Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur

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Claude klatschte bei diesem Anblick in die Hände. Er fand »dieses lumpige Gemüse« überspannt, toll, erhaben. Und er behauptete, es sei nicht tot; am Abend vorher ausgerissen, erwarte es die Sonne des nächsten Tages, um ihr auf dem Pflaster der Markthallen Lebewohl zu sagen. Er sah es leben, seine Blätter öffnen, als steckten seine Wurzeln noch ruhig und warm in der gedüngten Erde. Er sagte, er höre hier das Röcheln aller Gemüsegärten im Weichbild der Stadt. Inzwischen erfüllte die Menge weißer Hauben, schwarzer Mieder und blauer Kittel die engen Durchgänge zwischen den Haufen. Das Ganze war ein summendes Feld. Schwer schwankten die großen Kiepen der Lastträger über den Köpfen. Die Hökerinnen, die Straßenhändler und die Obstverkäufer kauften ein und hatten es eilig. Korporale und Gruppen von Nonnen umstanden die Berge von Kohl, während Internatsköche umherschnüffelten und einen guten Fund suchten. Immer noch wurde abgeladen; die Fuhrwerke warfen ihre Ladung auf die Erde wie eine Ladung Pflastersteine und gossen eine neue Woge zu den anderen Wogen, die jetzt an den gegenüberliegenden Bürgersteig brandeten. Und hinten aus der Rue du PontNeuf trafen unaufhörlich Wagenzüge ein.

»Das ist trotz allem verwegen schön«; murmelte Claude verzückt.

Florent litt. Wie eine übermenschliche Versuchung kam ihm das vor. Er wollte nichts mehr sehen; er betrachtete die Kirche SaintEustache, die schräg vor ihm stand, wie mit Sepia10 auf das Blau des Himmels getuscht mit ihren Rosetten und breiten Bogenfenstern, ihrem Glockenturm und ihren Schieferdächern. Er verweilte beim dunklen Einschnitt der Rue Montorgueil, wo Enden von schreienden Schildern aufblitzten, und bei der stumpfen Ecke der Rue Montmartre, deren mit goldenen Buchstaben überladene Balkons glänzten. Und als er sich wieder der Straßenkreuzung zuwandte, bestürmten ihn weitere Schilder, wie »Drogerie und Apotheke«, »Mehl und Dörrgemüse«, mit dicken roten und schwarzen Großbuchstaben auf verschossenem Grund. Die winkligen Häuser mit schmalen Fenstern erwachten nun und fügten in das breite Straßenbild der neuen Rue du PontNeuf einige gelbe und schöne alte Fassaden des Paris von einst. An der Ecke der Rue Rambuteau standen in den leeren Schaufenstern des großen Neuheitenwarenhauses gutgekleidete Handlungsgehilfen in Weste mit ihren enganliegenden Hosen und ihren breiten blendenden Manschetten und ordneten die Auslage. Weiter weg stellte die Firma Guillot, streng wie eine Kaserne, hinter ihren Fensterscheiben goldgelbe Biskuitpäckchen und Kompottschalen voller Petitfours zur Schau. Alle Läden waren geöffnet. Arbeiter in weißen Kitteln, die ihr Werkzeug unter dem Arm hielten, beschleunigten ihre Schritte und überquerten die Straße.

Claude war noch immer nicht von seiner Bank heruntergestiegen. Er reckte sich hoch, um bis hinten in die Straßen zu sehen. In der Menge, die er überschaute, gewahrte er einen blonden Kopf mit üppigem Haar, dem ein ganz krauses und zerzaustes schwarzes Köpfchen folgte.

»He! Marjolin! He! Cadine!« rief er. Und da sich seine Stimme in dem Getümmel verlor, sprang er von der Bank herunter und lief davon. Dann fiel ihm ein, daß er Florent vergessen hatte. Mit einem Satz war er wieder zurück und sagte rasch: »Das letzte Haus der Impasse des Bourdonnais, Sie wissen ja ... Mein Name ist mit Kreide an die Tür geschrieben, Claude Lantier ... Kommen Sie hin und sehen Sie sich die Radierung von der Rue Pirouette an.«

Er verschwand. Er wußte nicht Florents Namen. Wie er ihn aufgegriffen am Rande eines Bürgersteigs, so verließ er ihn, nachdem er ihm erklärt hatte, was er als Künstler bevorzugte.

