Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur

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Lisa und Quenu freuten sich andächtig gesammelt. Sie setzten sich zu beiden Seiten des Haufens auf den Bettrand, Lisa ans Kopfende, Quenu ans Fußende; und sie zählten das Geld auf der Bettdecke, um kein Geräusch zu verursachen. Es waren vierzigtausend Francs in Gold, dreitausend Francs in Silber und in einer Blechschachtel zweiundvierzigtausend Francs in Banknoten. Zwei gute Stunden brauchten sie, um das alles zusammenzurechnen. Quenus Hände zitterten ein wenig. Lisa verrichtete die Hauptarbeit. Die Goldstückstapel wurden auf dem Kopfkissen ordentlich aufgestellt, das Silber blieb in der Kuhle auf der Bettdecke. Als sich die für sie ungeheure Summe von fünfundachtzigtausend Francs ergeben hatte, begannen sie zu plaudern. Natürlich sprachen sie von der Zukunft, von ihrer Heirat, ohne daß jemals zwischen ihnen von Liebe die Rede gewesen wäre. Dieses Geld schien ihnen die Zunge zu lösen. Sie waren noch tiefer eingesunken, lehnten sich, die Beine ein wenig ausgestreckt, mit dem Rücken gegen die Alkovenwand unter dem weißen Musselinvorhang; und da beim Schwatzen ihre Hände im Gelde wühlten, begegneten sie sich darin und vergaßen sich eine in der anderen inmitten der Hundertsousstücke. Die Dämmerung überraschte sie. Nur Lisa errötete jetzt, sich neben dem jungen Burschen zu sehen. Sie hatten das Bett in Unordnung gebracht. Die Laken hingen herunter. Das Gold auf dem Kopfkissen zwischen ihnen bildete Vertiefungen, als hätten sich dort von Leidenschaft heiße Köpfe gewälzt.

Verlegen erhoben sie sich mit dem verwirrten Ausdruck zweier Liebenden, die soeben den ersten Fehltritt begangen haben. Dieses in Unordnung gebrachte Bett mit all dem Geld klagte sie einer verbotenen Freude an, die sie bei verschlossener Tür genossen hatten. Das war ihr Sündenfall. Lisa, die ihre Kleider wieder in Ordnung brachte, als habe sie das Schlimme getan, ging ihre zehntausend Francs holen. Quenu wollte, daß sie sie zu den fünfundachtzigtausend Francs des Onkels lege. Er mischte lachend die beiden Summen zusammen und sagte dabei, das Geld müsse sich auch verloben; und es wurde vereinbart, daß Lisa den »Schatz« in ihrer Kommode verwahren solle. Als sie ihn eingeschlossen und das Bett wieder gemacht hatte, gingen sie in aller Ruhe hinunter. Sie waren Mann und Frau.

Im folgenden Monat fand die Hochzeit statt. Das ganze Viertel fand das natürlich und vollkommen angebracht. Man kannte irgendwie die Geschichte mit dem Schatz, und Lisas Rechtschaffenheit war Gegenstand unendlichen Lobes; schließlich hätte sie ja Quenu überhaupt nichts zu sagen brauchen und das Geld für sich behalten können. Wenn sie gesprochen habe, so aus reiner Ehrbarkeit heraus, denn es hatte sie ja niemand gesehen. Sie verdiente durchaus, daß Quenu sie heiratete. Dieser Quenu hatte Glück: er war nicht schön und fand eine schöne Frau, die ihm ein Vermögen zutage förderte. Die Bewunderung ging so weit, daß schließlich getuschelt wurde: »Lisa war wirklich dumm, das zu tun, was sie getan hat.« Lisa lächelte, wenn man zu ihr über diese Dinge in verhüllten Worten sprach. Sie und ihr Mann lebten wie vorher in guter Freundschaft und in glücklichem Frieden. Sie half ihm, begegnete seinen Händen im Hackfleisch, neigte sich über seine Schulter, um mit einem Blick die Kochtöpfe in Augenschein zu nehmen. Und nicht allein das große Herdfeuer in der Küche trieb ihnen das Blut unter die Haut.

