme hob mit der Anstrengung eines Athleten ihr schweres Bein auf einen Stuhl und lud jedermann ein, sich zu überzeugen, dass ihr weicher Lederschuh sich bis dicht unters Knie um die Wade schmiege. "Das ist Paris," sagte sie andächtig. Um wieder den Boden zu erreichen, hing sie sich voll und lastend um die Schulter des Thronfolgers, der neugierig über sie gebeugt stand. Er entwand sich, halb erstickt, der schönen Frau. Er führte das Taschentuch an die Stirn und murmelte unsicher, mit einem schiefen Blick auf von Hinnerich:

"I mag ka Weib."

Noch stark angegriffen, schrie er mit gewaltsamer Munterkeit:

"Frau Herzogin, was sagen Sie denn zu unserer Fatme? Ist sie nicht ein lieber Schneck?"

Sie reichte der Türkin die Hand.

"Gnädige Frau, von allen Meinungen, die vorhin geäußert sind, hat mir Ihre am besten gefallen. Sie war echt."

"Hoheit ist zu freundlich," erwiderte Fatme mit süßem Kinderlächeln. Phili flüsterte.

"Na, die andern haben schon strohdumm dahergeredet. Hoheit wissen ja: wenn ich könnte … Man erlaubt zur leider nichts, aber mit den andern bin ich nicht im Verwechseln, da muss ich schon bitten. Die Friederike schwätzt, was Platz hat…"

Fatme fiel ein.

"Nichts gegen Ihre Gemahlin, königliche Hoheit. Sie ist meine liebe Freundin."

"Weil ihr beide so liebe Männer habt. Drum hockt ihr immer beisammen und erzählt euch, wie's euch so wohl ist."

"Ich möchte den Pascha kennen lernen," sagte die Herzogin.

"Ich bring' ihn zu Ihnen, Hoheit. oh, er ist stark und energisch," erklärte Fatme mit Ehrfurcht.

"Ganz den Eindruck hat er mir auch in Ihrer Erzählung gemacht."

Fatme seufzte.

"Leider ist er mir untreu, — gerade wie der da meiner armen Friederike."

"Da schaut's die an!" rief Phili. "Habt's denn ihr euch gegen die bestehende Ordnung der Dinge zu empören? Der Pascha hat seinen Harem, das ist ja recht, und ich hab' auch meinen Harem."

"Sie auch, königliche Hoheit?"

"Kann ich denn nicht alle miteinander haben? Die Paliojoulai, die Tintinovitsch, was meinen's denn? Die Schnaken will mi a! 's scheniert mich ordentlich, wenn sie's vor der ganzen Gesellschaft durchblicken lassen. Der Percossini ist auch ein Lump. Immer hat er Mädeln, die er mir anbietet. Ah was —"

Er wandte sich halb ab und sah, das blasse Händchen im dünnen Backenbart, schmollend zu Boden.

"I mag ka Weib."

Fatme seufzte wieder, in Gedanken verloren.

"Wenn ich ihm nur auch einmal untreu sein könnte."

"Dem Pascha?" fragte die Herzogin. "Sie lieben doch Ihren Gemahl, gnädige Frau?"

"Eben darum. Er soll's einmal merken, wie das tut. Aber das ist ja das Unglück, es geht nicht. Was ich hier anstelle, unter den Christen, in Pariser Toiletten, das ist dem Manne ganz gleich."

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