Florent war allein. Er fühlte sich zunächst glücklich in dieser Verlassenheit. Seit ihn Frau François in der Avenue de Neuilly aufgelesen hatte, ging er vor sich hin in einem Zustand von Schlaftrunkenheit und Leiden, der ihm die genaue Vorstellung der Dinge entzog. Er war endlich frei, er wollte sich schütteln, diesen unerträglichen riesenhaften Nahrungstraum abschütteln, von dem er sich verfolgt fühlte. Aber sein Kopf blieb leer; er vermochte in seinem Innern nur eine dumpfe Angst wiederzufinden. Es wurde immer heller, man konnte ihn jetzt sehen. Er betrachtete den jämmerlichen Zustand seiner Hose und seines Überziehers. Er knöpfte den Überzieher zu, klopfte den Staub von der Hose, versuchte sich ein wenig herzurichten und glaubte dabei zu hören, wie diese schwarzen Lumpen ganz laut erzählten, wo er herkam. Er saß in der Mitte der Bank neben armen Teufeln, Herumtreibern, die dort gestrandet waren und auf die Sonne warteten. Die Nächte in den Markthallen sind wohltuend für die Vagabunden. Zwei Schutzleute, noch in Nachtuniform mit Umhang und Käppi, gingen, die Hände auf dem Rücken, auf dem Bürgersteig hin und her. Jedes Mal, wenn sie an der Bank vorbeikamen, warfen sie einen Blick auf das Wild, das sie hier witterten. Florent bildete sich ein, daß sie ihn erkannten, daß sie schon zu Rate gingen, um ihn zu verhaften. Da packte ihn die Angst. Es überkam ihn ein wahnsinniges Verlangen, aufzustehen und davonzulaufen. Aber er wagte es nicht mehr; er wußte nicht, wie er sich aus dem Staube machen sollte. Und die regelmäßigen Blicke der Schutzleute, dieses langsame und kalte Examinieren der Polizei, spannten ihn auf die Folter. Endlich verließ er die Bank, an sich haltend, um nicht mit der ganzen Länge seiner großen Beine zu fliehen, Schritt für Schritt sich entfernend und die Schultern einziehend in dem Entsetzen, die rohen Hände der Schutzleute zu spüren, die ihn von hinten am Kragen packten.

Er hatte nur noch einen Gedanken, nur noch ein Bedürfnis: fortzukommen von den Markthallen. Er würde abwarten, würde später noch suchen, wenn die Straße frei war. Die drei Straßen an der Kreuzung, die Rue Montmartre, die Rue Montorgueil und die Rue Turbigo, beunruhigten ihn. Sie waren mit Wagen aller Art verstopft. Gemüse bedeckte die Bürgersteige. Er ging also geradeaus bis zur Rue PierreLescot, wo ihm der Kresse und der Kartoffelmarkt undurchdringlich erschienen. Er zog es vor, die Rue Rambuteau hinunterzugehen; aber am Boulevard Sébastopol stieß er auf einen derartigen Wirrwarr von Rollwagen, Karren und Breaks11, daß er zurückging, um in die Rue SaintDenis einzubiegen. Dort geriet er wieder in das Gemüse. Auf beiden Seiten hatten die Markthändler gerade ihre Stände aus auf hohe Körbe gelegten Brettern errichtet, und die Sintflut von. Kohl, Möhren und Kohlrüben begann von neuem. Die Hallen flossen über. Er trachtete aus dieser Woge herauszukommen, die ihn in seiner Flucht einholte. Er versuchte es mit der Rue de la Cossonnerie, der Rue Berger, dem Square des Innocents, der Rue de la Ferronnerie und der Rue des Halles. Und er blieb stehen, entmutigt, verstört, weil er sich aus diesem Teufelsreigen von Kraut nicht zu befreien vermochte, der schließlich um ihn herumtanzte und mit seinem feinen Grün seine Beine umschlang. In der Ferne verloren sich bis zur Rue de Rivoli, bis zum Place de l'HôteldeVille hin endlose Züge von Rädern und vorgespannten Tieren in dem Durcheinander der Waren, die aufgeladen wurden. Große Rollwagen schafften den Einkauf der Obsthändler eines ganzen Viertels weg; Breaks, deren Seitenwände krachten, fuhren in die Außenbezirke ab. In der Rue du PontNeuf verirrte er sich vollends. Er stolperte mitten in einen Abstellplatz für Handwagen hinein; Straßenhändler richteten hier ihre fliegenden Stände her. Unter ihnen erkannte er Lacaille, der, eine Karre voll Möhren und Blumenkohl vor sich her schiebend, in die Rue SaintHonoré einbog. Florent folgte ihm in der Hoffnung, daß er ihm helfen werde, aus dem Gewühl herauszukommen. Das Pflaster war glitschig geworden, obwohl trockenes Wetter herrschte: Haufen von Artischockenstielen, welken Blättern und Stengeln machten die Fahrbahn gefährlich. Bei jedem Schritt strauchelte er. Er verlor Lacaille in der Rue Vauvilliers. Bei der Getreidehalle waren die Straßenenden durch ein neues Hindernis von Fuhrwerken und Karren versperrt. Er versuchte nicht mehr dagegen anzukämpfen; die Markthallen hatten ihn wieder eingefangen, die Woge trug ihn zurück. Langsam kehrte er um und fand sich erneut an der Pointe Saint Eustache.