Lisa aber war eine kluge Frau, die rasch begriff, was für eine Dummheit es war, die fünfundneunzigtausend Francs in ihrer Kommodenschublade schlafen zu lassen. Quenu hätte sie gern wieder auf den Boden des Pökelfasses zurückgelegt, bis er ebensoviel dazu verdient hätte; dann würden sie sich nach Suresnes zurückgezogen haben, einem kleinen Ort am Rande der Stadt, den sie gern hatten. Aber Lisa hatte andere Ambitionen. Die Rue Pirouette verletzte ihre Vorstellungen von Sauberkeit, frischer Luft, Licht und kerniger Gesundheit. Der Laden, in dem Onkel Gradelle seinen Schatz Sou für Sou zusammengetragen hatte, war eine Art schwarzer Schlauch, eine jener zweifelhaften Schlächtereien in den alten Stadtvierteln, deren abgetretenen Steinfliesen trotz allen Scheuerns der strenge Fleischgeruch anhaftet; und die junge Frau träumte von jenen modernen hellen Läden, die prächtig sind wie ein Salon und mit ihren blanken Scheiben auf den Bürgersteig einer breiten Straße hinausgehen. Es war übrigens nicht das kleinliche Verlangen, hinter dem Ladentisch die feine Dame zu spielen; sie war sich der luxuriösen Erfordernisse des neuzeitlichen Geschäftslebens klar bewußt. Quenu war zunächst entsetzt, als sie ihm ihre Absicht offenbarte, umzuziehen und einen Teil ihres Geldes für die Ausstattung eines Geschäfts auszugeben. Sie zuckte nur leicht mit den Schultern und lächelte.

Eines Abends, als die Nacht hereinbrach und es in der Schlächterei dunkel war, hörten die beiden Eheleute, wie vor ihrer Tür eine Frau aus dem Viertel zu einer anderen sagte: »Ach nein, ich kaufe nicht mehr bei denen, ich würde nicht einen Zipfel Blutwurst zu mir nehmen können, meine Liebe, sie wissen ja ... In ihrer Küche hat doch ein Toter gelegen.« Quenu weinte deswegen. Diese Geschichte von dem Toten in seiner Küche sprach sich herum. Er wurde schließlich rot vor den Kunden, wenn er sie zu dicht an seiner Ware herumschnuppern sah. Er war es denn auch, der zu seiner Frau wieder von ihrem Einfall umzuziehen sprach. Sie hatte sich, ohne etwas zu sagen, wegen des neuen Ladens umgetan und hatte einen gefunden, ein paar Schritte weiter, in der Rue Rambuteau ausgezeichnet gelegen. Die Zentralmarkthallen, die man gegenüber aufmachte, würden die Kundschaft verdreifachen und das Haus in allen vier Ecken von Paris bekannt machen. Quenu ließ sich zu irrsinnigen Ausgaben hinreißen. Er steckte mehr als dreißigtausend Francs in Marmor, Spiegel und Vergoldungen hinein. Lisa brachte Stunden mit den Handwerkern zu und gab bei den geringsten Kleinigkeiten ihre Meinung von sich. Als sie sich endlich hinter dem Ladentisch niederlassen konnte, strömten die Käufer in Scharen herbei, allein schon, um sich den Laden anzusehen. Die Wandverkleidung war ganz aus weißem Marmor. Ein riesiger viereckiger Spiegel an der Decke wurde von einer breiten vergoldeten und reich verzierten Täfelung eingerahmt, und aus seiner Mitte hing ein vierarmiger Kronleuchter herab; und hinter dem Ladentisch, außerdem noch links und im Hintergrund, wurde die ganze Füllung von Spiegeln eingenommen, die zwischen den Marmorplatten angebracht waren. Seen von Helligkeit bildeten Türen, die sich bis ins Unendliche zu weiteren Räumen, die mit ausgestellten Fleisch waren angefüllt waren, aufzutun schienen. Den sehr großen Ladentisch rechts fand man besonders schön gearbeitet: Rauten aus rosa Marmor ließen symmetrisch eingelassene Medaillons hervortreten. Den Fußbodenbelag bildeten abwechselnd weiße und rosa Fliesenplatten mit einer dunkelroten Mäandereinfassung. Das ganze Stadtviertel war stolz auf seine neue Fleischerei, und niemandem fiel es mehr ein, von der Küche in der Rue Pirouette zu sprechen, in der ein Toter gelegen hatte. Einen Monat lang blieben die Nachbarinnen auf dem Bürgersteig stehen, um Lisa hinter den Zervelatwürsten und den Fettnetzstücken der Schaufensterauslage zu betrachten. Man bewunderte ihre weiße und rosige Haut ebensosehr wie den Marmor. Sie erschien als die Seele, das lebende Licht, das gesunde und handfeste Idol dieses Fleischerladens; und man nannte sie nur noch »die schöne Lisa«.