Jetzt vernahm er ein anhaltendes Rollen, das von den Markthallen ausging. Paris zerkaute die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war, als schlage ein mächtiges Herz wie rasend und schleudere das Blut des Lebens in alle Adern. Geräusch riesiger Kinnladen, polternder Lärm der Nahrungsbeschaffung, vom Peitschenknallen der zu den Märkten der Stadtviertel aufbrechenden Großhändler bis zu den schlürfenden Schlappen der armen Frauen, die von Tür zu Tür gehen, um aus Körben Salatköpfe anzubieten.

Er betrat eine überdachte Straße links in der Gruppe der vier Hallen, deren großen schweigenden Schatten er in der Nacht bemerkt hatte. Er hoffte, sich dorthin zu flüchten, dort irgendeinen Schlupfwinkel zu finden. Aber um diese Stunde waren sie erwacht wie die andern. Er ging bis ans Ende der Straße. Im Trab kamen kleine Rollwagen angefahren und überfüllten den Markt von La Vallée mit Käfigen voll lebendem Geflügel und viereckigen Körben, in denen totes Geflügel eng aufeinandergeschichtet war. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig luden andere Rollwagen ganze Kälber aus, die in ein Tuch gewickelt waren und der Länge nach wie Kinder in Waschkörben lagen, aus denen nur die vier blutigen, weitauseinandergespreizten Stümpfe herausragten. Außerdem waren da ganze Hammel, Rinderviertel, Lenden und Schulterstücke. Die Fleischer mit großen weißen Schürzen zeichneten das Fleisch mit einem Stempel, fuhren es weg, wogen es ab und hängten es an Stangen zur Versteigerung aus. Das Gesicht an die Gitter gepreßt, beobachtete Florent diese Reihen herunterhängender Leiber, die roten Rinder und Hammel, die vom Fett und den Sehnen gelbgefleckten blasseren Kälber mit ihren aufgeschlitzten Bäuchen. Weiter ging er zum Kaldaunenmarkt hinüber, unter die bleichen Kalbsköpfe und füße, die säuberlich zu Packen zusammengerollten Kaidaunen in Kisten, die lecker in flachen Körben aufgereihten Hirne, die blutigen Lebern, die blaßvioletten Nieren. Er blieb bei den langen zweirädrigen, mit bauschigen Planen gedeckten Karren stehen; sie brachten halbe Schweine heran, die zu beiden Seiten an den Wagenleitern oberhalb einer Strohschicht befestigt waren. Die offenen Hinterteile der Karren ließen im flammenden Schimmer dieser regelmäßigen und nackten Fleischmassen von brennenden Kerzen umgebene Katafalke und Tabernakelvertiefungen sehen, und auf der Strohschicht standen Weißblechbüchsen voll Schweineblut. Eine dumpfe Wut erfaßte Florent; der fade Schlachthofgeruch und der scharfe Kaldaunengeruch brachten ihn zur Verzweiflung. Er trat aus der überdachten Straße und zog es vor, noch einmal zum Bürgersteig der Rue du PontNeuf zurückzukehren.

 

Es war ein Ringen mit dem Tode. Morgendliches Frösteln überkam ihn, er klapperte mit den Zähnen; er hatte Angst, hinzufallen und auf der Erde liegenzubleiben. Er suchte und fand nicht eine Ecke auf einer Bank; er wäre dort eingeschlafen, und es war ihm gleich, von Schutzleuten geweckt zu werden. Dann lehnte er sich, die Augen geschlossen, ein Sausen in den Ohren, mit dem Rücken an einen Baum, als blende ihn ein Flimmern. Die rohe Mohrrübe, die er, fast ohne sie zu kauen, hinuntergeschlungen hatte, zerriß ihm den Magen, und das Glas Punsch hatte ihn benebelt. Er war benebelt vor Elend, Erschöpfung und Hunger. Ein glühendes Feuer brannte ihm von neuem in der Brusthöhle; für Augenblicke faßte er mit beiden Händen dahin, wie um ein Loch zu verstopfen, durch das er, wie er glaubte, sein ganzes Sein entfliehen fühlte. Der Bürgersteig schwankte weit; sein Schmerz wurde so unerträglich, daß er wieder gehen wollte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er ging geradeaus, geriet in Gemüse und verlor sich darin. Er schlug einen schmalen Seitenweg ein, bog in einen anderen ab, mußte umkehren, irrte sich und war wieder mitten im Gemüse. Einige Haufen waren so hoch, daß die Menschen zwischen zwei aus Packen und Bunden errichteten Mauern umhergingen. Die Köpfe ragten ein wenig darüber hinaus; an dem weißen oder schwarzen Fleck der Kopfbedeckungen sah man sie vorüberziehen, und die großen, in Höhe der Blätter schwankenden Kiepen glichen Nachen aus Weidenruten, die auf einem See von Moos schwammen. Florent stieß gegen tausend Hindernisse, gegen Träger, die Lasten aufnahmen, gegen Händlerinnen, die mit ihren rauhen Stimmen herumstritten. Er glitt aus auf der dicken Schicht von Kehricht und Obstresten, die den Fahrdamm bedeckte. Der starke Geruch der zertretenen Blätter benahm ihm den Atem. Da blieb er stumpfsinnig stehen; er nahm die Stöße der einen und die Schimpfworte der anderen hin. Er war nur noch eine Sache, die auf dem Grunde des steigenden Meeres hin und her geschlagen und gewälzt wurde.

Eine tiefe Mutlosigkeit befiel ihn. Er hätte am liebsten gebettelt. Sein alberner Stolz in der Nacht brachte ihn außer sich. Wenn er das Almosen von Frau François angenommen, wenn er nicht wie ein Blödling vor Claude Angst gehabt hätte, wäre er nicht mehr hier am Verröcheln zwischen diesen Kohlköpfen. Und er ärgerte sich vor allem, daß er sich nicht bei dem Maler über die Rue Pirouette erkundigt hatte. Jetzt war er allein und konnte auf dem Pflaster verrecken wie ein verlorener Hund.

Ein letztes Mal blickte er auf und betrachtete die Markthallen. Sie flammten in der Sonne. Ein großer Strahl drang hinten in den Eingang der überdachten Straße und durchbohrte die Masse der Hallen mit einem Säulengang von Licht; und prasselnd fiel auf die Fläche der Dächer ein glühender Regen. Das ungeheure Eisengebälk verschwamm, wirkte blau und war nur noch ein dunkler Schattenriß auf den Flammen der Feuersbrunst im Osten. Oben entzündete sich ein Fenster. Ein Tropfen Helligkeit rollte an den schrägen breiten Zinkblechplatten bis zu den Dachrinnen hinab. Das war jetzt eine in fliegendem Goldstaub brodelnde Stadt. Das Erwachen war angewachsen vom Schnarchen der Gemüsebauern, die unter ihren Mänteln dalagen, bis zum lebhafteren Wirbel der eintreffenden Waren. Die ganze Stadt zog jetzt die Gitter hoch; das Straßenpflaster summte, die Hallen dröhnten. Alle Stimmen setzten ein – man möchte sagen – in einem meisterhaften Erstrahlen dieses Tonsatzes, den Florent seit vier Uhr morgens im Dunkel sich dahinschleppen und anschwellen hörte. Rechts, links, von allen Seiten brachte Versteigerungsgekreisch die spitzen Töne der Pikkoloflöte in die dumpfen Bässe der Menge. Das war beim Seefisch, das bei der Butter, das beim Geflügel, das beim Fleisch. Glockenläuten wehte herüber, und hinterdrein bebte das Murmeln der Märkte, die geöffnet wurden. Rings um Florent setzte die Sonne das Gemüse in Flammen. Er erkannte das zarte Aquarell der bleichen Morgendämmerung nicht mehr wieder. Die weiter gewordenen Herzen des Salats brannten. Die Tonleiter des Grüns rauschte in strotzender Pracht. Die Möhren bluteten; die Rüben wurden weißglühend in diesem sieghaften Brand. Links von Florent stürzten noch immer Fuhrwerke mit Kohl unter ihrer Last fast zusammen. Er wandte den Blick und sah in der Ferne Rollwagen, die unaufhörlich aus der Rue Turbigo einmündeten. Das Meer stieg weiter. Er hatte es an seinen Knöcheln gefühlt, dann an seinem Bauch; jetzt drohte es, ihm über den Kopf zu gehen. Geblendet, ertränkt, mit sausenden Ohren und den Magen zermalmt von allem, was er gesehen, und neue unendliche Tiefen von Nahrung ahnend, bat er um Gnade, und ein wahnsinniges Weh ergriff ihn, so Hungers zu sterben in diesem vollgefressenen Paris, in diesem funkelnden Erwachen der Markthallen. Große heiße Tränen quollen aus seinen Augen.