Rechts vom Laden befand sich das Eßzimmer, ein sehr sauberer Raum mit einem Büfett, einem Tisch und hellen Eichenholzstühlen mit Rohrgeflecht. Die den Parkettfußboden bedeckende Matte, die zartgelbe Tapete und das Wachstuch, das ein Eichenpaneel nachahmen sollte, ließen ihn etwas kalt wirken, einzig vom Schimmer einer von der Decke herabhängenden kupfernen Ampel freundlicher gemacht, die über dem Tisch ihren großen Schirm aus durchscheinendem Porzellan ausbreitete.

Aus dem Eßzimmer führte eine Tür in die geräumige viereckige Küche, an die sich hinten ein kleiner, mit Steinplatten ausgelegter Hof anschloß, in dem man altes Gerümpel abstellte und wo sich ausgediente Terrinen, Fässer und Gerätschaften türmten; links vom Wasserhahn hauchten längs der Regenrinne, in die das Spülwasser geschüttet wurde, die verwelkten Blumen aus den Schaufenstern vollends ihr Leben aus.

Das Geschäft ging ausgezeichnet. Quenu, den die Ausgaben im voraus doch erschreckt hatten, empfand fast Respekt für seine Frau, die, wie er sagte, »ein kluger Kopf« war. Nach fünf Jahren hatten sie nahezu achtzigtausend Francs in guten Staatspapieren angelegt. Lisa erklärte, daß sie nicht ehrgeizig und nicht darauf aus seien, allzu schnell Geld zusammenzuraffen; sonst hätte sie ihren Mann veranlaßt, Hunderttausende zu verdienen, indem sie ihn dazu anhielt, mit Schweinen im Großen zu handeln. Sie seien noch jung, sie hätten Zeit vor sich. Außerdem seien sie nicht für Pfuscherarbeit zu haben, sie wollten arbeiten, wie es ihnen behagte, ohne vor Sorgen abzumagern, als brave Leute, die auf gutes Leben Wert legen.

»Sehen Sie«, erzählte Lisa, wenn sie gerade gesprächig war, »ich habe in Paris einen Vetter ... Ich sehe ihn nie, die beiden Familien sind entzweit. Er hat den Namen Saccard angenommen, um gewisse Dinge vergessen zu machen ... Nun ja, dieser Vetter, hat man mir gesagt, verdient Millionen. So was lebt ja gar nicht, so was versengt sich das Blut, immer unterwegs in höllischen Geschäften. Das ist doch unmöglich, daß so einer abends ruhig seine Mahlzeit ißt, nicht wahr? Wir, wir wissen wenigstens, was wir essen, und haben keine solchen Scherereien. Unsereins sieht nur aufs Geld, weil man es zum Leben braucht. Natürlich will man es gut haben. Wenn man aber bloß verdienen soll, um zu verdienen, sich mehr Ärger machen soll, als man hinterher Vergnügen genießt, auf Ehre, da würde ich lieber die Hände in den Schoß legen ... Und dann möchte ich diese Millionen meines Vetters erst einmal sehen. Ich glaube nicht an solche Millionen. Neulich habe ich ihn in seinem Wagen gesehen; ganz gelb war er. Er sah mir recht danach aus, als ob er was zu verbergen hätte. Einer, der Geld verdient, hat keine solche Farbe. Aber schließlich geht das ihn allein an ... Wir wollen lieber bloß unsere hundert Sous verdienen und bei den hundert Sous gedeihen.«

 

Ihr Hauswesen gedieh in der Tat. Nach dem ersten Jahr ihrer Ehe bekamen sie eine Tochter. Allen dreien leuchteten die Augen vor Freude. Die Familie lebte sorglos, glücklich, ohne sich zu sehr anzustrengen, ganz wie es sich Lisa wünschte. Umsichtig hatte Lisa alle Gründe zu Aufregungen aus dem Weg geräumt und ließ die Tage inmitten dieser fetthaltigen Luft, dieses schwerfälligen Wohlergehens dahinfließen. Es war ein Winkel vernünftig überlegten Glücks, eine bequeme Futterkrippe, an der sich Mutter, Vater und Tochter mästeten. Nur Quenu überkam manchmal Traurigkeit, wenn er an seinen armen Florent dachte. Bis zum Jahre 1856 erhielt er ab und zu Briefe von ihm. Dann hörten die Briefe auf; aus einer Zeitung erfuhr er, daß drei Deportierte von der Teufelsinsel16 hätten entfliehen wollen und ertrunken seien, bevor sie die Küste erreicht hatten. Auf der Polizeipräfektur konnte man ihm keine genauen Auskünfte geben; sein Bruder mußte wohl tot sein. Dennoch bewahrte er einige Hoffnung; aber die Monate vergingen. Florent, der HolländischGuayana durchstreifte, hütete sich zu schreiben, weil er immer noch hoffte, nach Frankreich zurückzukehren. Quenu beweinte ihn schließlich wie einen Toten, von dem man nicht hat Abschied nehmen können. Lisa kannte Florent nicht. Sie fand jedesmal sehr liebevolle Worte, wenn sich ihr Mann in ihrer Gegenwart der Verzweiflung hingab; sie ließ sich zum hundertsten Male die Geschichten aus seiner Jugend erzählen, von der großen Stube in der Rue RoyerCollard, von den sechsunddreißig Berufen, die er gelernt hatte, von den Leckerbissen, die er – ganz in Weiß gekleidet, während sein Bruder ganz in Schwarz gekleidet war – im Ofen zu braten pflegte. Ruhig und mit unendlichen Entgegenkommen hörte sie ihm zu.