Er war in einen breiteren Gang gekommen. Zwei Frauen, eine kleine Alte und eine lange Dürre, gingen plaudernd an ihm vorbei zu den Hallen.

»Sie wollen Ihre Einkäufe machen, Mademoiselle Saget?« fragte die lange Dürre.

»Oh, Madame Lecœur, wenn man so sagen kann ... Sie wissen ja, eine alleinstehende Frau. Ich lebe von nichts ... Ich wollte einen kleinen Blumenkohl kaufen, aber alles ist so teuer ... Und was kostet heute die Butter?«

»Vierunddreißig Sous ... Ich habe sehr gute. Wenn Sie zu mir herankommen wollen ...«

»Ja, ja, ich weiß nicht, ich habe noch ein bißchen Fett ...«

Mit einer übermenschlichen Anstrengung folgte Florent den beiden; er erinnerte sich, den Namen der kleinen Alten von Claude in der Rue Pirouette gehört zu haben, und nahm sich vor, sie anzureden, wenn sie die lange Dürre verlassen hätte.

»Und Ihre Nichte?« fragte Fräulein Saget.

»Die Sarriette tut was ihr gefällt«, antwortete Frau Lecœur bitter. »Sie wollte sich selbständig machen. Das geht mich nichts mehr an. Wenn die Männer sie dann ausgenommen haben, wird sie von mir auch kein Stück Brot bekommen.«

»Sie waren so gut zu ihr ... Sie müßte doch Geld verdienen; Obst bringt in diesem Jahr immerhin etwas ein ... Und Ihr Schwager?«

»Ach der ...!« Frau Lecœur kniff die Lippen zusammen und schien nichts weiter sagen zu wollen.

»Immer noch derselbe, wie?« fuhr Fräulein Saget fort. »Ist mir schon der Richtige ... Ich habe mir sagen lassen, daß er sein Geld in einer Weise durchbringt ...«

»Weiß man denn, ob er sein Geld durchbringt?« entfuhr es Frau Lecœur. »Ein Geheimniskrämer ist er, ein knickeriger Kerl, ein Mann, sehen Sie, Mademoiselle, der mich eher verrecken ließe, als daß er mir hundert Sous leihen würde ... Er weiß sehr gut, daß Butter ebenso wie Käse und Eier in dieser Jahreszeit nicht gehen. Er dagegen kann soviel Geflügel verkaufen, wie er will ... Na, nicht ein einziges Mal hat er mir seine Hilfe angeboten. Ich bin zu stolz, etwas anzunehmen, verstehen Sie, aber ich hätte mich doch darüber gefreut.«

»Ach, da ist ja Ihr Schwager«, bemerkte Fräulein Saget leise.

Die beiden Frauen drehten sich um und blickten jemandem nach, der den Fahrdamm, überquerte und in die große überdachte Straße ging.

»Ich habe es eilig«, murmelte Frau Lecœur. »Ich habe meinen Stand allein gelassen. Außerdem will ich nicht mit ihm reden.« Auch Florent hatte sich unwillkürlich umgedreht. Er erblickte einen kleinen, untersetzten, vergnügt aussehenden Mann mit grauen, bürstenartig geschnittenen Haaren, der unter jedem Arm eine fette Gans trug, deren Kopf herunterhing und ihm beim Gehen gegen den Schenkel schlug. Und plötzlich machte Florent vor Freude eine Handbewegung, und seine Müdigkeit vergessend, lief er hinter dem Mann her. Als er ihn erreicht hatte, rief er:

»Gavard!« und klopfte ihm auf die Schulter.

Der Mann hob den Kopf, musterte mit überraschter Miene diese lange schwarze Gestalt, die er nicht wiedererkannte. Mit einem Male rief er dann in höchster Überraschung:

»Sie! Sie! Wie, Sie sind das!« Beinahe hätte er seine fetten Gänse fallen lassen. Er konnte sich nicht beruhigen. Als er aber seine Schwägerin und Fräulein Saget gewahrte, die von weitem neugierig dieser Begegnung beiwohnten, begann er weiterzugehen und sagte: »Wir wollen hier nicht stehenbleiben, kommen Sie ... Es gibt zu viele Augen und Zungen.«

Und in der überdachten Straße sprachen sie miteinander. Florent erzählte, daß er in der Rue Pirouette gewesen war. Gavard fand das sehr komisch; er lachte viel und berichtete, daß Florents Bruder Quenu umgezogen sei und ein paar Schritt weiter in der Rue Rambuteau gegenüber den Markthallen seinen Fleischerladen wieder eröffnet habe. Ungeheuren Spaß machte es ihm, zu hören, daß Florent während des grauen Morgens mit Claude Lantier herumgelaufen war, diesem komischen Kauz, der ausgerechnet der Neffe von Frau Quenu war. Er wollte Florent sogleich zu dem Fleischerladen bringen. Als er dann erfuhr, daß Florent mit falschen Papieren nach Frankreich zurückgekehrt war, setzte er allerlei geheimnisvolle und ernste Gesichter auf. Er wollte in fünf Schritt Abstand vor ihm gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Nachdem sie die Geflügelhalle durchschritten hatten, wo er seine beiden Gänse in seinem Stand aufhängte, überquerte er die Rue Rambuteau, immer gefolgt von Florent. Dort wies er ihm in der Mitte des Fahrdamms mit einem Augenzwinkern einen großen und ansehnlichen Fleischerladen.

Die Sonne fiel schräg in die Rue Rambuteau und entflammte die Häuserfronten, zwischen denen der Eingang zur Rue Pirouette ein schwarzes Loch bildete. Am anderen Ende stand ganz golden wie ein riesiger Reliquienschein im Sonnenstaub das große Kirchenschiff von SaintEustache. Und mitten durch die lärmende Menge rückte von der Straßenkreuzung her in einer Linie und mit regelmäßigem Besenschwingen ein Heer von Straßenfegern vor, während Kehrichtsammler mit der Forke den Unrat in Karren warfen, die alle zwanzig Schritt mit einem Klirren hielten, als werde Geschirr zerschlagen. Aber Florent achtete nur auf den großen offenen und in der aufgehenden Sonne flammenden Fleischerladen.