Mitten in diese klug gepflegten und herangereiften Freuden platzte an einem Septembermorgen Florent zu der Stunde herein, da Lisa ihr morgendliches Sonnenbad nahm und Quenu mit noch vom Schlaf dicken Augen träge die Finger in das geronnene Fett vom Abend vorher steckte. Die ganze Fleischerei stand auf dem Kopf. Gavard wollte, daß sie den »Proskribierten«, wie er ihn nannte und wobei er die Backen ein bißchen aufblies, versteckten. Lisa, bleicher und ernster als sonst, ließ ihn schließlich in den fünften Stock hinaufgehen, wo man ihm die kleine Stube des Ladenmädchens gab. Quenu hatte Brot und Schinken abgeschnitten. Aber Florent konnte kaum essen; Schwindel und Übelkeit überkamen ihn. Er legte sich hin und blieb fünf Tage im Bett mit heftigem Delirium und einer beginnenden Gehirnentzündung, die glücklicherweise wirkungsvoll bekämpft wurde. Als er wieder zu sich kam, gewahrte er Lisa am Kopfende seines Bettes, die geräuschlos mit einem Löffel in einer Tasse rührte. Als er ihr danken wollte, sagte sie zu ihm, er müsse sich ruhig verhalten und man würde sich später aussprechen. Nach drei Tagen war der Kranke wieder auf den Beinen. Da ging Quenu eines Morgens hinauf ihn holen und sagte ihm, daß Lisa sie im ersten Stock in ihrem Zimmer erwarte.

Sie hatten da eine kleine Wohnung von drei Zimmern und einer Kammer inne. Zuerst mußte man durch eine leere Stube, in der nur Stühle standen, dann durch einen kleinen Salon, dessen Möbel, unter weißen Schonbezügen verborgen, verschwiegen schliefen im Dämmerlicht der Jalousien, die stets heruntergelassen waren, damit die zu grelle Helligkeit dem zarten Blau des Rips nicht schadete, und so kam man ins Schlafzimmer, den einzigen bewohnten Raum, der sehr behaglich mit Mahagonimöbeln eingerichtet war. Besonders das Bett war überwältigend mit seinen vier Matratzen, seinen vier Kopfkissen, seinen dicken Decken, seinem Plumeau, seiner bauchigen Schläfrigkeit hinten in dem leicht feuchten Alkoven. Es war ein Bett, so recht zum Schlafen geschaffen. Der Spiegelschrank, die Waschkommode, das runde, mit einer gehäkelten Spitze bedeckte Tischchen, die mit viereckigen Klöppeldecken geschützten Stühle brachten hier einen lauteren und gediegenen bürgerlichen Luxus hinein. An der Wand links hingen zu beiden Seiten des Kamins, den zwei auf Kupferaufsätzen stehende Vasen mit Landschaftsmalereien schmückten und eine Stutzuhr mit einem ganz vergoldeten, in Gedanken versunkenen Gutenberg17, der den Finger auf ein Buch legte, die Ölgemälde von Quenu und Lisa in reich mit Verzierungen beladenen ovalen Rahmen; Quenu lächelte, Lisa sah untadelig aus, beide in Schwarz, die Gesichter geschmeichelt gezeichnet, laviert, verwaschen, in einem verdünnten Rosa. Ein Moketteteppich, auf dem sich komplizierte Rosetten mit Sternen mischten, verbarg das Parkett. Vor dem Bett lag einer jener Kelimvorleger, die aus langen gekräuselten Wollfäden angefertigt werden, ein Geduldswerk, das die schöne Fleischersfrau hinter ihrem Ladentisch gestrickt hatte. Verwunderlich aber wirkte inmitten all dieser neuen Sachen ein an der rechten Wand stehender großer vierschrötiger untersetzter Sekretär, den man neu aufpoliert hatte, ohne dabei weder die Scharten im Marmor ausbessern noch die Schrammen in dem vor Alter schwarzen Mahagoni unsichtbar machen zu können. Lisa hatte dieses Möbel, dessen sich Onkel Gradelle über vierzig Jahre bedient hatte, erhalten wollen; sie sagte, es würde ihnen Glück bringen. In Wahrheit hatte es fürchterliche Eisenbeschläge, ein Gefängnisschloß und war so schwer, daß man es nicht von der Stelle rücken konnte.

Als Florent und Quenu eintraten, saß Lisa vor der heruntergeklappten Platte des Sekretärs, schrieb und reihte mit großer, runder und sehr leserlicher Schrift Zahlen aneinander. Sie machte ein Zeichen, daß man sie nicht stören solle, und die beiden Männer setzten sich. Florent betrachtete überrascht das Zimmer, die beiden Bilder, die Stutzuhr, das Bett.

»So«, sagte Lisa endlich, nachdem sie bedächtig eine ganze Seite mit Berechnungen nachgeprüft hatte. »Hören Sie einmal zu ... Wir haben Ihnen Rechenschaft abzulegen, mein lieber Florent.« Es war das erste Mal, daß sie ihn so nannte. Sie nahm die mit den Berechnungen bedeckte Seite und fuhr fort: »Ihr Onkel Gradelle ist gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen. Sie und Ihr Bruder waren die beiden einzigen Erben ... Wir müssen Ihnen nun heute Ihren Anteil auszahlen.«

»Aber ich verlange nichts«, rief Florent aus, »ich will nichts!«

Quenu mußte wohl von den Absichten seiner Frau nichts bekannt sein. Er war ein wenig blaß geworden und sah sie unwillig an. Gewiß, er liebte seinen Bruder, aber es war nicht nötig, ihm so das Erbe des Onkels an den Kopf zu werfen. Später würde man sehen.

»Ich weiß recht gut, mein lieber Florent«, begann Lisa wieder, »daß Sie nicht zurückgekommen sind, um von uns das zu fordern, was Ihnen gehört. Nur, Geschäft ist Geschäft; es ist besser, das sofort zu erledigen ... Die Ersparnisse Ihres Onkels beliefen sich auf fünfundachtzigtausend Francs. Ich habe Ihnen daher zweiundvierzigtausendfünfhundert Francs zu Ihren Gunsten geschrieben. Hier stehen sie.« Sie zeigte ihm die Zahl auf dem Bogen Papier. »Es ist leider nicht ebenso einfach, den Wert des Ladens, der Einrichtung, der Waren und der Kundschaft abzuschätzen. Ich habe nur annähernde Summen einsetzen können, aber ich glaube, alles aufgeschrieben und reichlich bewertet zu haben ... Ich bin auf eine Gesamtsumme von fünfzehntausenddreihundertzehn Francs gekommen, das macht für Sie siebentausendsechshundertfünfundfünfzig Francs oder alles zusammen fünfzigtausendeinhundertfünfundfünfzig Francs ... Wollen Sie es bitte nachprüfen, nicht wahr?« Sie hatte die Zahlen klar und deutlich vorgelesen und reichte ihm das Blatt Papier, das er nehmen sollte.

»Aber«, rief Quenu, »der Fleischerladen des Alten ist niemals fünfzehntausend Francs wert gewesen! Ich hätte keine zehntausend dafür gegeben!« Seine Frau brachte ihn schließlich auf. Soweit treibt man die Ehrbarkeit nun doch nicht. Hatte denn Florent von der Fleischerei gesprochen? Außerdem wollte er überhaupt nichts, wie er gesagt hatte.

»Die Fleischerei besaß einen Wert von fünfzehntausenddreihundertzehn Francs«, wiederholte Lisa ruhig. »Sie verstehen, mein lieber Florent, wir brauchen da keinen Notar hinzuzuziehen. Es ist unsere Sache, diese Teilung vorzunehmen, da Sie wieder auferstanden sind ... Seit Ihrer Ankunft habe ich notwendigerweise daran gedacht und während der Zeit, als Sie da oben im Fieber lagen, versucht, diese Inventur, so gut ich konnte, aufzustellen ... Sehen Sie, alles ist einzeln angeführt. Ich habe auch unsere alten Bücher durchgesehen und meine Erinnerungen zu Rate gezogen. Lesen Sie laut vor, ich werde Ihnen alle Auskünfte geben, die Sie wünschen können.«

Florent lächelte schließlich. Er war gerührt von dieser ungezwungenen und wie selbstverständlichen Rechtschaffenheit. Er legte das Blatt mit der Abrechnung auf die Knie der jungen Frau und faßte ihre Hand.