Der Laden bildete fast die Ecke der Rue Pirouette. Es war eine Freude, ihn anzusehen. Er lachte ganz hell mit lebhaften Farbtupfen, die im Weiß des Marmors sangen. Das Schild, auf dem in einer Umrahmung von Zweigen und Blättern, auf mattem Grund gezeichnet, in großen goldenen Lettern der Name QUENUGRADELLE leuchtete, war eine mit Glas überdeckte Malerei. Die beiden Seitenfüllungen des Ladenfensters, gleichfalls bemalt und unter Glas, stellten pausbäckige Amoretten dar, die inmitten von Schweinsköpfen, Koteletts und Würstchengirlanden spielten; und diese mit Schnörkeln und Rosetten geschmückten Stilleben waren von einer so aquarellähnlichen Zartheit, daß das rohe Fleisch dazwischen rosige Tönungen von Konfitüren annahm. In dieser lieblichen Umrahmung war die Auslage aufgebaut. Alles war auf Unterlagen aus zurechtgeschnittenem feinem blauem Papier gebettet; stellenweise verwandelten sinnreich angeordnete Farnblätter einzelne Teller in Sträuße, die von Grün umgeben waren. Es war eine Welt von guten Dingen, von saftigen Dingen, von fetten Dingen. Zunächst stand ganz unten an der Scheibe eine Reihe Töpfe mit feingehacktem und in Schmalz gebratenem Schweinefleisch, dazwischen Töpfe mit Mostrich. Oberhalb davon kamen ausgebeinte Geflügelkeulen mit ihrem hübsch runden Gesicht, gelb wie geriebene Brotrinde, und ihrem in einen grünen Pompon auslaufenden Beinstück. Dann folgten die großen Platten: die nappierten Straßburger Zungen, die mit der roten Glasur ihrer Haut blutig wirkten neben den bleichen Würstchen und Schweinefüßen; die schwarzen, wie gutmütige Nattern zusammengerollten Blutwürste; die paarweise aufeinandergestapelten, vor Gesundheit strotzenden Bratwürste; die Dauerwürste, die in ihrem Silberornat steifen Kirchensängern glichen; die Pasteten, die noch ganz warm waren und die Fähnchen ihrer Etiketts trugen; die dicken Schinken, die großen gefrorenen Stücke Kalb und Schwein, deren Gelee durchsichtig wie Zuckerkandis war. Ferner standen da geräumige Schüsseln, auf deren Boden Fleischstücke und Gehacktes in geronnenem Fett schlummerten. Zwischen die Teller und Platten waren auf der Unterlage aus blauem zurechtgeschnittenem Papier Gefäße mit eingemachten Früchten, mit durchgeseihter Kraftbrühe, eingelegten Trüffeln, Schüsseln mit Gänseleber und schillernde Büchsen mit Thunfisch und Sardinen verstreut. Ein Kasten mit Milchkäse und ein anderer mit in Kräuterbutter angemachten und wieder ins Gehäuse gestopften Weinbergschnecken waren nachlässig in die beiden Ecken gestellt. Schließlich hingen ganz oben von einem Gestänge mit Wolfszähnen Ketten von Bratwürsten, Dauerwürsten und Zervelatwürsten symmetrisch herab und glichen Schnüren und Quasten reicher Wandbehänge, während dahinter Fettnetzstücke ihre Spitze, ihren Untergrund weißer und fleischiger Stickerei setzten, und dort auf dem letzten Aufsatz dieser Kapelle des Bauches wurde zwischen zwei Sträußen purpurner Gladiolen und inmitten der Fettnetzstücke der Prozessionsaltar gekrönt durch ein viereckiges, mit Muscheln verziertes Aquarium, in dem ständig zwei Goldfische schwammen.

 

Florent überrieselte ein Schauer; und in der Sonne erblickte er auf der Schwelle des Ladens eine Frau. Sie brachte eine Glückseligkeit mehr, eine handfeste und glückliche Fülle in all diese fette Fröhlichkeit. Es war eine schöne Frau. Sie nahm die Breite der Tür ein, war vollbusig in der Reife ihrer dreißig Jahre, jedoch keineswegs zu dick. Sie war soeben aufgestanden, und ihre glatten anliegenden, gleichsam gelackten Haare gingen ihr in schmalen, flachen Streifen über die Schläfen. Dadurch wirkte sie sehr eigen. Ihr friedliches Fleisch hatte jene weiße Durchsichtigkeit, jene feine rosige Haut von Menschen, die ihr Leben zwischen Fett und rohem Fleisch zu verbringen pflegen. Sie war sehr ernst, sehr ruhig und behäbig, hatte einen heiteren Blick und strenge Lippen. Ihr gestärkter, eng den Hals umschließender Leinenkragen, ihre weißen Ärmel, die ihr bis zu den Ellbogen reichten, und ihre weiße, die Schuhspitzen verbergende Schürze ließen nur Stückchen ihres schwarzen Kaschmirkleides sehen, die runden Schultern, die volle Büste, deren Korsett den Stoff aufs Äußerste spannte. In all dem Weiß brannte die Sonne. Aber obwohl sie mit dem blauschimmernden Haar, der rosigen Haut, dem strahlenden Glanz der Ärmel und der Schürze von Helligkeit durchtränkt war, blinzelte sie nicht, sondern nahm in seliger Gelassenheit mit sanften Augen und den überquellenden Markthallen zulachend ihr morgendliches Lichtbad. Sie erweckte den Anschein großer Ehrbarkeit.