»Meine liebe Lisa«, sagte er, »ich bin glücklich, zu sehen, daß euer Geschäft so gut geht, aber ich will euer Geld nicht. Die Erbschaft gehört meinem Bruder und Ihnen, die Sie den Onkel bis an sein Ende gepflegt haben ... Ich brauche nichts und habe nicht die Absicht, euch in eurem Geschäft zu behindern.«

Sie bestand darauf, wurde sogar ärgerlich, während Quenu kein Wort sagte, an sich hielt und sich in die Daumen biß.

»Na«, begann wieder Florent lachend, »wenn Onkel Gradelle euch hören würde, wäre er imstande, euch das Geld wieder wegzunehmen ... Onkel Gradelle hatte mich nicht gern.«

»Na, was das anbetrifft, nein, er hatte dich nicht sehr gern«, murmelte Quenu am Ende seiner Kräfte.

Lisa war jedoch noch immer nicht einverstanden. Sie meinte, sie wolle in ihrem Sekretär kein Geld haben, das ihr nicht gehöre, das rege sie auf, sie würde nicht ruhig leben bei dem Gedanken.

Da bot ihr Florent, der fortfuhr zu scherzen, an, sein Geld bei ihr in der Fleischerei anzulegen. Übrigens weise er ihre Gefälligkeiten keineswegs zurück; er würde zweifellos nicht sofort Arbeit finden. Außerdem könne er sich ja kaum sehen lassen, er brauche einen vollständigen Anzug.

»Aber ja!« rief Quenu, »du wirst bei uns schlafen, du wirst bei uns essen, und wir kaufen dir das Notwendige. Das ist abgemacht ... Du weißt doch, daß wir dich nicht auf der Straße liegenlassen, zum Teufel!« Er war ganz gerührt; er schämte sich sogar ein wenig, befürchtet zu haben, auf einen Schlag eine große Summe hergeben zu müssen. Er fand ein paar Scherzworte und sagte zu seinem Bruder, daß er es auf sich nehme, ihn Fett ansetzen zu lassen.

Der aber schüttelte leise den Kopf.

Inzwischen faltete Lisa das Blatt mit den Abrechnungen zusammen. Sie legte es in eine Schublade des Sekretärs.

»Sie handeln nicht richtig«, sagte sie wie abschließend. »Ich habe getan, was ich tun mußte. Soll es jetzt sein, wie Sie wünschen ... Ich, sehen Sie, ich hätte nicht in Frieden leben können. Unangenehme Gedanken gehen mir auf die Nerven.«

Sie sprachen von etwas anderem. Die Anwesenheit Florents mußte geklärt werden, ohne die Polizei aufmerksam zu machen. Er ließ sie wissen, daß er mit Hilfe der Papiere eines armen Teufels nach Frankreich zurückgekehrt sei, der in Surinam18 am gelben Fieber in seinen Armen gestorben war. Durch einen sonderbaren Zufall hieß dieser Mann ebenfalls Florent, aber mit Vornamen. Florent Laquerrière hatte nur eine Kusine in Paris zurückgelassen, von der man ihm geschrieben hatte, daß sie in Amerika gestorben sei; nichts sei leichter, als dessen Rolle zu spielen. Lisa erbot sich von selbst, die Kusine zu sein. Sie kamen überein, eine Geschichte von dem Vetter zu erzählen, der nach allerhand gescheiterten Versuchen aus dem Ausland zurückgekehrt und von den QuenuGradelles, wie man die Familie in dem Viertel nannte, aufgenommen worden war, bis er eine Stellung finden könnte. Als das alles abgemacht war, wollte Quenu, daß sich sein Bruder die Wohnräume ansähe; er ersparte ihm nicht den kleinsten Schemel. In dem leeren Raum, in welchem nur Stühle standen, stieß Lisa eine Tür auf, zeigte ihm eine Kammer und sagte, daß dort das Ladenmädchen schlafen würde und er die Stube im fünften Stock behalten solle.

Am Abend war Florent vollständig neu eingekleidet. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, wieder einen schwarzen Überrock und eine schwarze Hose zu nehmen, trotz Quenus Ratschlägen, daß diese Farbe traurig stimme. Man hielt ihn nicht mehr verborgen, und Lisa erzählte die Geschichte von dem Vetter jedem, der sie hören wollte. Er lebte in der Fleischerei, saß weltvergessen auf einem Stuhl in der Küche, ging wieder in den Laden, um sich mit dem Rücken gegen die Marmortäfelung zu lehnen. Bei Tisch stopfte ihn Quenu mit Essen voll, wurde böse, weil Florent ein schwacher Esser war und die Hälfte von dem Fleisch, mit dem man ihm den Teller füllte, übrigließ. Lisa hatte wieder ihre langsame und selbstzufriedene Art angenommen; sie duldete ihn sogar morgens, wenn er beim Bedienen der Kundschaft störte. Sie vergaß ihn dabei, und wenn sie dann unvermutet auf ihn stieß und er schwarz vor ihr stand, fuhr sie leicht zusammen, fand aber dennoch ihr schönes Lächeln, um ihn nicht zu verletzen. Die Uneigennützigkeit dieses hageren Menschen hatte sie verblüfft; sie empfand für ihn eine Art Hochachtung, gemischt mit einer unbestimmten Angst. Florent fühlte nichts als eine große Zuneigung um sich her.

 

War es Zeit, schlafen zu gehen, so ging er ein wenig müde von seinem leeren Tageslauf nach oben mit den beiden Metzgerburschen, die die Mansarden neben seiner innehatten. Der Lehrling Léon war erst fünfzehn Jahre alt; er war ein schmächtiger, sehr sanft aussehender Junge. Er stibitzte den Anschnitt vom Schinken und liegengebliebene Wurstenden, die er unter seinem Kopfkissen verbarg und nachts ohne Brot aß. Mehrere Male glaubte Florent, Léon gebe gegen ein Uhr morgens nebenan ein Abendessen: verhaltene Stimmen flüsterten; dann drangen Kaugeräusche herüber, Knistern von Papier und perlendes Lachen, ein schelmisches Mädchenlachen, das in der großen Stille des im Schlaf liegenden Hauses dem gedämpften Triller einer Piccoloflöte glich. Der andere Bursche, Auguste Landois, war aus Troyes; trotz seiner ungesunden Fettleibigkeit, seinem zu großen und bereits kahlen Kopf war er erst achtundzwanzig Jahre alt. Am ersten Abend erzählte er Florent beim Hinaufgehen lang und verworren seine Geschichte. Er sei zuerst nur nach Paris gekommen, um sich zu vervollkommnen und dann zurückzukehren und in Troyes, wo seine leibliche Kusine Augustine Landois auf ihn wartete, eine Fleischerei zu eröffnen. Sie hatten denselben Paten gehabt und trugen den gleichen Vornamen. Dann hatte ihn der Ehrgeiz erfaßt. Er träumte davon, sich mit seinem mütterlichen Erbe, das er vor der Abreise aus der Champagne bei einem Notar hinterlegt hatte, in Paris selbständig zu machen. Im fünften Stock angekommen, hielt er Florent zurück und erzählte ihm viel Gutes über Frau Quenu. Sie habe eingewilligt, Augustine Landois herkommen zu lassen anstelle eines Ladenmädchens, das auf Abwege geraten war. Er verstehe jetzt sein Handwerk, während sie sich das Geschäftliche aneignete. In einem oder in anderthalb Jahren würden sie heiraten und ihre Fleischerei haben, höchstwahrscheinlich in Plaisance, in einer dichtbevölkerten Gegend von Paris. Sie hätten es mit dem Heiraten nicht so eilig, denn der Speck sei in diesem Jahr nicht viel wert. Er erzählte auch noch, daß sie sich auf einem Fest in SaintQuen hatten zusammen fotografieren lassen. Dann kam er mit in die Mansarde hinein, weil er sich das Bild wieder ansehen wollte, das sie geglaubt hatte, nicht vom Kamin wegnehmen zu dürfen, damit Frau Quenus Vetter ein hübsches Stübchen habe. Gedankenverloren stand er einen Augenblick da, bleich im gelben Schein seiner Kerze, betrachtete den noch ganz von der Gegenwart des jungen Mädchens erfüllten Raum, trat an das Bett und fragte Florent, ob er gut darin liege. Sie, Augustine, schlafe jetzt unten. Das sei besser für sie: die Mansarden seien im Winter sehr kalt. Endlich ging er und ließ Florent mit dem Bett und der Fotografie gegenüber allein. Auguste war wie Quenu, nur fahl, Augustine wie Lisa, nur unentwickelt.