»Das ist die Frau Ihres Bruders, Ihre Schwägerin Lisa«, meinte Gavard zu Florent. Er hatte sie mit einem leichten Nicken des Kopfes begrüßt. Dann ging er, weiterhin die peinlichsten Vorsichtsmaßregeln beobachtend, in den Hausflur, weil er nicht wollte, daß Florent durch den Laden eintrat, der allerdings leer war. Er war offenbar geradezu beglückt, sich in ein Abenteuer zu begeben, das er für gefährlich hielt. »Warten Sie«, sagte er. »Ich will sehen, ob Ihr Bruder allein ist ... Kommen Sie erst herein, wenn ich in die Hände klatsche.« Er stieß hinten im Flur eine Tür auf.

Als Florent aber hinter dieser Tür die Stimme seines Bruders vernahm, stürzte er mit einem Satz hinein. Quenu, der ihn geradezu anbetete, warf sich an seinen Hals. Wie Kinder umarmten sie sich.

»Donnerwetter! Du bist es!« stammelte Quenu. »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, nein! Ich habe dich für tot gehalten! Noch gestern habe ich zu Lisa gesagt: ›Der arme Florent ...‹« Er hielt inne und rief, den Kopf in den Laden steckend: »He! Lisa! Lisa!« Dann, zu einem kleinen Mädchen gewandt, das sich in eine Ecke geflüchtet hatte: »Pauline, geh doch und hol deine Mutter.«

Aber die Kleine rührte sich nicht. Es war ein prächtiges Kind von fünf Jahren mit einem vollen runden Gesicht und großer Ähnlichkeit mit der schönen Fleischersfrau. In den Armen hielt die Kleine einen riesigen gelben Kater, der es sich recht bequem machte und die Pfoten herunterhängen ließ; und mit ihren kleinen Händen, die sich unter der Last krümmten, drückte sie ihn an sich, als habe sie Angst, daß dieser so schlecht angezogene Herr ihn ihr wegnehme.

Langsam kam Lisa herbei.

»Das ist Florent, mein Bruder«, erklärte Quenu mehrmals. Sie redete ihn mit »Herr« an und war sehr freundlich. Ohne irgendwelche unhöfliche Verwunderung an den Tag zu legen, betrachtete sie ihn ruhig vom Kopf bis zu den Füßen. Nur ihre Lippen hatten eine kleine Falte. Sie blieb stehen und lächelte schließlich über die ungestümen Umarmungen ihres Mannes, der sich jedoch zu beruhigen schien. Da erst sah er, wie dürr und elend Florent war.

»Ach, mein armer Junge«, meinte er, »du bist nicht stattlicher geworden da drüben ... Ich, ich bin dicker geworden, wie du siehst!«

Er war tatsächlich dick, zu dick für seine dreißig Jahre. Er quoll über in seinem Hemd, seiner Schürze und seinem weißen Leinenzeug, in dem er eingewickelt war wie ein riesiges pausbäckiges Kind. Sein glattrasiertes Gesicht hatte sich in die Länge gezogen und allmählich eine entfernte Ähnlichkeit mit jenen Schweineschnauzen und mit jenem Fleisch angenommen, worin sich seine Hände während des ganzen Tages versenkten und worin sie lebten. Florent erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sich gesetzt, und seine Blicke wanderten von seinem Bruder zur schönen Lisa und zur kleinen Pauline. Sie strotzten vor Gesundheit; sie waren prächtig, breitschultrig und strahlend. Sie musterten ihn mit dem Erstaunen besonders wohlgenährter Leute, die beim Anblick eines Mageren eine unbestimmte Unruhe ergreift. Und sogar der Kater, dessen Fell vor Fett barst, machte runde gelbe Augen und musterte ihn mit argwöhnischer Miene.

»Du wartest doch bis zum Mittagessen, nicht wahr?« fragte Quenu. »Wir essen zeitig, um zehn Uhr.«

Ein kräftiger Küchengeruch hing im Raum. Florent erlebte noch einmal seine schreckliche Nacht, seine Ankunft in dem Gemüse, sein Ringen mit dem Tode mitten in den Markthallen, diese unaufhörlichen Nahrungslawinen, denen er eben entkommen war. Da sagte er leise, mit sanftem Lächeln:

»Nein, ich habe Hunger, weißt du.«

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