Florent, mit den Gehilfen gut Freund, von seinem Bruder verwöhnt und von Lisa hingenommen, langweilte sich schließlich schrecklich. Er hatte Möglichkeiten zum Stundengeben gesucht, ohne welche zu finden. Außerdem vermied er es, in das Viertel zu gehen, wo die Schulen lagen, weil er fürchtete, dort wiedererkannt zu werden. Lisa sagte ihm freundlich, er würde gut tun, sich an Geschäftshäuser zu wenden; er könne die Korrespondenz erledigen und die Bücher führen. Immer wieder kam sie auf diesen Gedanken zurück und erbot sich schließlich, für ihn eine Stellung ausfindig zu machen. Es brachte sie allmählich auf, daß er ihr unaufhörlich müßig im Wege stand und nicht wußte, was er tun sollte. Zuerst war es nur ein begründeter Widerwille gegen Menschen, die die Hände in den Schoß legen und nur essen, wobei sie noch nicht daran dachte, es ihm vorzuwerfen, daß er bei ihr aß.

»Ich, ich könnte nicht so leben und den ganzen Tag dahinträumen«, meinte sie zu ihm. »Sie können ja am Abend keinen Hunger haben ... Wissen Sie, Sie müssen sich müde machen.«

Auch Gavard suchte eine Stelle für Florent. Aber er suchte auf eine ungewöhnliche und heimliche Art. Er hätte gern irgendeine aufregende Beschäftigung ausfindig gemacht oder wenigstens eine mit bitterer Ironie, die zu einem »Proskribierten« paßte. Gavard war ein Mann der Opposition. Er hatte soeben die Fünfzig überschritten und rühmte sich, bereits vier Regierungen seine Meinung gesagt zu haben. Über Karl X.19, die Priester, den Adel, dieses ganze Gesindel, das er zur Tür hinausgeworfen hatte, zuckte er nur die Achseln; LouisPhilippe20 mit seinen Bourgeois war ein Schwachkopf, und er erzählte die Geschichte von den wollenen Strümpfen, in denen der Bürgerkönig seine Zweisousstücke versteckte. Was die Republik von 1848 anbetraf, so sei sie eine Farce. Die Arbeiter hätten ihn enttäuscht! Aber er gab nicht mehr zu, daß er dem 2. Dezember21 Beifall geklatscht hatte, denn jetzt sah er in Napoleon III.22 seinen persönlichen Feind, einen Hundsfott, der sich mit Morny23 und den anderen einschloß, um große »Saufgelage« zu veranstalten. Über dieses Kapitel war er unerschöpflich; er dämpfte ein wenig die Stimme und versicherte, daß Abend für Abend in geschlossenen Kutschen Weiber in die Tuilerien24 gebracht würden und daß er, so wahr, wie er hier spreche, in einer Nacht vom Place du Carrousel aus den Lärm der Orgie gehört habe. Für Gavard war es geradezu eine Religion, der Regierung so unangenehm wie möglich zu sein. Er spielte ihr abscheuliche Streiche, über die er manchmal monatelang heimlich lachte. Zunächst stimmte er für den Kandidaten, der im Corps législatif25 »die Minister ärgern« sollte. Wenn er ferner die Staatskasse bestehlen, die Polizei aus der Fassung bringen, irgendeinen Krawall herbeiführen konnte, legte er es darauf an, die Begebenheit möglichst aufrührerisch zu gestalten. Er schwindelte außerdem, spielte sich als gefährlichen Mann auf, redete, als hätte die »Sippschaft in den Tuilerien« von ihm gewußt und vor ihm gezittert, meinte, »beim nächsten Putsch« müsse die eine Hälfte dieser Schurken geköpft und die andere deportiert werden. Seine ganze geschwätzige und gewalttätige Politik nährte sich von Prahlereien, von Räubergeschichten, von jenem spöttischen Bedürfnis nach Radau und üblen Späßen, das den Pariser Krämer dazu treibt, an einem Barrikadentag seine Fensterläden zu öffnen, um die Toten zu sehen. Daher witterte der Geflügelhändler, als Florent von Cayenne zurückkam, einen entsetzlichen Streich und suchte, auf welche besonders geistvolle Weise er sich über den Kaiser, das Ministerium und die Staatsbeamten bis zum letzten Polizisten herab lustig machen könne.

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